Minga. Es gibt im Leben kaum was Schöneres, als den Moment, in dem sich ein Klischee bestätigt. Das macht die Welt so wunderbar übersichtlich, ermöglicht Durchblick in einem ansonsten so komplexen Diesseits. Kognitive Anker in turbulenten Zeiten. Zum Beispiel, wenn Österreicher beim Skifahren wieder mal die besten sind. Sich ein Veganer als Veganer entpuppt, weil er dir sagt, dass er Veganer ist. Der traditionsbewusste Onkel mit dem Bierbäuchlein einen sexistischen Witz reißt, weil man das ja wohl noch sagen darf. Auch dem, der die Reaktionen auf die Absage der diesjährigen Wiesn verfolgte, mag die Welt nun wieder etwas übersichtlicher erscheinen.
Am Dienstag verkünden Bayerns Ministerpräsident Markus Söder und Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) schweren Herzens die Entscheidung, die Sauferei des Jahres zu Gunsten der Allgemeinheit abzublasen. (Zitat Söder: „Mit Corona zu leben, heißt vorsichtig zu leben, bis es Impfstoff oder Medikamente gibt.“) Durch die Klischee-Brille betrachtet, stellt man sich das in etwa so vor: Bayerische Flaggen auf Halbmast, Schweigeminuten in Brauereien und Stammtischen im gesamten Freistaat, Bierkrüge mit Trauerflor.
Die AfD und das bereits Verdaute
In der Realität sah das dann so aus: Es dauert keine Stunde, der Bezirksvorsitzende und selbsternannte Medizinmann der AfD Niederbayern wirft Söder die Zerstörung der bayerischen Kultur vor – „alles nur, damit er Kanzlerkandidat der Union wird“.
Unser Möchtegern #Kanzler @Markus_Soeder zerstört die bayerische #Kultur, alles nur damit er Kanzlerkandidat der #Union wird! https://t.co/d1Sn3jnUC1
— Stephan Protschka MdB (@AfDProtschka) April 21, 2020
Das wirft einerseits Fragen auf: Wieso – um Himmels willen – sollte jemand, der Kanzler werden will, vulgo im Volk beliebt sein möchte, ausgerechnet das Oktoberfest verbieten, um ans Ziel zu gelangen? Anderseits bringt es auch etwas Licht ins Braune: Wenn die Existenz der eigenen Kultur an ein paar Millionen Suchtkranken hängt, die sich einmal im Jahr kollektiv in den Hosenlatz kotzen – dann macht das Gefasel vom vermeintlichen Untergang der deutschen Kultur schon wieder deutlich mehr Sinn. Die Existenzberechtigung der AfD korreliert demnach auf eigenartige Weise mit dem unfreiwilligen Hervorbringen von bereits Verdautem.
Was wir jetzt (besser nicht) diskutieren sollten
Zur selben Zeit ist die Fraktionsvorsitzende der Münchner Grünen in Gedanken bereits im Jahr 2021. Ihr Vorschlag: Um den wirtschaftlichen Ausfall zu kompensieren, soll das Oktoberfest im kommenden Jahr verlängert werden. „Das sollten wir diskutieren“, findet die Grünen-Stadträtin. Jetzt. Eine Stunde nachdem beschlossen wurde, dass die Wiesn 2020 nicht stattfinden wird. Die Grünen sind als Umweltpartei ja gewissermaßen durch die Zukunft legitimiert. Man solle sie in der Gegenwart wählen, damit die Zukunft nicht ganz so arg wird. So auch in diesem Fall: Weitblick statt Rückblick. Während die AfD noch um die wiedergekäuten Essensreste des Jahres 2020 trauert, sorgen sich die Grünen bereits um die Weiterverwertung im Jahr 2021 – erneuerbare Energien und so.
Diese Menschen dürfen wir jetzt nicht im Regen stehen lassen. Das Oktoberfest im kommenden Jahr zu verlängern, um die Absage heuer ein wenig zu kompensieren, halte ich für eine gute Idee. Das sollten wir diskutieren.
— Katrin Habenschaden (@KHabenschaden) April 21, 2020
Den vollen Durchblick genießt jedoch Peter Bausch, Vorsitzender der Münchener Schaustellergesellschaft. In einem Interview mit ZEIT Online reklamiert Bausch über den Umweg der Wohlfahrtsrhetorik die Systemrelevanz der Wiesn, leicht schwülstig: Angesichts der deprimierenden Lage „wäre es doch schön gewesen, im Frühherbst über den Festplatz zu flanieren und sich eine Tüte Mandeln zu kaufen, ein bisschen was zu erleben und wieder nach Hause zu laufen.“ So ein Volksfest könne in so schweren Zeiten gar als „Antidepressivum“ wirken – und sei daher „auch ein Stück weit systemrelevant“.
Ein Preiß, wer da an Profitgier denkt!
Richtig. Die Wiesn ist quasi nichts anderes als eine weltweit geschätzte, soziale Betreuungseinrichtung, die jährlich Millionen Menschen aufsuchen, um zur Steigerung seelischen Wohlbefindens mit Mandeltüten in den Händen durch Bierdunst zu flanieren. Ja, so sind sie die lieben Münchnerinnen und Münchner: stellen einmal im Jahr ihre komplette Theresienwiese zur Verfügung, karren tonnenweiße Mandeln durch die Stadt, um die größte Sozialeinrichtung der Welt zu ermöglichen. Wenn das keine Systemrelevanz ist – was dann? Ein Preiß, wer da an Profitgier denkt!
Die Welt mag aus den Fugen sein, gewiss. Aber solange in Bayern Bierzelt und Kultur immer noch synchron untergehen, kann’s so schlimm nicht sein. Es lebe der Durchblick!
Glosse: Johannes Greß