Sonntag, 05. April: Seit drei Wochen schreiben wir nun unser Corona-Tagebuch. Zunächst wurden Kindergärten und Schulen geschlossen, dann viele Geschäfte. Schließlich folgten vor zwei Wochen die Ausgangsbeschränkungen. Bei Facebook versahen viele ihr Profilbild mit dem Slogan „Bleib dahoam“. Frei nach dem Motto: „Mia hoid ma zam“ – wir alle bleiben daheim, um Alte und Kranke vor dem tückischen Virus zu schützen. Und jetzt?
Plötzlich habe ich das Gefühl, dass erschreckend viele Menschen bereits jetzt den „Exit“ haben möchten, alle Maßnahmen in Zweifel ziehen. Eine Art „Man-wird-ja-wohl-noch-sagen-dürfen“-Stimmung scheint aufzukeimen. Natürlich darf jeder seine Meinung haben. Natürlich ist es wichtig, Maßnahmen auch kritisch zu betrachten. Und natürlich rede ich mich vergleichsweise leicht: große Wohnung, großer Garten, große Familie… Allein in einer kleinen Stadtwohnung sehnt man das Ende der Krise sicherlich dringender herbei…
Traue keiner Statistik, die du nicht selbst interpretiert hast?
Ich halte es jedoch für gefährlich, den Wust an Zahlen und Informationen, der momentan auf uns einprasselt, ständig selbst zu interpretieren und sich „sein eigenes Bild“ zu machen. In der aktuellen Situation vertraue ich auf Experten und darauf, dass sie sich ihre Entscheidungen nicht leicht machen. Keiner kann die Zukunft voraussagen und jetzt bereits sicher beurteilen, ob alles angemessen ist, was derzeit entschieden wird. Doch alle Maßnahmen anzuzweifeln und Politikern sowie renommierten Wissenschaftlern zu unterstellen, sie handelten aus reiner Profilierung und Machtstreben, geht zu weit.
Ich gebe zu: Auch ich checke regelmäßig die Zahlen. Etwas hinsichtlich der Frage: Wie entwickeln sich die Corona-Infektionen weltweit? Was ich allerdings nicht mache: die Zahlen selbst einzuordnen und zu interpretieren. Ich bin kein Virologe, ich bin kein Statistiker. Und ich weiß: Die nackten Zahlen lassen die Pandemie so weit weg, so unwirklich erscheinen. 65.000 Tote weltweit? Die Grippe ist doch ähnlich schlimm… Durchschnittsalter der Todesopfer in Deutschland 80 Jahre? Hätten diese Menschen nicht sowieso nur noch eine „überschaubare Lebenserwartung“ gehabt, wie etwa der Merkur gestern schreibt?
Eine Zahl, die mir nicht mehr aus dem Kopf geht…
Eine Zahl, die mir nicht mehr aus dem Kopf gehen will: In Bergamo gab es vor Kurzem durch das Coronavirus 300 Tote in einer Woche. Und dabei ist völlig unerheblich, ob die Leute in diesem Zeitraum an Covid-19 oder mit Covid-19 gestorben sind. Zunächst schockiert diese nackte Zahl nicht unbedingt.
Deshalb ein kleiner Vergleich: Mit 120.000 Einwohnern ist Bergamo kleiner als Regensburg (160.000 Einwohner). In Regensburg starben 2015 durchschnittlich 28 Personen pro Woche.
Jeder kann sich also vorstellen, was es bedeutet, wenn das Coronavirus in Regensburg so heftig einschlagen würde wie in Bergamo – und es mehr als das Zehnfache an Todesfällen gäbe: Nicht nur die Krankenhäuser wären überlastet, da in kürzester Zeit viel zu viele Menschen beatmet werden müssten. Es käme auch hier zu Szenarien wie in New York oder Madrid, wo Leichen in einer Eishalle gelagert werden mussten.
„Bleib dahoam“ bleibt wichtig!
Ich hoffe sehr, dass mich in den nächsten Tagen und Wochen keine Meldung aus Regensburg, keine Nachricht aus München oder gar Passau erreicht, dass es dort ebenfalls mehr als zehnmal so viele Beerdigungen gibt als sonst.
Deshalb halte ich es jetzt für viel wichtiger als vor zwei Wochen, dass wir zusammenhalten. Dass wir uns gegenseitig motivieren. Dass wir weiterhin daheim bleiben. Dass wir wirtschaftliche Sorgen und Nöte der Menschen ernst nehmen, sie auf jegliche Weise unterstützen. Dass wir das Virus jetzt nicht auf die leichte Schulter nehmen, weil die große Welle noch nicht vor unserer Haustüre angekommen ist. Ich hoffe, die Welle kommt nicht.
Sabine Simon