Donnerstag, 2. November 2017, 14.08 Uhr. Im österreichischen Graz läuft gerade der erste Versuch Postpakete fahrerlos und völlig autonom zuzustellen. Knapp 50 Jahre ist es her seit der erste Mensch den Mond betrat. Etwas weniger als 100 Jahre, da entdeckte der Psychoanalytiker Sigmund Freud den „Trieb“ im Menschen. Vor rund 300 Jahren verbohrte man sich in die Idee, dass Männlein und Weiblein „von Natur aus“ verschieden sind. Und ich, ich sitze hier und frage mich, warum ich diesen Text hier überhaupt schreiben muss. Im Jahr 2017. Jahrhunderte nachdem wir beschlossen hatten, gemeinsam den Pfad der „Aufklärung“ zu bestreiten. Nach gefühlten 27 Wellen an Feminismus. Nach Bill Cosby und Dominique Strauss-Kahn. Nach dem #aufschrei um Rainer Brüderle. Und vor allem trotz Gleichbehandlungskommission, Frauenreferat und unzähligen gesetzlichen Regelungen zur Gleichstellung der Frau und zur Bewahrung ihrer körperlichen Integrität.
Nun also Harvey Weinstein. Nicht, dass ich per se die Lust am Texten verloren hätte – ganz im Gegenteil. Aber getreu den Autoren und Autorinnen eines profil-Dossiers frage ich mich: „Warum benehmen sich (offensichtlich) viele Männer noch immer so, als ob sie erst kürzlich von der Liane geplumpst wären?“ Und vor allem: Warum braucht es im Jahr 2017 einen Beitrag, der darlegt, dass auch Frauen Menschen sind, die selbst entscheiden können und dürfen, wann sie wie und wo angefasst werden wollen?
Pubertät, Promille und amerikanische Präsidenten
Also Weinstein. Karten auf den Tisch: Der Fall des amerikanischen Filmproduzenten lies – mediales Getöse hin oder her – keinen Bewohner dieser Erde aus allen Wolken fallen. Der Weinstein-Skandal (mittlerweile übrigens mit eigener Wikipedia-Seite) und sämtliche Fälle, die im Zuge dessen bekannt wurden (und wohl noch bekannt werden), weist gewisse Ähnlichkeiten zu den Enthüllungen der Panama Papers bzw. (ganz aktuell) der Paradise Papers auf. Irgendwie hat jeder immer irgendwie geahnt, dass da im großen Stil fleißig Mist gebaut wird – nur das Ausmaß und die Details der Misere waren keinem bekannt.
So auch die Causa Weinstein: Zum einen, ja, irgendwie etwas, was einem tief erschüttern sollte – man möge denken „Aber, 2017…!?“. Andererseits aber etwas, was einem nicht im geringsten verwundert. Dass das Frauenbild in Hollywood nun plötzlich auch „backstage“ keine Vorreiterrolle einnimmt, nun gut. 2013 holte man bei den Oscar-Nominierungen zur besten Nebendarstellerin die Kandidatinnen mit folgenden Worten auf die Bühne: „Herzlichen Glückwunsch. Diese fünf Damen müssen nun nicht mehr so tun, als ob sie Harvey Weinstein attraktiv finden“.
Peruanische Models beklagen Gewalt gegenüber Frauen (zum dazugehörigen Text):
Einerseits ist die Frau im Jahr 2017 rechtlich und formal gleichgestellt, anderseits erinnern informelle Praktiken im Bezug auf die Gleichberechtigung ans dunkelste Mittelalter (nicht zuletzt in Sachen Einkommen). Symptomatisch ist es nicht nur „der ungebildete, testosterongesteuerte, 17-jährige Pöbel“, der dem Cocktail aus Pubertät und Promille nicht ganz her wird und in einem Anflug von „Männlichkeit“ zu später Dorfdisko-Stunde mit der „unkontrollierte-Wurschtfinger-tappen-im-Dunkeln-Taktik“ auf sexuelle Erkundungstour geht. Nein! Der Fall Weinstein offenbart, wie tief verankert das Problem der sexuellen Dominanz gegenüber Frauen in unserer Gesellschaft ist. Zahlreiche EU-Abgeordnete beklagten dutzende sexuelle Belästigungen, jeder weiblichen Abgeordneten in Europas höchstem Haus „fallen ein, zwei Namen ein“. Auch der britische Verteidigungsminister Michael Fallon musste unlängst seinen Sessel räumen. Und ein Blick über den Atlantik zeigt, dass man mit der Lebensphilosophie, als Berühmtheit brauche man das weibliche Objekt nur ordentlich bei der „Pussy“ zu „grabben“, auch Präsident werden kann…
Sexuelle Belästigung: Kein Randphänomen
Unter dem Hashtag #MeToo posten seit den Enthüllungen um Harvey Weinstein tausende Betroffene ihre Erfahrungen. Die Spannweite reicht von blöden Anmachsprüchen bis hin zur Vergewaltigung. Laut einer EU-Studie erlebte jede Dritte EU-Bürgerin seit ihrem 15. Lebensjahr eine Form sexueller Belästigung, psychische Gewalt in Beziehungen widerfuhren 38 Prozent der insgesamt 42.000 Befragten (die gesamte Studie lesen Sie hier). Die Dunkelziffer dürfte dabei deutlich höher liegen – nur 15 Prozent der Frauen in Deutschland melden derartige Vorfälle bei der Polizei.
Statistisch gesehen kennt also jeder mehrere Personen, welche Opfer sexueller Belästigung wurden. Und – das liegt in der Logik der Sache – kennt auch jeder mehrere Personen, die selbst sexuell übergriffig wurden. Will sagen: Diverse Formen sexueller Belästigung bis hin zur Vergewaltigung sind in unserer Gesellschaft kein Randphänomen – auch, wenn wir das oftmals nicht wahrhaben wollen.
Nebenbei gesagt: Interessant ist, dass eben jene Akteure, die nach der Kölner Silvesternacht 2016 ganz schnell zum vordersten Beschützer der deutschen Frau (vor dem Mann mit dem südländischen Aussehen) mutierten, bis dato erstaunlich wenig zum Thema von sich gegeben haben. Den beherzten Griff aufs weibliche Hinterteil misst man – je nach Hautfarbe und Herkunft des Entsenders – anscheinend mit zweierlei Maßen…
Jungs sind halt nun mal nicht so
Der Witz an unseren „liberalen“ Gesellschaften ist doch, dass sie bei genauerem Hinsehen so liberal nicht sind. Frauen in und an Universitäten, Wahlurnen, Führungspositionen, kulturellen und gesellschaftlichen Institutionen – nicht zuletzt an der Spitze der deutschen Bundesrepublik. Das alles hätt’s vor 100 Jahren nicht gegeben. Heutzutage geht’s mit dem Chef nach Feierabend noch in die Kneipe, ein „Hey, Schätzchen“ hier, ein Klapps aufs Popöchen da. Kann so schlimm ja nicht sein, war ja nicht so gemeint. Jungs sind halt so…
Erstens: „Jungs sind halt so“ zieht nur dann, wenn ein Fünfjähriger kopfüber in den Matsch plumpst und laut anfängt zu lachen. Zweitens: Jungs sind nicht so. Aber: Wenn dem weiblichen Nachwuchs von Kindesbeinen an erzählt wird, sie hätten vor allem hübsch auszusehen und sollten unter tunlichster Vermeidung von Krach aufpassen nicht anzuecken und im Zweifelsfall lieber den Mund halten, während dem männlichen Pendant eingebläut wird, er habe sich durch – und sei es noch so sinnlos – Stärke und Tapferkeit zu profilieren, ist das Resultat eben, dass es quer durch sämtliche gesellschaftlichen Schichten als legitim erachtet wird, wenn die Jungs wieder mal etwas ‚unartig‘ sind. Die Verteilung der Aktiv- und Passivrollen wird schon im Kindesalter festgeschrieben. „Hübsch kleiden“, „elegant bewegen“ und am Ende „heiß aussehen“, graviert den Objektstatus schon während der Pubertät ins adoleszente Verhaltensmuster.
Ich darf, weil ich Mann – und weil du Frau
„Hormonrausch“ oder „Blindheit, weil Geilheit“ mag zwar als Entschuldigung hoch im Kurs stehen, ist aber schlichtweg Schwachsinn und dient primär dazu, dass das Lustsubjekt noch mit halbwegs gutem Gewissen in den Spiegel blicken kann. Es ist medizinisch umstritten, ob das im Diagnosekatalog der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verzeichnete „gesteigerte sexuelle Verlangen“ als Suchterkrankung oder als Zwangsstörung gilt – fest steht jedoch, dass es so etwas wie eine „Unzurechnungsfähigkeit“ oder ein „Ausgeliefertsein“ in diesem Fall nicht gibt. Freuds Triebtheorie wurde schon lange auf dem wissenschaftlichen Müllhaufen entsorgt (waren für den Psychoanalytiker Frauen ohnehin Zeit seines Lebens ein „dunkler Kontinent“). Es gibt keine Entschuldigung. Weder „Ich war nicht bei mir selbst“ noch „Ich wusste nicht, was ich in diesem Moment getan hab“ kann als Rechtfertigungsgrund gelten.
Man mag zwar Kritik daran üben, dass #MeToo vom obszönen Anmachspruch bis zur Vergewaltigung alles über einen Kamm schert. Der Vorwurf der „Verwässerung“ mag da also durchaus gerechtfertigt sein. Trotzdem vereint der Hashtag in gewissem Sinne gesellschaftlich legitimierte Verhaltensweisen, die entlang derselben (im gleichen Maße legitimierten) Machtkonstellation verlaufen: Ich darf, weil ich Mann – und weil du Frau.
Ich darf mal eben „schickes Dekolleté, Süße“ sagen. Ich darf mal eben die Hand über deinen Oberschenkel streifen lassen. Ich darf mal eben mein Verlangen nach dem Geschlechtsakt artikulieren, auch wenn dir das vielleicht nicht so genehm ist. Ich darf, weil ich Mann und weil du Frau. Allein die Sprachregelung „Mädls aufreißen“ und „sich von Jungs aufreißen lassen“ ist symptomatisch. Wer als männlicher Jüngling auf ein und derselben Party mit drei Mädls rummacht, wird schnell zum „Hengst“; wer als junge Frau dasselbe Programm durchzieht, wird zur „Dorfmatratze“.
Unsichtbare Machtstrukturen
Erst letzten Sommer wurde der Tatbestand des „Grapschens“ ins Gesetzbuch mitaufgenommen. Was es aber neben juristischen Sanktionen braucht, sind gesellschaftliche Sanktionen – im Beruf und anderswo! Und besonders in Zeiten, die von „liberalen“ Arbeitsverhältnissen mit kaum ausfindig zu machenden Hierarchien geprägt ist, ist diese Aufgabe keine leichte. In Zeiten, in denen Frauen die Ausübung eines Berufes schlichtweg nicht gestattet war, war so etwas wie Unterdrückung leicht zu beanstanden. Unsere derzeitige Praxis ist jedoch von Unterdrückungsmechanismen geprägt, die auf den ersten Blick nur schwer erkennbar sind.
Der Chef von heute hat zwar immer noch dasselbe Maß an Autorität, doch seitdem das „Du“ im Berufsalltag und das Bier nach Feierabend quasi zum Standardrepertoire gelungener Unternehmenskultur gehören, ist diese Hierarchisierung nicht mehr so leicht ausfindig zu machen. Und gegen eine Autorität, die nicht sichtbar ist, lässt es sich nun mal schwer ankämpfen. (Nicht zuletzt deswegen nutzen feministische Bewegungen wie „Pussy Riot“ oder die – ausschließlich weiblich besetzte – Burschenschaft „Hysteria“ das Werkzeug der Parodie um autoritäre Verhältnisse aufzuzeigen und anzuprangern.)
„Ja, was darf Mann denn überhaupt noch?“
Wer will schon groß „Tamtam“ machen, wenn der Boss einen „Schätzchen“ nennt – noch dazu während der Probezeit? Wer will schon eine auf „Linke Emanze“ machen, nur weil die Hand des Kollegen vielleicht ein paar Sekündchen zulange an der Hüfte verweilte? Und wer weiß: Vielleicht war das „nette Frisur“ wirklich einfach nur nett gemeint? Dass die Grenzen zwischen Kompliment und sexueller Belästigung nicht immer leicht ausfindig zu machen sind, stellt niemand in Abrede. Aber wer in Anschluss an #MeToo fragt: „Ja, was darf Mann denn überhaupt noch?„, der verklärt die Schuldfrage. Es ist nicht an der Frau zu erklären, wo die Demarkationslinie zwischen Kompliment und sexueller Belästigung liegt. Wer sich auf dieses Spielchen einlässt, vertauscht die Rolle des Opfers mit jener des Täters. Es ist Aufgabe des Mannes zu erkennen, wo gewisse rote Linien zu verorten sind. (Kleiner Tipp: Im Zweifelsfall ‚Nein!‘ Wem auch das zu kompliziert ist, dem sei diese Liste ans Herz gelegt: Men, you want to treat women better? Here’s a list to start with). Als Leitfaden gilt die Oscar Wilde’sche Regel: „Komplimente sind wie Parfüm. Sie dürfen duften, aber nie aufdringlich werden.“
Würde die Frage „Ja, was darf Mann denn überhaupt noch?“ wirklich eine gewisse Relevanz besitzen, müsste dies per Definition auch im umgekehrten Fall gelten können. #MeToo beklagt aber weder ausbleibende Komplimente Richtung Frau, noch beklagt es sexuelle Übergriffe Richtung Mann. Es prangert an, dass Männer ihre gesellschaftliche Vormachtstellung schamlos ausnutzen – ohne Rücksicht auf Verluste. #MeToo stellt sich gegen eine androzentristische Logik, die den eigenen Machtanspruch über alles andere stellt und deren oberstes Credo zu lauten scheint: Komme was wolle, aber ich komme.
„Fuck You!“ ist Solidarität in ihrer schönsten Form
Nun also #MeToo. Als Reaktion auf dutzende Fälle sexueller Belästigung, sexueller Nötigung und Vergewaltigung. Ein Hashtag als Zeichen globaler Solidarität unter Frauen in einer androzentristischen, männerdominierten Welt, in welcher die Verletzung der sexuellen Integrität immer noch auf der gesellschaftlichen Ebene eines Böse-Buben-Streiches rangiert. #MeToo, ein Hashtag – reicht das?
Mit Sicherheit nicht. So wenig wie Twitter eine Demokratisierung der arabischen Welt herbeiführte, wird diese Raute mit fünf Buchstaben ein grundlegendes gesellschaftliches Umdenken hinsichtlich der Stellung von Mann und Frau herbeiführen. Trotzdem kann #MeToo „mehr als nur ein Hashtag“ werden, kann das Bewusstsein schärfen, Aufmerksamkeit erzeugen, Solidarität fördern. Und, in den Worten der Autorin Sabine Kray, „wenn von heute auf morgen jede von uns den Mut zu einem deutlichen ‚Nein!‘ oder gar einem ‚Fuck You!‘ aufbringen könnte, wäre das Solidarität in ihrer schönsten Form.“
Kommentar: Johannes Greß
- SZ-Redakteurin Hannah Beitzer: Sexismus ist mehr als sexuelle Gewalt
Es geht auch ums Prinzip: schön, dass ein Mann über dieses Thema schreibt, schön, dass er sich empört. Nicht alle Männer verstehen unter sexueller Aktivität das übergriffige Verhalten gegenüber Frauen! Männer, lasst uns zusammenhalten! Lasst uns der Welt mitteilen, dass uns das Verhalten unserer Geschlechtsgenossen empört und dass wir dieses Verhalten genauso verurteilen, wie es die betroffenen Frauen tun!