Es ist kurz vor Mitternacht. Ich sitze mit einem Freund am Münchner Hauptbahnhof und beobachte ein paar Polizisten beim lockeren Plausch. Daneben ein Sanitäter vom Roten Kreuz. Das THW. Und immer wieder ein paar Fotografen. Kaum einem sind die Bilder von applaudierenden Münchnern entgangen, die ankommende Flüchtlinge mit Wasserflaschen, Bonbons und Teddy-Bären begrüßen. Der „Ugly German“, der „Hässliche Deutsche“, sei ein für alle mal vergessen, titelte der britische Guardian.
Tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf. Was für ein komischer Ort das doch ist. Für tausende Menschen beginnt hier, am Münchner Hauptbahnhof, ein neues Leben. Ein Leben mit Zukunft. Eine ältere Dame, womöglich Mitte 60, unterbricht meinen Gedankenstrom: „Als ich die Menschen hier gesehen hab, bin ich sofort los und habe Essen und Getränke in einen Einkaufswagen gepackt – und bin zurückgekommen.“ Ohne meinen Kommentar abzuwarten, fährt sie fort. Sie erzählt von ihren Erlebnissen in den vergangenen Tagen, wie viel Zeit und Geld sie investiert hat. „Aber sagen Sie mal ehrlich, das kann doch nicht ewig so weitergehen, oder?“ Die Antwort bleibe ich ihr schuldig.
Die EU ist ein faszinierendes Projekt – aber es wackelt
Eine Welle der Solidarität rollt derzeit über Deutschland hinweg. Ehrenamtliche Helfer investieren Unmengen an Zeit, helfen beim Sprachunterricht, erledigen Behördengänge – und unterstützen bei der Jobsuche. Das ist überwältigend. Das macht Hoffnung. Und das ist die passende Antwort in Zeiten, in denen sich Brandanschläge auf Asylunterkünfte häufen. Doch alleine mit ehrenamtlichem Engagement wird diese Krise nicht zu lösen sein. Ressourcen und Enthusiasmus der unterstützenden Zivilgesellschaft sind irgendwann aufgebraucht. So wie die Dame vom Münchner Hauptbahnhof stellt sich jeder, der Freiwilligen an irgendeinem Punkt die Frage: „Kann das denn so weitergehen?“ Natürlich nicht…
Doch: Wenn es ein Fleckchen Erde auf dieser Welt gibt, das in der Lage ist, mit einem Problem dieses Ausmaßes fertig zu werden, dann ist es die Europäische Union. Die Europäische Union ist meiner Meinung nach ein faszinierendes Projekt – die letzten Nachbeben der Euro-Krise sind jedoch gerade erst verklungen, da steht der Staatenverbund schon wieder vor der nächsten Bewährungsprobe. Und ich sage es noch einmal: Die EU ist ein faszinierendes Projekt. Aber es wackelt.
Durch Mauern verschwindet das Problem nicht
Wie viele der freiwilligen Helfer sollten sich auch die EU-Verantwortlichen einmal fragen, ob „das“ denn so weitergehen kann. Sollen wir uns weiter damit begnügen, die Symptome der Flüchtlingskrise zu bekämpfen und zu hoffen, das ganze Dilemma irgendwie auszusitzen? Wir stehen am Scheideweg – und es gibt nur zwei Möglichkeiten: Wollen wir mehr Europa – oder wollen wir weniger Europa? Entscheiden wir uns für Letzteres – ein Europa als eine lose Ansammlung von Nationalstaaten, welche ausschließlich nationale Interessen verfolgen -, dann wird sich an der Flüchtlingssituation nicht viel ändern. Zumindest nicht zum Positiven. Wir können weiterhin Unsummen in Grenzzäune und deren Sicherung investieren. Können versuchen, unseren Schleuserfahndungs-Fetisch zu befriedigen. Und Herr Seehofer kann weiter ungestört davor warnen, bloß „keine falschen Anreize“ zu setzen.
Ausschließlich für die Forschung zum Thema Grenzschutz wurden von 2002 bis 2013 insgesamt 230 Millionen Euro ausgegeben. Hinzu kommen die Ausgaben für die Grenzschutzorganisation FRONTEX, die jährlich die 800 Millionen-Marke übersteigen. Sowie einige nationale „Mauerbau-Projekte“ mit Instandhaltungskosten von mehreren Millionen Euro. Die Erfahrung der vergangenen Jahre hat gezeigt, dass all diese Maßnahmen die Schutzsuchenden nur wenig davon abhält, ihren Weg nach Europa zu suchen – und zu finden. Die Außengrenzen der EU sind weitläufig. Irgendwo findet sich immer ein „Schlupfloch“ im Zaun. Fakt ist: Solange wir es nicht schaffen, die Krisenherde dieser Welt zu beseitigen, all jene Fluchtursachen von Grund auf zu bekämpfen, werden Menschen nach Europa kommen – übers Meer, über Mauern, im Lastwagen oder eben zu Fuß. Durch Mauern verschwindet das Problem nicht. Es bleibt nur außer Sichtweite. Motto: Aus den Augen, aus dem Sinn.
Rüstungsgut für die Welt – vom Friedensnobelpreisträger
Auch das aktuell vieldiskutierte „Quotensystem“, nach welchem Flüchtlinge nach einer bestimmten Quote auf die EU-Mitgliedsstaaten verteilt werden sollen, ist dabei nicht mehr als „Katastrophenkosmetik“. Solange man sich innerhalb der Union nicht auf einheitliche Standards, Leistungen und Gesetze für Asylsuchende einigen kann, werden Menschen ihr Glück dort versuchen, wo ihre Chancen am größten sind. Logisch. Das sind in den meisten Fällen ökonomisch stärkere Länder wie Österreich, Deutschland oder Schweden. Oder Länder, in denen sich bereits Familie und/oder Verwandte befinden. Wer am Mittelmeer sein Leben riskiert, wird sich von einem „Quotensystem“ sicherlich nicht aufhalten lassen. Wenn Schutzsuchende in einigen EU-Ländern weiterhin auf der Straße schlafen müssen und ohne medizinische Versorgung bleiben, wird eine Verteilung nach Quote nur äußerst unwahrscheinlich von Erfolg geprägt sein.
Des Weiteren wäre es an der Zeit, sich einmal an die eigene Nase zu fassen. Im Jahr 2012 wurden der Europäischen Union zwei nennenswerte Titel verliehen: Der Friedensnobelpreis – und der Titel des Rüstungsexport-Weltmeisters. Herrlich! Von den 51 autoritären Regimen weltweit erhielten 43 Rüstungsgut vom Friedensnobelpreisträger 2012. Ein Staatenverbund verdient Milliarden am Export von Waffen an autoritäre Regime, weigert sich die Menschen, die vor diesen Regimen fliehen aufzunehmen – und heimst dabei auch noch den Friedensnobelspreis ein. Eine solche Leistung verdient – unter Anwendung einer gehörigen Portion Sarkasmus – vielleicht den Wirtschaftsnobelpreis. Aber friedensstiftend sind derartige Unterfangen sicherlich nicht.
Fern von jeglicher Realität – Klassenkampf global
Gehen wir einen Schritt weiter und schauen in ein x-beliebiges „Entwicklungsland“ dieser Erde. Am besten dorthin, wo am meisten „entwickelt“ wird – nämlich in einer Schule. Da Schulen meist von westlichen Ländern finanziert werden (im Jahr 2014 flossen 58 Milliarden Euro aus der EU in die „Entwicklungsländer“), gleicht der Lehrplan auch der einer pädagogischen Einrichtung des Unterstützerlandes. Im Vordergrund der „Bildung“ steht das zukünftige Berufsleben. Das heißt: Von der ersten Klasse an sollen die Vorraussetzungen dafür geschaffen werden, später einmal den „Traumberuf“ auszuüben. Die Rede ist von Aufstiegschancen, Gleichberechtigung, fairen Arbeitsbedingungen und guter Entlohnung. An diesen Werten ist an sich nichts Verwerfliches – nur liegen sie fern von jeglicher Realität in den meisten dieser Länder.
In einer globalisierten Welt ist etwas entstanden, was man mit Anlehnung an Karl Marx wohl zurecht als einen „Klassenkampf auf globaler Ebene“ bezeichnen kann. Zu Lebzeiten Karl Marx‘ (19. Jahrhundert) herrschte eine schier übermächtige Klasse in Westeuropa, die Bourgeoisie, über die arbeitende Klasse, das Proletariat. Die Bourgeoisie befand sich im Besitz der Produktionsmittel und des Kapitals, während das Proletariat zu menschenunwürdigen Bedingungen und schlechter Entlohnung schuftete…
Aus der Traum vom Pursuit of Happiness
Genau dies passiert aktuell auf globaler Ebene: Wir finden eine reiche, übermächtige „Bourgeoisie“ in westlichen Ländern vor, während das „Proletariat“ in Entwicklungsländern unter menschenunwürdigen Bedingungen und schlechter Bezahlung Kaffee herstellt, Bananen erntet oder T-Shirts näht. Verwendungszweck: Export gen Westen. Nach dem erfolgreichen Schulabschluss werden die meisten Absolventen also unsanft auf den Boden der Realität zurückgeholt. Der angestrebte „Traumjob“ existiert nämlich gar nicht – von fairen Arbeitsbedingungen und guter Entlohnung ganz zu schweigen. Keine Frage, dass sich die meisten nach einem Schulleben, durchtränkt von sich ständig wiederholenden „Pursuit of Happiness-Predigten“, mehr erwarten als Schafehirten oder Baumwoll-Pflücken. Vor allem junge, meist männliche, gut ausgebildete Männer versuchen daher oft ihr Glück – und machen sich auf den Weg nach Europa.
In Deutschland zeichnet sich derzeit dasselbe Bild ab: Seit Jahren steigt der prozentuale Anteil an Schulabgängern mit Allgemeiner Hochschulreife. Gleichzeitig klagen vor allem Handwerksberufe oder Bäckermeister über fehlenden Nachwuchs. Außerdem ziehen vermehrt junge Leute vom Land in die Stadt, um dort einen geeigneten Beruf zu finden. In beiden Fällen – in Deutschland wie im „Entwicklungsland“ – ist die Motivation, die sich dahinter verbirgt, stets dieselbe.
Aktuelle Entwicklung ist keine Überraschung
Daraus sind zwei Lehren zu ziehen: Zum einen sollte man die Entwicklungsstrategie der EU von Grund auf überdenken. Bildung sollte sich vor allem an den Bedürfnissen einer Person, eines Menschen orientieren – und nicht an den Anforderungen, die die Wirtschaft an einen stellt. Von dem Wissen über elekromagnetische Felder und Integralrechnungen wird der äthiopische Kaffeebauer auch nicht satt. Vielmehr sollte dafür gesorgt werden, dass es Menschen aus „Entwicklungsländern“ nachhaltig und zu fairen Bedingungen möglich ist, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Die aktuelle „Bildung“ hingegen führt lediglich zu einem massiven „Brain-Drain“ – der Abwanderung von jungen, motivierten und gut ausgebildeten Arbeitskräften in die urbanen Zentren der ökonomisch stärkeren westlichen Welt.
Dies ist in zweierlei Hinsicht problematisch: Die Abwanderung schwächt zum einen die ohnehin schon wirtschaftlich gebeutelten Regionen dieser Erde und geht einher mit allen bekannten Begleiterscheinungen (Armut, erhöhte Kriminalität, Konflikte, kriegerische Auseinandersetzungen). Zum anderen erleben wir etwas, was der französische Politiker Pierre Lellouche bereits 1991 wie folgt beschrieb: „Geschichte, geographische Nähe und Armut garantieren, dass Frankreich und Europa bestimmt ist, von Menschen aus den gescheiterten Gesellschaften des Südens überschwemmt zu werden. Die Vergangenheit Europas war weiß und jüdisch-christlich. Die Zukunft wird es nicht sein“. Auch andere prominente Soziologen, wie Samuel P. Huntington, prophezeiten derartige Entwicklungen bereits in den frühen 90er Jahren („Kampf der Kulturen“).
Wir brauchen „mehr Europa“ – das ist unausweichlich
Auch wir als Konsumenten, wir als „Bourgeoisie“, tragen Mitschuld an den gegenwärtigen Entwicklungen. Die unglaublich hohe Nachfrage an Billigprodukten, angefangen von T-Shirts über die Schreibtischlampe bis hin zu Gemüse und Schokolade, ist ausschlaggebend für den momentanen Status Quo.
Quo vadis, EU? Wohin gehst Du, Europäische Union? Was wir brauchen ist „mehr Europa“. Unausweichlich. Wollen wir diese Problematik lösen, müssen wir alle gemeinsam an einem Strang ziehen, nationale Interessen soweit wie möglich in den Hintergrund stellen. Dies beginnt mit EU-weit einheitlichen Standards, Leistungen und Gesetzen für Asylsuchende. Erst dann kann über eine gerechte Verteilung von Flüchtlingen anhand eines Schlüssels oder einer Quote diskutiert werden. Weiter brauchen wir eine nachhaltige Entwicklungs- und Außenpolitik, deren Ziel es ist, Konflikte einzudämmen und ökonomische Ungleichgewichte zu reduzieren. Außerdem ist es bitter nötig, unser Konsumverhalten drastisch zu überdenken.
Für ein Europa ohne Mauern, das den Nobelpreis verdient
Natürlich lassen sich kriegerische Auseinandersetzungen, wie derzeit im Nahen Osten, nicht von heute auf morgen lösen. Genauso wenig wie man die europäische Entwicklungspolitik einfach so mal schnell umkrempeln kann. Auch eine gerechte Verteilung von Flüchtlingen auf die einzelnen EU-Mitgliedsstaaten lässt sich nicht über Nacht einführen, keine Frage. Aber um solche grundlegenden, längst überfälligen Kursänderungen werden wir nicht herum kommen. Wie lange am Münchner Hauptbahnhof noch Wasserflaschen für ankommende Flüchtlinge verteilt werden müssen, hängt vor allem davon ab, wann wir uns endlich für „mehr Europa“ entscheiden – ein Europa ohne Mauern und ein Europa, welches den Friedensnobelpreis als solches auch verdient. Die Weichen dafür stellen wir besser heute als morgen, besser jetzt als gleich.
Johannes Gress