Unter dem Titel „Deutschland spricht“ kamen am 23. September 2018 rund 4.000 Menschen paarweise an einen Tisch, um zu diskutieren. Nicht irgendwer mit irgendwem, sondern Menschen mit möglichst konträren politischen Einstellungen. Das Projekt, initiiert von ZEIT, ZEIT Online und zahlreichen weiteren deutschen Medien, soll etwas zur Überwindung der Spaltung der Gesellschaft beitragen, denn: „Nur wenn man miteinander spricht, lernt man zu verstehen.“ Grundsätzlich halte ich das für einen lobenswerten Ansatz. Teilgenommen habe ich dennoch nicht. Aus Faulheit? Aus Ignoranz? Aus Arroganz? Wahrscheinlich aus der simplen Erkenntnis, dass ich meine eigene wohlige (Filter-)Blase ganz kuschelig finde. Und ich diese – besonders an einem Sonntagnachmittag – nur ungern verlasse…

Schriftliche Auseinandersetzungen über politische Themen gab es auch schon vor Facebook – ganz und gar analog. Foto: Da Hog’n
Zuallererst: Ich halte es für richtig und wichtig, dass Menschen mit unterschiedlichen Weltbildern miteinander ins Gespräch kommen. Besonders in Zeiten wie diesen, in denen der gesellschaftliche Konsens von Tag zu Tag ein bisschen mehr auseinander zu driften scheint. Sich selbst mit anderen Meinungen, Ansichten, Weltbildern oder Lebenswirklichkeiten zu konfrontieren, kann sehr erhellend und erfrischend sein.
Aber: Ich muss nicht alles und jeden verstehen. Schon gar keinen „mit möglichst unterschiedlichen Ansichten“. Es gibt Weltbilder, die sind nicht vereinbar – sei’s drum! Das ist der Lebenssaft einer Demokratie.
Facebook und Twitter sind keine digitalen Stammtische
Besonders im Netz trete die hässliche Seite der Menschheit zu Tage. Facebook, Twitter und Co. radikalisieren unsere Gesellschaft, heißt es. Soziale Netzwerke tragen zur Verrohung des gesellschaftlichen Diskurses bei. Echt? Am 4. Februar 2004 ging Facebook online – gut zwei Jahre später Twitter. Die Jahrtausende zuvor lebten wir friedlich und glücklich zusammen. Friede, Freude und globaler Eierkuchen quasi – und plötzlich, Anfang Februar 2004, wurd’s auf einmal hässlich?
Ist es nicht vielmehr so, dass das ganze Gedöns schlichtweg von jetzt auf gleich für jeden „Social“-Media-Nutzer sichtbar wurde? Dass das Gebrülle nur auf höherer, globaler Ebene reproduziert wird? Und viel gravierender: Dass ich plötzlich auch noch damit konfrontiert werde? Dass alle plötzlich ein wenig näher zusammenrücken, obwohl sie so manchen Sitznachbarn vorher schon nicht ausstehen konnten? Und dass das teilweise nur deshalb verbal so dermaßen entartet, weil Menschen (online) aufeinander prallen, die sich im „realen Leben“ bequem aus dem Weg gegangen wären? Weil der Nationalist plötzlich „No Border – No Nation“ liest? Weil der überzeugte Grüne plötzlich von den „Vorzügen der Braunkohle“ hört? Weil ein Waffenliebhaber sich vom Pazifisten belehren lassen muss? Oder weil der Veganer saftige, virtuelle T-Bonesteaks unter die Nase gerieben bekommt?
Facebook und Twitter sind keine digitalen Stammtische. In der eigenen Stammkneipe setz‘ ich mich ja auch nur mit jenen Menschen an einen Tisch, die als „Freunde“ oder „Kolleginnen“ gelten. Kein Bayern-Fan ist Mitglied im Sechzger-Stammtisch oder kreuzt bei dessen Jubiläumsfeier auf. Wenn mir die Meinungen an meinem Tisch nicht passen, setz‘ ich mich an einen anderen, schau‘ mir um ein anderes Wirtshaus – oder bleib‘ gleich zu Hause. Ein Stammtisch oder ein Freundeskreis ist die Filter-Blase in Perfektion – weit weniger durchlässig als (mittlerweile!) in Sozialen Medien.
Wenn du anderer Meinung bist, schön und gut…
Vielleicht ist der Maßstab, der hier angelegt wird, einfach ein falscher. Jeder soll sich mit jedem verstehen. Aber mal ehrlich: Schon in der Schule wollte der Pausenclown nicht neben den Strebern sitzen. Es gibt Leute, mit denen will ich mich gar nicht verstehen – und der Rest sind meine Freunde, zumindest potenziell. Und wenn mir jemand als Kritik entgegen schleudert ich sei „so links“, dann kann ich nur sagen: Ja, bin ich gerne! In meiner Blase findet keiner einen anderen scheiße, weil er irgendwie eine andere Hautfarbe hat, ein Stück Stoff um den Kopf trägt oder manchmal zum Beten in ein Gebäude geht, das architektonisch nicht ganz kirchengleich ist. Und manchmal liebt ein Mann einen Mann oder eine Frau eine Frau – und keiner fragt blöd nach. Und wenn du anderer Meinung bist, schön und gut, dann findest du bestimmt auch irgendwo Gleichgesinnte – aber ich möchte mich nicht mit dir auf einen Kaffee treffen!
Lange Zeit habe ich mir überlegt an dem Projekt „Deutschland spricht“ teilzunehmen. Auch Personen aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis haben daran teilgenommen. Oder mich teils für meine „Keinen-Bock-Einstellung“ kritisiert. Aber wie soll das aussehen, wenn ich mit einem Menschen am Tisch sitze, der mit meiner Einstellung so gar nicht kann – und ich auch nicht mit seiner? Gespräche finde ich immer dann interessant und anregend, wenn es eine gemeinsame Gesprächsbasis gibt, eine Art Grundkonsens, wenn der Blick auf die Welt zumindest einander ähnelt – und dann kann ich mich auch mit Freunden herrlich streiten. Aber nur dann.
Toleranz heißt: „Verzicht auf Einmischung“
Dieses universelle „Jeder kann mit Jedem“ hat es auch vor Sozialen Netzwerken nie gegeben. Mal angenommen, Sie sind Ärztin: Mit wie vielen Landwirten haben Sie zu tun? Oder sie sind Bauarbeiter: Wie viele Anwältinnen finden sich in Ihrem Freundeskreis? Die Zahl wird gegen Null tendieren. Aber deshalb sind Sie kein schlechter oder egozentrischer Mensch. Menschen unterschiedlicher Herkunft, Bildung, Beruf, Einkommen oder Vermögen haben andere Interessen, ein anderes Wertesystem, kleiden sich anders und kommunizieren in einer anderen Sprache. Der Soziologe Pierre Bourdieu will herausgefunden haben, dass sich diese „Feinen Unterschiede“ verschiedener sozialer Schichten sogar in deren Gang sowie deren Art und Weise zu essen widerspiegelt.
Es ist so etwas wie ein ureigenes Bedürfnis eines Menschen sich von anderen abzugrenzen. Denn so entsteht Identität – sie lebt davon. Oder warum gibt es Autos für 100.000 Euro, obwohl ein gebrauchter Fiat Punto denselben Zweck erfüllt? Die gesamte Modebranche lebt von diesem Prinzip. Schon vor Jahrtausenden manifestierten Menschen ihre soziale Stellung mittels Schmuckstücken, Halsketten, aufwendigen Bemalungen und dergleichen. Der Ökonom Tim Jackson bringt es in seinem Buch „Wohlstand ohne Wachstum“ auf den Punkt: „Kein Mensch wird dich in einem überfüllten Raum auf der anderen Seite entdecken und sagen: Wow! Tolle Persönlichkeit!“ Und deshalb trägt man Uhren aus Gold, die um 14:34 Uhr genau so 14:34 Uhr anzeigen, wie eine Billiguhr vom Discounter das tut.
Man kann sich gerne über Meinungsverschiedenheiten austauschen, aber manche Meinungsverschiedenheiten bleiben eben: Verschiedenheiten. Und es muss nicht jede Meinungsverschiedenheit zu einem Konsens eingestampft werden. Vielleicht rührt die große Gereiztheit ja gerade daher, dass jeder der Überzeugung ist, dass auch jeder andere seiner Überzeugung sein muss. Toleranz heißt „Verzicht auf Einmischung“, wie Jens Jessen in seinem „Lob der Blase“ (Zeit No 40/18) schreibt: „Toleranz […] verlangt vor allem und zunächst: wegschauen. Andere anders leben lassen, anders denken, fühlen und sprechen lassen“. Es muss nicht, was nicht muss.
Kommentar: Johannes Gress