„Ich bin ein Feind des Kapitalismus. Ich bekämpfe ihn.“ Man kann viel über Jean Ziegler sagen, doch warme Worte und verkitschte Ausdrucksformen sind nun wirklich nicht das Seine. Da macht er auch in seinem neuesten Buch „Was ist so schlimm am Kapitalismus? Antworten auf die Fragen meiner Enkelin“ keine Ausnahme. Der Kapitalismus ist eine „kannibalische Weltordnung“ – und in dieser will er auch beschrieben werden. In ungeschönter Brutalität.
Um seiner Enkeltochter Zorah die Entartungen dieser Wirtschaftsweise näher zu bringen, holt Ziegler auf 127 Seiten zum anti-kapitalistischen Rundumschlag aus – und so ziemlich alles aus der Mottenkiste, was sich der unerbittlichen „Logik des Kapitals“ entgegenstellen lässt: Karl Marx, Immanuel Kant, Pierre Bourdieu, Pablo Neruda, den Papst – und ein paar Nylonstrümpfe aus der Nachkriegszeit. Leider zielt er dabei auch des Öfteren am Kern der Sache vorbei…
Der 85-jährige ehemalige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung changiert im Laufe des Buches beständig zwischen vermeintlich banalen Fragen des Alltags und abstrakten Zusammenhängen; zwischen der individuellen und der systemischen Ebene, zwischen dem Kleinem im Großen und dem Großen im Kleinen. Der Kapitalismus ist seiner Ansicht nach nichts, das uns Gott persönlich auf die Erde geschmissen habe, sondern etwas historisch Gewordenes. Eine Produktionsweise, die sich bereits zur Zeit der Sklavenhaltergesellschaft im 15. Jahrhundert abzeichnete, sich im Feudalismus herauszubilden begann und mit dem Anfang der Industrialisierung sukzessive alles zu verschlingen drohte, was sich ihr in den Weg stellte.
Zwischen dem vermeintlich Banalen und dem Abstrakten
„Jean“, wie Zorah ihn durchwegs nennt, geleitet seine Enkeltochter anhand dem Kapitalismus innewohnender Widersprüche durch die Entstehungsgeschichte unserer Wirtschaftsweise: Die Kehrseite der wohlständigen Medaille sind Leid und Zerstörung, Hunger und Epidemien. Die kapitalistische Produktionsweise ist angewiesen auf ein Hier, wo der Wohlstand keine Grenzen kennt – und ein Dort, wo die grenzenlose Zerstörung wütet.
Wenn „Jean“ dabei von der unglaublichen Beschleunigungs- und Innovationskraft mittels Technologie und Mechanisierung spricht, so tut er das zunächst mit würdigender, anerkennender Begeisterung. Und im nächsten Atemzug mit Ekel. Der Kapitalismus, ja, hat unfassbaren Wohlstand geschaffen – doch ebenso unfassbares, unendliches Leid, Zerstörung. Und Ziegler wird nicht müde, die Perversitäten dieser Dynamiken herauszustreichen. Der 85-Jährige, der wohl wie kaum ein anderer weiß, welche Abscheulichkeiten unsere heutige Wirtschafts- und Lebensweise hier und andernorts mit sich bringt, gibt seiner Enkelin dennoch zu verstehen: „Hassen bringt nichts, Zorah. Wir müssen verstehen“.
Es gilt zu verstehen, welcher Zusammenhang zwischen kapitalistischer Agrarproduktion und dem Bienensterben besteht, zwischen den „Söldnern des Marketings“ und der „Schneiderin in Bangladesch“. Es gilt zu verstehen, wieso ein Kapitalismus nicht umhin kommt, beständig zu wachsen – und deshalb nicht umhin kommt, immer mehr zu produzieren, zum Konsum anzubieten. Und dabei notwendigerweise an ökologische, soziale und politische Grenzen stoßen muss.
Eine brachiale Sprache für eine brachiale Realität
Worauf es Ziegler ankommt, ist seinen Lesern zu vermitteln, dass sich kapitalistische Entartungen nicht auf „Neid“ oder „Gier“ von ein paar „koksenden Tradern“ zurückführen lässt: Ausbeutung und Zerstörung sind dem Kapitalismus inhärent. Und noch viel wichtiger: Seine Herrschaft ist eine Abstrakte – der auch die vermeintlich Herrschenden unterworfen sind. Ein bisschen beschönigen hier, etwas Kosmetik da reicht für Ziegler nicht aus, kann nicht zielführend sein – schon rein historisch betrachtet. Der Kapitalismus als Ganzes muss zu Fall gebracht werden, notfalls mit Gewalt. Denn der Kapitalismus lasse sich nicht reformieren. „Man muss ihn zerstören. Vollkommen, radikal, damit sich eine neue soziale und wirtschaftliche Weltordnung errichten lässt.“
Die brachiale Sprache, die sich durchs gesamte Buch – und wohl auch durch Zieglers Schaffen per se – hindurchzieht, mag auf manchen Leser befremdlich wirken. Und das nicht ohne Grund, denn Ziegler weiß um die „täglichen Massaker“, um die „skandalöse und extrem demütigende Realität“. Und dem entspricht auch sein Ausdruck. 85 Milliardäre, so erklärt er seiner Enkeltochter, besaßen im Jahr 2017 „so viele Vermögenswerte wie 3,5 Milliarden Personen, das heißt der ärmere Teil der Menschheit“. Derartige Ungleichgewichte lassen sich nicht als Schönheitsfehler in einem ansonsten reibungslos laufenden System abtun: „Diese Kosmokraten, diese Herrscher der Welt, verfügen über eine finanzielle, politische und ideologische Macht, über die noch kein Kaiser, kein Papst oder König in der Geschichte jemals gebot“. Eben diesen Kosmokraten gilt es „die Arme zu brechen, ihre Macht zu zerschlagen“.
Unterkomplexes und Altbekanntes
Ziegler schafft es durch zahllose Beispiele die sonst so komplex erscheinenden ökonomischen und gesellschaftlichen Wirkungsweisen des Kapitalismus auf eine Art zu erklären, die auch seiner Enkeltochter zugänglich ist – und somit gewiss auch einer Vielzahl von Lesern. Doch so anschaulich er auf den 127 Seiten auch argumentieren mag, an diversen Stellen schießt er übers Ziel hinaus. Das wird besonders bei Zieglers eher eigentümlichen Interpretation der historischen Rolle der Französischen Revolution von 1789 deutlich, in der er die Jakobiner der „Heiligsprechung des Eigentums“ bezichtigt. Auch die schlichte Zweiteilung in den kapitalistischen „Norden“ und den abgehängten, ausgebeuteten „Süden“ geht manchmal an der Komplexität der Realität vorbei. Für Ziegler-Kenner bietet das Buch zudem teilweise wenig Neues, noch weniger Überraschendes. Neben der inhaltlichen Ausrichtung hat sich auch an so manchen Textzeilen und Zitaten des 85-Jährigen im Laufe der Jahre nur wenig verändert.
Zorah, die sich im Laufe des Gesprächs an die Ausdrucksweise ihres Großvaters annähert, will schließlich wissen, ob abseits all dieser Grausamkeiten auch Grund zur Hoffnung bestehe: „Wie kann es denn Schwächsten gelingen, den Stärksten die Arme zu brechen?“ Ziegler sieht das Potenzial für den radikalen Wandel vor allem in der globalen Zivilgesellschaft schlummern, das „neue historische Subjekt“, welches seiner Ansicht nach bereits am Horizont erscheint.
Doch wie sieht dieses „Subjekt“ aus? Trotz großem Interesse seiner Enkeltochter gleitet er immer wieder ins Philosophistische ab: Er bemüht Karl Marx, Immanuel Kant oder Pierre Bourdieu – und umschifft somit teilweise die tatsächlichen Problemstellungen. Zieglers analytische Schablone, so mag man manchmal den Eindruck bekommen, muss auf die Welt passen – nicht andersrum. „Der Optimismus des Willens“ lautet der Titel von Zieglers 2016 erschienenem Filmporträt, angelehnt an ein Zitat des italienischen Marxisten Antonio Gramsci. Dieser Optimismus braucht Gramsci zufolge jedoch auch den „Pessimismus des Verstandes“ zum Geleit. Diesen zweiten Teil des Zitats vermisst man in Zieglers Analysen oftmals schmerzlich.
Für den Hörsaal wie den Stammtisch
Dass Ziegler nicht den Lösungsweg parat hat, kann nicht der Anspruch an ihn und an sein Buch sein. Dass er sich explizit weigert, einen solchen auch nur vorzuskizzieren, rührt wohl aus seiner tiefen Verankerung im marxistischen Denken und ist – zur Unzufriedenheit seiner Enkeltochter – wohl eines der Stärken seines Buches. Es gilt nicht, eine Utopie, ein vorgefertigtes gesellschaftliches Modell als Gegenentwurf zur heutigen Gesellschaft zu präsentieren. Es gilt, Widersprüche im Bestehenden aufzuzeigen, die „Risse in den Mauern“ ausfindig zu machen, um dann maximale Sprengkraft zu entwickeln.
Sich durchwegs – und stets erhellend – an den kapitalistischen Widersprüchlichkeiten abarbeitend, führt der Schweizer Soziologe ins Grundvokabular marxistischer Termini ein und liefert ebenso das Handwerkszeug für die abendliche Stammtischrunde. Er verbindet Grundlegendes mit Hochaktuellem, abstrakte Logiken mit tagespolitischen Debatten – und hat damit auch den „Erfahreneren“ unter den Kapitalismus-Kritikern so manches anzubieten. Angesichts heutiger Entwicklungen habe die Zivilgesellschaft wie auch seine Leserschaft die „Pflicht zur Revolte“. „Seine Hoffnung“ zieht Ziegler aus der Überzeugung des Dichters Pablo Neruda: „Sie können alle Blumen abschneiden, aber nie werden sie den Frühling beherrschen.“
Rezension: Johannes Greß
Jean Ziegler: Was ist so schlimm am Kapitalismus? Antworten auf die Fragen meiner Enkelin. Bertelsmann 2019, 15,50 €, 127 Seiten
Zitat:
„In der kapitalistischen Demokratie verteilt der Staat eine Menge wertvoller Prämien. Wer die grösste politische Macht anhäuft, gewinnt die wertvollsten von ihnen. Als Vergütungen stehen Eigentumsrechte, wohlgesonnene Behörden, Fördermittel, Steuermittel, sowie die kostenlose und preisgünstige Nutzung der Gemeinschaftsgüter zur Verfügung. Der Vorstellung, der Staat befördere das „Allgemeinwohl” ist naiv.“ — Peter Barnes: Kapitalismus 3.0: ein Leitfaden zur Wiederaneignung der Gemeinschaftsgüter; hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung.
hier kürzlich zu lesende Meldungen, die die Politiker und Parteien die in den letzten Jahren und Jahrzehnten regiert haben ohne ihre Propaganda und frisierte Statistikmaske zeigen:
Vermögensschock: Die Deutschen sind die armen Würstchen der EU. Der Welt-Reichtums-Report zeigt, wie arm die meisten Deutschen wirklich sind. Von den Ländern der alten EU liegt nur Portugal hinter Deutschland. In den meisten Ländern besitzen die Bürger mehr als doppelt so viel Vermögen wie hierzulande.
Der Medianwert des geldwerten Vermögens für die Erwachsenen liegt in Deutschland bei 47.000 Dollar. Schon im krisengebeutelten Griechenland sind es mit 55.000 Euro 8000 Euro pro Nase mehr. Dass die unmittelbaren Nachbarn – Holländer (94.000), Dänen (87.000 Dollar), Belgier (168.000 Dollar) – reicher als die Deutschen sind, kann kaum verwundern. Man sieht es bei jedem Besuch. Erstaunlich allerdings, dass Franzosen (120.000) und Italiener (125.000) mehr als doppelt so reich wie die Deutschen sind. Lichtenstein (168.000) und Schweiz (229.000) bilden erwartungsgemäß die Spitze.
Laut einer Meldung (basierend auf einer Berechnung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, eine staatliche Behörde) verzichten 3.100.000 bis 4.900.000 Antragsberechtigte auf Hartz IV und leben so in verdeckter Armut und erscheinen in keiner Statistik mehr.
Hartz IV: Im Vergleich zum österreichischen Sozialsystem ein Witz!
Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland so groß wie vor 100 Jahren
Nur noch 47 Prozent der Beschäftigten mit Tarifvertrag: „Gesellschaftlicher Skandal“
Menschenwürde? Banane vom Jobcenter für Hartz IV Empfänger
Rund zwei Monate nach dem Tod eines Jugendlichen in Speyer, der verhungern musste, weil ihm die Behörden durch Sanktionen sämtliche Sozialleistungen versagt hatten (WCN berichtete), hat die Bundesregierung eingeräumt, die Streichmaßnahmen der örtlichen GfA wären „rechtsfehlerhaft“ gewesen. Konsequenzen, um etwaige zukünftige Todesfälle zu vermeiden, will man aber offenbar nicht daraus ziehen.