Schlendert man dieser Tage durch so manchen Buchladen, beschleicht einen manchmal das Gefühl, man lebe in einer Welt, die weltumspannend von einem kommunistischen System beherrscht wird – unterbrochen nur durch einige mehr oder minder utopistische Versuche kapitalistischen Wirtschaftens. Wohin der Blick auch schweift, das Konterfei des bärtigen Philosophen, der es darauf anlegte, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern auch zu verändern, begleitet einen auf Schritt und Tritt. Die Rede ist – natürlich – von Karl Marx. Am 5. Mai 1818 in Trier geboren, ist Marx heute wieder in aller Munde. Doch nicht nur sein 200. Geburtstag, sondern auch die seit 2007 anhaltende Krise jenes Systems, das Marx so unfassbar brillant wie kein anderer zuvor – und danach – analysiert hatte, verhelfen dem kommunistischen Denker zu neuer Popularität.
Und das ausgerechnet in jenen Zeiten, in denen man sich angeblich eher das Ende der Welt denn das Ende des Kapitalismus vorstellen kann. In der auch noch der letzte Rest Gesellschaft von einer kapitalistischen Quasi-Logik durchdrungen zu werden droht. In der die Wendung „Aber die Wirtschaft…“ schon lange zum universal-akzeptierten Totschlagargument avancierte. In der scheinbar Alles und Jeder den „Gesetzen des Marktes“ gnaden- und bedingungslos Folge zu leisten hat – und selbst die Organisationsstruktur im örtlichen Tennisverein entlang ökonomischer Effizienzkriterien ausgerichtet ist. In der Wirtschaftsuniversitäten längst zur neoliberalen Kaderschmiede verkommen sind, „Marxismus“ nicht mal im dunkelsten Hinterzimmer in den Mund genommen wird. In der mit Facebook und Google mit einer nie dagewesenen Machtkonzentration und Vermögensungleichverteilung selbst Marx‘ dunkelste Dystopien übertroffen wurden.
„Denke Dir Rousseau, Voltaire, Lessing, Heine und Hegel in einer Person vereinigt – so hast Du Dr. Marx“
Doch wer war dieser Marx? Und wieso sollte er uns ausgerechnet heute, 135 Jahre nach seinem Tod, noch etwas über unsere Gesellschaft zu sagen haben?
Im Buchhandel reiht sich derzeit eine Marx-Biographie an die andere; es gibt Tassen, Shirts und Taschen – „Marx du mich?“ ist darauf beispielsweise zu lesen. Daneben füllen meterweise Literatur die Regale: Immer auf der Suche nach der richtigen Interpretation von Marx, dem wahrhaftigen Marx. Kaum ein Feuilleton kommt dieser Tage ohne kommunistischen Querverweis aus. „Karl Marx“ heißt unlängst auch ein neuer in Krefeld hergestellter ICE der Deutschen Bahn. Und während auf arte Leben und Werk des Philosophen und Ökonomen rauf und runter laufen, war „Der Junge Karl Marx“ schon vergangenes Jahr in den hiesigen Kinos zu sehen. Bereits 2013 wurden Das Kommunistische Manifest und der erste Band seines Hauptwerkes Das Kapital zum UNESCO-Weltkulturerbe ernannt. Etwas spooky wird’s spätestens dann, wenn selbst Hans-Werner Sinn, oberster Schutzheiliger der Ordoliberalen, ganz unverfroren dazu aufruft, sich wieder mehr an Marx zu wenden.
Marx, der bereits in jungen Jahren an der Berliner Universität die Schriften Hegels studierte, machte früh durch seinen schneidenden Intellekt auf sich aufmerksam. Der Schriftsteller und Philosoph Moses Hess notierte über den damals 23-jährigen Marx: „Denke Dir Rousseau, Voltaire, Lessing, Heine und Hegel in einer Person vereinigt, ich sage vereinigt, nicht zusammengeschmissen – so hast Du Dr. Marx.“ Während die industrielle Revolution von Großbritannien aus auf dem europäischen Festland Fuß fasste, der junge Student sich bei Kerzenlicht die Nächte um die Ohren schlug, beschäftigte ihn vor allem eine Frage: Wie kann es sein, dass eine Gesellschaft insgesamt immer reicher wird, gleichzeitig aber immer mehr Menschen ein Leben in Armut fristen?
Heute populär, damals kaum beachtet
Eine Frage, die auch heute (wieder) von höchster Brisanz ist. Während die Wirtschaft Jahr für Jahr wächst, produzieren wir gleichzeitig ein Heer von Ausgeschlossenen, die für den Verwertungsprozess des Kapitals nicht zu gebrauchen sind; namentlich in Form von Arbeitslosen, Obdachlosen, Geflüchteten. Die Realeinkommen der unteren 40 Prozent der Einkommen sind seit den 1980er Jahren nicht gestiegen – geschickt kaschiert mittels Privatverschuldung und Billigimporten aus Südost-Asien: Das gute Leben für alle verkommt mehr und mehr zur Farce. Erstmals ist in Europa wieder eine Generation herangewachsen, die ihren Wohlstand im Vergleich zur Elterngeneration nicht mehren können wird. Mit Marx überkommt viele die verspätete Einsicht, dass Globalisierung eben nicht für alle etwas abwirft. Der gläserne Sockel, auf welchem das kapitalistische System heute noch fußt, ist zunehmend geprägt von Gewalt, Hunger und Ausschluss.
Auch wenn Marx heute populärer denn je zu sein scheint, fristete er zu Lebzeiten ein äußerst bescheidenes Dasein. Meist am Tropf seines lebenslangen Freundes Friedrich Engels hängend, hatte er den Tod von vier Kindern und seiner geliebten Frau Jenny zu verkraften. Die größte Zeit seines Lebens verbrachte er als Staatenloser im Exil: zunächst in Paris, dann in Brüssel, die längste Zeit in London. Als Chefredakteur der Rheinischen Zeitung hatte er den Geduldsfaden der konservativ-preußischen Herrscher mehr als nur einmal überspannt. Den unbequemen Kommunisten erklärte man deshalb schleunigst zur persona non grata in Preußen.
Von der intellektuellen Popularität, die er heute genießt, konnte er damals nur träumen. Kaum einer kannte, geschweige denn las den bärtigen Philosophen. Dass Marx-Merchandising heute als profitable Einnahmequelle zählt, birgt eine gewisse Ironie in sich – zeigt aber auch einen der blinden Flecken im marx’schen Wirken: Die unfassbare Anpassungsfähigkeit eines kapitalistischen Systems, deren Akkumulationsmaschinerie in der Lage ist, in jede noch so kleine Nische des Nicht-Ökonomischen vorzudringen, wurde vom Vordenker des Kommunismus gravierend unterschätzt.
Von Gulags und Gerechtigkeit
So unausweichlich wie von Marx prophezeit, erwies sich der Fall des Kapitalismus dann doch nicht – selbst 150 Jahre nach seinem Hauptwerk Das Kapital und dutzenden Beinahe-Apokalypsen. Was sich vom marx’schen Werk denn nun bewahrheitet habe oder auf den Müllhaufen der Geschichte gehöre, darüber tobt unter Neo- und Post-Marxisten selbst heute noch ein erbitterter Streit. Damit einher geht der tragisch-komische Umstand, dass dem Exilanten immer wieder Errungenschaften umgehängt wurden, welche sich nicht im Geringsten mit seinen eigenen Überzeugungen decken.
Tragisch-komisch deshalb, weil von beiden Seiten: Die einen wollen in Marx den Wegbereiter des stalinistischen Regimes samt Gulag und Schauprozessen sehen – was in derselben Logik wohl auch Jesus zur maßgeblichen Triebkraft hinter den Kreuzzügen macht. Das andere Extrem beruft sich auf Marx, um gewissen Vorstellungen von Gerechtigkeit mehr Geltung zu verleihen. Doch so wenig sich Marx wohl ein stalinistisches Regime herbeisehnte, so wenig war er an Begriffen wie der Gerechtigkeit interessiert. Zudem machte sich Marx weder für die Verstaatlichung von Produktionsmitteln stark noch propagierte er die Abschaffung des Privateigentums.
Der Traum von der klassenlosen Gesellschaft
Wenn Marx schon relativ früh damit begann, wie er selbst sagte, Hegel vom Kopf auf die Füße zu stellen, kam es ihm vor allem darauf an, zu zeigen, dass es „nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein [ist], das ihr Bewusstsein bestimmt.“ Oder kurz: Die jeweils vorherrschende Produktionsweise ist es, die maßgeblich für unser Denken und Handeln verantwortlich zeichnet, indem sie sich in gesellschaftlichen Institutionen, der Kultur und dem Staat manifestiert. Alternativen sind im Bestehenden, in einer nüchternen Analyse des Seins zu finden – nicht in den ideellen Entwürfen und Visionen einer zukünftigen Gesellschaft.
Worauf Marx also Wert legte, war eine möglichst präzise Analyse der kapitalistischen Produktionsweise, ergo: Wer den Hasen fangen will, muss wissen, wie der Hase läuft. Sei der Kapitalismus erst überwunden, das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft und vergesellschaftet, würden sich Fragen nach der Gerechtigkeit erst gar nicht mehr stellen. Dann nämlich, so Marx‘ Vision einer klassenlosen Gesellschaft, sei jeder und jede frei, „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“.
Immer Dasselbe, damit alles anders wird?
Solange jedoch eine Klasse die Produktionsmittel in ihren Händen konzentriere, sei eine egalitäre Gesellschaft nicht zu realisieren. Was bleibt ist eine besitzlose Klasse, die nichts außer dem hat, ihre eigene Arbeitskraft feil bieten zu können. Und so viele marx’sche Forderungen heutzutage selbstverständlich sind (seien es die Verkürzung des Arbeitstages, die Versicherung im Krankheitsfall oder der Ruf nach einer freien Presse) – an diesem letzten Bollwerk kapitalistischer Herrschaftsverhältnisse, der Vergesellschaftung der Produktionsmittel, wurde bis heute nicht gerüttelt.
Dabei erlebt der Begründer des Materialismus gerade wieder eine Renaissance. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verschrien und verteufelt, füllen Philosophen, die sich heute auf Marx berufen, wieder ganze Eventhallen mit Zuschauern. An den Universitäten wird das marx’sche Werk wieder deutlich frequenter rezipiert, werden Lehrstühle wieder mit Marxisten besetzt und an freien Abenden Lesekreise und Diskussionszirkel abgehalten. Marx, so hat man dieser Tage den Eindruck, ist wieder en vogue, ist wieder in.
Doch woher dieser Hype – und sollte einen das nicht stutzig machen?
Ja – und nein! Mit Verlaub, wenn ein Hans-Werner Sinn plötzlich zum Marxisten wird, dann sollte einen das sehr wohl stutzig machen. Ansonsten ist es wohl Marx‘ messerscharfe Analyse des kapitalistischen Systems gepaart mit eben dessen inhärenter Krisenhaftigkeit, die dem geborenen Trierer aktuell zu unverhoffter Popularität verhelfen. Wenn unser Wirtschaftssystem seit 2007 an allen erdenklichen Enden aneckt und der einzig postulierte Ausweg Mehr und Mehr von dem Immerselben zu sein scheint, hat so eine Marx-Lektüre etwas herzhaft Erfrischendes. Wenn Marx‘ ökonomische Thesen in vielen Teilen zurecht umstritten sind, ist es wohl als seine größte Leistung hervorzuheben, dass er einem – auch 150 Jahre später – das akademische Handwerkszeug liefert, um die kapitalistische Ideologie präzise in Frage zu stellen.
„Alles, was ich weiß, ist, dass ich kein Marxist bin“
Gerade in Zeiten, in denen das eigentliche marxistische Subjekt, das Industrieproletariat, in unseren heutigen Gesellschaften maximal noch zehn bis 20 Prozent der Bevölkerung ausmacht und mit einer latenten „Faschismusbereitschaft“ mehr und mehr zur populistisch-nationalistischen Rechten abwandert, ist Marx aktueller denn je. In einer Welt, in der 42 Menschen so viel besitzen wie die 3,7 Milliarden Ärmsten dieser Welt, in der 82 Prozent des global generierten Reichtums an das reichste 1 Prozent wandern, in der die verheerenden Folgen dieses Akkumulationsregimes immer evidenter werden, kann eine Marx-Lektüre mehr als eine erfrischende Abwechslung sein.
Dabei ist Marx kein Prophet, kein Quell universeller Wahrheit, Das Kapital keine Bibel. „Alles, was ich weiß, ist, dass ich kein Marxist bin“, soll Marx einst gesagt haben. Worauf es der Urvater der Kommunisten anlegte, war, keinen -ismus zu entwerfen, kein abgeschlossenes System, keine Schablone, die man nur Eins-zu-Eins umzusetzen brauche, damit sich alles zum Besseren wende. Wenn in Gewerkschaften wieder von „Marx-Consulting“ die Rede ist, dann deshalb, weil er das Handwerkszeug liefert, um das bestehende Unrechts-Regime präzise und analytisch scharf in Frage zu stellen. Marx‘ Werk, fernab davon inhaltlich konsistent zu sein, kann maximal eine Brille sein, die es erlaubt, heute zu Tage tretende Widersprüche aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Widersprüche, die innerhalb kapitalistischer Logik als kleine Betriebsunfälle erscheinen, mit Marx allerdings einen viel grundlegenderen Widerspruch offenbaren.
Für die Linke von heute ist Marx Fluch und Segen zugleich
Würde Marx heute noch leben, was hätte er wohl zu sagen? Angesichts von Uber, Instagram und CumEx? Angesichts von Paradise Papers, Amazon und Donald Trump? Dass Marx heute noch Scharen von Wissenschaftlern damit auf Trapp hält, sein Werk zu interpretieren, hängt sicherlich auch mit dem umfassenden Tätigkeitsfeld des Exil-Londoners zusammen. Marx betätigte sich nicht nur als Philosoph und Ökonom, sondern war auch als Journalist und in diversen politischen Kontexten aktiv.
Zur Beerdigung von Karl Marx am Londoner Highgate Cemetery fand sich eine bescheidene Zahl von elf Personen ein, unter ihnen sein lebenslanger Freund Engels. Dass der Philosoph heute, nachdem er spätestens nach dem Fall der Sowjetunion zum toten Hund erklärt worden war, wieder populärer denn je, aber umstritten wie eh und je ist, zeugt von dem reichhaltigen Korpus, den Marx hinterlassen hat. Fakt ist: Wenn die Linke ihren Anspruch an eine Zukunft in Solidarität und Wohlstand nicht aufgeben will, wird sie an Marx nicht vorbei kommen. Für die Linke von heute ist Marx Fluch und Segen zugleich. Aber die Alternative dazu lautet: Ausgrenzung und Gewalt.
Johannes Greß
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