London/Brüssel. Den Französinnen und Franzosen sagt man für gewöhnlich eine gehörige Portion Nationalstolz nach. Nur allzu gern trägt man die Errungenschaften der französischen Revolution, den Startschuss der Europäischen Moderne, mit breiter Brust vor sich her: Liberté, Egalité, Fraternité! Dass ein solcher Stolz auch schnell in blanke Wut umschlagen kann, beweisen derzeit die gilets jaunes, tausende Protestierende, die mit gelben Warnwesten bekleidet regelmäßig ihre Enttäuschung und Frustration auf Frankreichs Straßen tragen. Dieser Wut ist – trotz oder gerade wegen dieses Stolzes – auch die Mariannen-Statue des Pariser „Arc de Triomphe“ zum Opfer gefallen, einem der Symbole der französischen Republik. Die Macht der Symbole ist im Politischen oft weit gewichtiger als die Politik selbst…
Einen ähnlichen Versuch startete kürzlich ein junger Labour-Abgeordneter, indem er im britischen Unterhaus die symbolträchtige Mace ins Visier nahm. Die Keule aus dem Jahr 1559 darf von keinem der Abgeordneten berührt werden, sie steht für die Macht des Britischen Königshauses – ohne sie ist das Londoner Parlament nicht beschlussfähig. Der Versuch des Abgeordneten Lloyd Russell-Moyle, die Keule aus dem Parlament zu befördern, wurde nach ein paar Schritten wieder gestoppt. Das House of Commons sei seiner Meinung nach nicht mehr willens zu regieren, rechtfertige Russel-Moyle seine symbolische Tat.
Unverkennbar hat der Brexit-Beschluss die Briten in eine verfahrene Lage geführt, aus der es sich derzeit nur schwer wieder herausmanövrieren lässt. Das Land ist gespalten in jene, die die Rückbesinnung aufs Nationale suchen, ein international unabhängiges Großbritannien sehen wollen; und jene, die die Chancen in der transnationalen Kooperation suchen – mit einem Großbritannien, das in der EU einen starken Partner sieht. Hier wie in Frankreich entladen sich derlei Spannung auf eine Weise, in deren Folge der politische Betrieb im Land kaum mehr handlungsfähig zu sein scheint.
Gesetzmäßigkeit, die wir liebevoll den „Markt“ nennen
Im Mai 2019 steht die Europäische Parlamentswahl an. Nicht wenige sehen darin eine Art Schicksalwahl für die europäische Staatengemeinschaft. Die Krise der Demokratie, die vor ein paar Jahren noch größtenteils auf Südeuropa beschränkt war, hat mittlerweile auch den Kern der Union erreicht. Ein globalisiertes, kapitalistisches Regime, wie wir es dieser Tage erleben, hievt eine Vielzahl von Bürgern einzelner Nationalstaaten auf eine Art Schleudersitz: Nicht ich selbst kann über mein Schicksal, meine Zukunft entscheiden, sondern die Laune eines CEOs am anderen Ende der Welt. Mein Schicksal liegt in den Händen einer Gesetzmäßigkeit, die wir liebevoll den „Markt“ nennen…
Den Strohhalm, den man diesen Menschen (vulgär ausgedrückt: den „Globalisierungsverlierern“) reicht, ist ein nationaler und emotional aufgeladener Rückzugsraum. Die Rückbesinnung auf die eigene Kultur, die Souveränität über die nationalen Grenzen, das Wiederaufleben der eigenen Traditionen und Werte. Die vermeintlich kulturelle Souveränität soll die verloren gegangene ökonomische Souveränität ersetzen. Es sind rationale, nachvollziehbare Forderungen, die die nationalen Demokratien derzeit ins Wanken bringen: Ich – und nur ich – will über mein Leben entscheiden können. Aber der Weg dorthin ist ein irrationaler!
Ein nationaler Wettbewerb der Selbstversklavung
Der Versuch ein geeignetes Gegengewicht zur globalisierten Wirtschaft zu suchen, darf nicht in einem Rückzug des Politischen auf die nächstkleinere Ebene münden. Globale ökonomische (Macht-)Ungleichgewichte auszugleichen heißt, dass sich auch die Politik globalisieren muss. Eine Politik auf Nationalebene zieht gegen eine Wirtschaft auf globaler Ebene immer den kürzeren, ist immer einen Schritt zu spät. Der daraus resultierende „Standortwettbewerb“ einzelner Staaten, den wir derzeit erleben, bedeutet für Löhne und Sozialleistungen ein Race to the Bottom. Die Zukunft kann nur in transnationalen Gemeinschaften wie der Europäischen Union zu finden sein, die diesem Wettbewerb der Selbstversklavung auch etwas entgegenzusetzen hätte!
Wie diese EU künftig aussehen soll, ist eine Frage, die derzeit vehement verhandelt wird. Bis dato ist die Union nicht mehr als ein Nebeneinander verschiedener Nationalstaaten – deren politische Beschlüsse überwiegend auf ökonomischen Kennzahlen basieren. Das elementar Politische, den demokratischen Streit, die Verhandlung von Alternativen sucht man in den europäischen Institutionen – innerhalb eines ökonomistischen Korsetts vulgo Konvergenzkriterien – vergeblich.
Der Graben verläuft nicht mehr zwischen „Links“ und „Rechts“
Die Herausforderungen dieser Tage – ökologische, soziale und politische Krisen – sind nicht auf nationalstaatlicher Ebene bearbeitbar. Spätestens am 26. Mai werden wir wissen, ob sich diese EU zukünftig für mehr oder für weniger Europa entscheiden wird. Beide Fraktionen sind derzeit lautstark zu vernehmen: Jene, die sich um die nationale Souveränität sorgt – sowie jene, die einen Ausbau der Staatengemeinschaft fordert. Den Status Quo – zumindest darüber ist man sich einig – halten beide für unbefriedigend.
Dies zeigt sich vor allem bei den gilets jaunes: Ultrarechte protestieren hier Seit‘ an Seit‘ mit radikalen Linken. Und beim Brexit: Weder Torries noch Labour können sich innerhalb ihrer Partei auf eine gemeinsame Exit-Strategie einigen. Der Graben verläuft nicht mehr zwischen „Links“ und „Rechts“, sondern zwischen „National“ und „Global“.
Dies birgt eine weitere, überaus interessante Implikation: Das globale Thema unserer Generation, der Klimawandel, muss die Verschiebung dieser Konfliktlinie mitberücksichtigen. Die (globale) ökologische Frage kann nicht ohne die (nationale) soziale Frage gedacht werden. Die Proteste in Frankreich als „Spritpreis-Proteste“ zu betiteln, wäre zwar deutlich zu kurz gegriffen, aber es zeigt klar, wie Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit miteinander in Konflikt geraten können, wenn das eine auf Kosten des anderen vorangetrieben wird.
„Demokratie als Versuch, Konflikte zu bewältigen, bevor sie in Gewalt münden“
Bis dato bedeutete eine Ausdehnung des nationalen Bezugsrahmens vor allem Marktöffnung, eine ökonomische Liberalisierung; Dinge mit denen „Globalisierungsgewinner“ ganz gut leben können. Doch wenn diese Entwicklung eine rein wirtschaftliche ist, das Politische dabei auf der Strecke bleibt, profitieren auch nur jene davon, deren Glück im Wirtschaftlichen liegt. Was es braucht, ist eine Ausdehnung des Rahmens politischer Beteiligung und die Möglichkeit – ernsthafter – politischer Entscheidungsfindung sowie Kontrollmechanismen auf EU-Ebene. Das impliziert auch, dass Sozialleistungen nicht mehr an den Nationalstaat gekoppelt sein dürfen; dass ich als Europäer – und nicht als Deutscher, Franzose oder Brite – Anspruch auf Arbeitslosengeld oder eine Pension habe. Nur so hat diese Staatengemeinschaft auch den Enttäuschten und Frustrierten etwas zu bieten.
Projekte und Bewegungen wie der „European Spring“, Diem25 oder das European-Balcony-Project zeigen, dass Bestrebungen, die in diese Richtung zielen, immer gefragter sind. Als jüngster Vertreter reihte sich kürzlich der renommierte Ökonom Thomas Piketty in die Gemeinschaft der Pro-Europäer ein – und plädierte in seinem „Manifest für die Demokratisierung Europas“ für eine „europäische Versammlung“ als Grundstein für eine Demokratisierung der EU. All‘ diese Forderungen haben eines gemein: Die Sehnsucht nach einem Europa, das weit über wirtschaftliche Zusammenarbeit hinausgeht. Ein Europa, das auch auf sozialer Ebene etwas anzubieten hat. Und ein demokratisches Europa – mit Möglichkeiten zur Beteiligung, mit dem Primat des Politischen über allem anderen – auch der Wirtschaft.
„Demokratie ist der Versuch, Konflikte zu bewältigen, bevor sie in Gewalt münden“, schrieb der Autor und Historiker David Van Reybrouck einst in einem Brief an Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. „An den Wurzeln der Demokratie wird der Konflikt also zelebriert“, so Van Reybrouck, „doch auf EU-Ebene haben wir davon nur sehr wenig gesehen“. Nicht zuletzt die Pariser Mariannen-Statue kann bezeugen, dass die europäische Demokratie derzeit einer ihrer wesentlichen Aufgaben nicht erfüllt.
Johannes Gress