Krems/Donau. Etwas unscheinbar, ja fast so, als gehöre er nicht so recht dazu, steht er da: ein freistehender Gebäudetrakt, etwas abseits und architektonisch weit weniger ansprechend als der Rest der Donau-Univsersität Krems. Im Innern des Gebäudes befindet sich das Department für Europapolitik und Demokratieforschung. So unscheinbar und trist es von außen auch wirken mag – im Innern, genauer gesagt im Büro von Ulrike Guérot, ist von Tristesse keine Spur. Für die Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung sowie Gründerin des Berliner European Democracy Labs ist das Thema Europa eine wahre Herzensangelegenheit. Dies spürt man in der Sekunde, in der sie anfängt darüber zu sprechen. Im Hog’n-Interview erklärt die Politologin, wie sie mit einer Demokratisierung Europas gegen Populisten ankämpfen und der europäischen Jugend eine Zukunft bieten möchte. Sie fordert ein Europa, in dem sich „keiner mehr für Europa interessieren muss“.
Frau Guérot: Am 10. November, um exakt 16 Uhr, werden zahlreiche Europäer auf Ihr Bestreben hin einen Balkon betreten – was machen sie da und warum?
Nicht nur einen Balkon – man kann sich auch auf eine Leiter stellen oder auf eine Rutsche. Der Balkon ist nur das Prototypische. Im November 2018 haben wir zwei wichtige Daten: Vor 100 Jahren wurden verschiedene Republiken ausgerufen, die Österreichische, die Ungarische, die Weimarer oder die Bayerische. Gleichzeitig endete der Erste Weltkrieg. Und all‘ das spielte sich zwischen dem 9. und dem 11. November ab. Wir wollten diese beiden Kerndaten europäischer Geschichte im Rahmen dieses Balconyprojects in eine gemeinsame Zukunft bringen. Wir haben uns überlegt: Wenn die Menschen vor 100 Jahren Republiken ausgerufen haben, dann wollten sie Bewusstsein schaffen für diesen emanzipatorischen Akt der Bürger. Die Kernforderung war: allgemeine, gleiche, direkte und freie Wahlen!
„Man muss etwas erst aussprechen, dann wird es Wirklichkeit“
Im Rahmen dieser Aktion wollen wir diese Forderung wiederholen. Wir sind mittlerweile viel, viel weiter in Europa. Wir sind wahnsinnig stolz auf die europäischen Errungenschaften, auf das Friedensprojekt, auf den Markt, auf die Währung, auf Schengen… Es fehlt aber etwas. Wir haben auf europäischer Ebene allgemeine, direkte und freie Wahlen – aber sie sind nicht gleich! Doch genau das macht eine Republik aus. Deshalb haben wir gesagt: Was die vor 100 Jahren konnten, können wir schon lange. Nur gründen wir dieses Mal eine Europäische Republik!
Wie soll das konkret aussehen?
Das ist naheliegend. Wir haben schon den einen Markt, die eine Währung – wir komplementieren das jetzt mit einer Demokratie. Aber die eine Demokratie hat eine notwendige Bedingung: den allgemeinen politischen Gleichheitsgrundsatz für alle europäischen Bürgerinnen und Bürger. Um dafür ein Bewusstsein zu schaffen, machen wir diese Aktion.
Viele fragen sich an dieser Stelle: Haben wir denn nicht schon gleiche Rechte? Nein, das haben wir nicht! Wir haben in der EU die Freiheit für Güter, Kapital und Dienstleistungen – die einzigen, die nicht gleich sind vor dem Recht, sind wir als europäische Bürgerinnen und Bürger. Da setzt das Projekt an – wir stellen uns auf Balkone und wir rufen die Rechtsgleichheit aus. Man muss etwas erst aussprechen, dann wird es Wirklichkeit. Das machen wir dann europaweit. (überlegt kurz) Ich weiß nicht, machen Sie Mayonnaise selbst?
Nein, eher nicht…
Eigelb, Senf – und dann muss man vorsichtig sein mit dem Öl. Man muss viel rühren, immer ein paar Tropfen hinzugeben, damit die Mayonnaise aufgeht. Und im Moment wird die Mayonnaise – also mein Projekt – Tröpfchen für Tröpfchen größer. Das ist echt eine Freude…
Wenn die Mayonnaise fertig ist, was passiert dann damit?
Wenn ich mir anschaue, was die Europäische Kommission in den letzten Jahren – also in einer Zeit, als es um die EU wirklich nicht gut bestellt war – gemacht hat… Da wurde Geld ohne Ende für Kampagnen verbrannt, nur um die EU den Bürgern irgendwie näher zu bringen. Wenn ich nur die Hälfte dieses Geldes bekommen hätte…
„Haben mit kleinen Mitteln gefunkt – andere haben das gehört“
Wir haben dieses Projekt mit 30.000 Euro über Crowdfunding auf die Beine gestellt. Und mit vier studentischen Mitarbeitern, die ich Teilzeit angestellt habe. Was wir machen, ist im Endeffekt ein Diskursangebot: Wir wollen als europäische Bürger gleich sein vor dem Recht! Und das scheint auf Resonanz zu stoßen. Wir haben mit kleinen Mitteln gefunkt – und andere haben das gehört. Das ist es, was mir wirklich Freude macht.
Als Beispiel: Unser Manifest zur Europäischen Republik gibt es jetzt in 20 Sprachen – übrigens auch in Latein, in Esperanto oder in Gebärdensprache. Aber wir haben das nicht verlangt, wir haben es einfach zugesendet bekommen. Es sind Leute, die das einfach so für uns erledigt haben. Das ist das Großartige daran. Wir haben noch drei Wochen und hoffen, dass wir noch weitere Menschen mobilisieren können.
Ob und wie das jetzt weiter geht, ist in erster Linie eine Geldfrage. De facto ist ab Ende November kein Geld mehr da. Und wenn kein neues Geld kommt, dann findet erst mal gar nichts statt. Aber wir haben drei Ideen wie es weiter gehen könnte. Erstens wäre es unser Traum, möglichst noch vor den Europawahlen im Mai einen Bildband über das erwähnte Balconyproject zu machen. Darin würden wir das Manifest in allen 20 Sprachen abdrucken und dahinter Fotos von all jenen Menschen, die mitgemacht haben.
Die zweite Idee wäre, in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für Politische Bildung zum Manifest und seinen Forderungen sogenannte Bürgerdialoge zu veranstalten.
Die dritte Idee: Wir verschicken Briefe an alle EU-Kommissare sowie alle EP-Abgeordneten, um ihnen mitzuteilen: Das ist das Manifest, bezieht bitte Stellung zu unseren Forderungen! Und die vierte Idee wäre es, denn Erinnerungsort zu institutionalisieren. Nach dem Motto: Am 10. November 2019 blicken wir zurück und fragen, was im vergangenen Jahr passiert ist.
Um es nochmal konkreter zu machen: Was heißt das eigentlich, gleiche Rechte für europäische Bürger? Im Moment haben wir haufenweise europäische Initiativen wie „March for Europe“, „European Moment“, „Diem25“ etc. – aber wir haben kein europäisches Vereinsrecht. Alle, die auf europäischer Ebene irgendetwas mobilisieren wollen, können noch nicht einmal einen europäischen Verein gründen. Darum wäre eine unserer Forderungen: Gebt uns doch mal ein europäisches Vereinsrecht. Kann das denn so schwierig sein!? Man kann Unternehmen gründen nach europäischem Status – warum keinen Verein?
„Europa heißt nicht Staaten zu integrieren, sondern Bürger zu einen“
Über Wege wie diesen – nach dem Motto „Steter Tropfen höhlt den Stein“ – wollen wir die Debatte über europäische Demokratie und Bürger immer weiter treiben. In diesem Diskurs geht es auch darum, den populistischen Argumenten den Boden zu entziehen, indem man endlich die Frage nach dem europäischen Souverän beantwortet. Das heißt: Ich will die europäische Demokratie so demokratisch machen, dass es keinen Grund mehr gibt, sie zu kritisieren.
Eine unlängst veröffentlichte Studie zeigt, dass vor allem die unter 30-Jährigen der EU gegenüber viel positiver gesinnt sind als jene über 30. Trotzdem findet sich im Europaparlament kein einziger Abgeordneter, der jünger als 30 Jahre ist. Können, wollen oder dürfen die Jungen in der EU nicht?
Dieser Studie würde ich nur zum Teil zustimmen. Der eine Teil unter 30, der europäisch ist, ist ganz anders und viel „radikaler“ europäisch, als die, die früher europäisch waren. Das heißt die junge ERASMUS-Generation ist schon lange auf Europäische Republik, die hat keine Lust mehr auf einen Europäischen Rat und so weiter – die wollen ein richtiges Europa! Sie sehen es wie Jean Monnet (einer der Wegbereiter der europäischen Einigungsbestrebungen, Anm. d. Red.): „Europa heißt nicht Staaten zu integrieren, sondern Bürger zu einen“. Und wer Menschen in einer Demokratie einen will, muss sie vor dem Recht gleichstellen.
Das heißt jedoch – leider – noch nicht, dass heute alle viel europäischer sind als früher. Sondern das, was wir wirklich messen können, ist, dass die Jugend von heute in der europäischen Frage gespalten ist. Sie sehen die ERASMUS-Generation, aber dagegen sehen Sie auch eine radikalisierte nationale Jugend. Ganz egal, ob Sie nach Ungarn gehen zur Jobbik-Partei, den Neonazismus in Polen beobachten oder ob Sie sich bei der jungen AfD umschauen – wir haben eine renationalisierte Jugend! Insofern ist es offen, wohin wir kippen werden. Wenn wir mit Klaus Mannheimer sagen „Zukunft ist immer, was die Jugend denkt und will“, dann muss man heute sagen: Diese Jugend ist gespalten. Man muss sich deshalb fragen, was wird daraus?
Woran scheitert es denn?
Diese Jugend hat das historische Problem, dass sie nie ein funktionierendes europäisches System bekommen hat, das sie hätten gestalten können. Ich arbeite sehr viel mit europäischen Jugendlichen, ich bin jeden Tag von ihnen umgeben. Die gehen nicht in die europäische Politik, weil sie das langweilt. Die wollen nicht über Glyphosat diskutieren. Die wollen auch keine Datenschutzverordnung verhandeln. Die springen auf diese Technokratie nicht an. Die wollen gestalten, die wollen, dass Europa eine funktionierende Demokratie wird. Aber die wollen sich nicht für 8.000 Euro im Monat als EU-Beamter in der Kommission über irgendeine kleinteilige Direktive, meinetwegen über „diffused borders“, beugen müssen.
„Der Kampf um die Parkbank und um den Fahrradweg“
Heute ist die große Tragödie, dass wohl ein Drittel den Rattenfängern und populistischen Diskursen auf den Leim geht. Frei nach dem Motto „The Flag will do it“ – die Fahne wird’s schon richten. Aber im Endeffekt geht es um Stolz, nicht mehr um soziales Emporkommen. In deindustrialisierten Gebieten kann man die Leute leicht mit „Stolz“ abholen, weil sozial sowieso alles verwahrlost ist. Mit Europa kommen Sie da nicht durch. Insofern ist die Gefahr, dass wir uns eine neo-populistische Jugend heranzüchten auf der einen Seite gegeben. Man könnte das nur dadurch besser machen, indem man ein System hätte, das sich wirklich um diese Leute kümmert. Das diesen Leuten zeigt, dass es ihnen in einem demokratischen, sozialen Europa besser gehen wird. Du bekommst einen europäischen Mindestlohn, eine europäische Arbeitslosenversicherung…
Wer soll das vorantreiben?
Man hätte diese ERASMUS-Generation, die dieses System – als Eliten sozusagen – gestalten könnte. Das Problem in vielen Politikbereichen in der EU war ja, dass sich während der Bankenkrise viele in die eigene Tasche gearbeitet haben – und keiner Verantwortung übernehmen wollte. Die „Modernisierungsverlierer“ wurden übersehen – und sie konnten sich nicht wehren, weil Europa keine Demokratie ist, weil sie keine Teilhabe am europäischen politischen System haben. Will man das auflösen, müsste man das System so ausgestallten, dass man es mit Leben füllt, mit einem sozialen Charakter – und dann bin ich ganz überzeugt, dass man diejenigen, die derzeit Gefahr laufen, diesen Rattenfängerparolen zu erliegen, wieder zurückholen kann. Aber noch ist es nicht ausgemacht, wie sich das zukünftig entwickelt…
Persönlich kenne ich viele politisch engagierte, junge Menschen. Das geht vom Kampf um den Fahrradweg oder die Parkbank bis hin zur regionalen oder nationalstaatlichen Ebene. Ich kenne keinen, der sich für europapolitische Themen stark machen würde…
Alles, was ich versuche, ist ein Diskussionsangebot zu schaffen: Nicht, dass sich jeder für Europa engagieren muss, sondern, dass jeder einfach Europäer ist. Alles was Sie beschreiben – der Kampf um die Parkbank und um den Fahrradweg – ist de facto die Wiedererfindung der Republik. Wir sehen gerade: Neoliberal war gestern! Das heißt: Draußen in der Welt ist es immer noch neoliberal – doch in den akademischen Zirkeln dominieren die Commons, die Republik, das Gemeinwohl, die Allmende… Eine Gegenbewegung ist im Kommen und das ist genau das, was Sie beschreiben: Wo ist meine Parkbank, wo ist mein Radweg? Politik ist für den Menschen da – und nicht, wie das Angela Merkel einst fatalerweise betitelte, im Stile einer „marktkonformen Demokratie“.
„Das ist nämlich das Missverständnis in der Debatte“
Ich stehe nicht da und sage: Alle müssen sich für Europa interessieren. Einige müssen sich für Europa interessieren, andere fürs Klima usw. Eine Republik funktioniert immer dann gut, wenn jeder sich für seinen Bereich engagiert, jeder an seinem Platz. Meine Forderung nach gleichen Rechten für europäische Bürger würde genau darauf hinauslaufen, dass sich im Grunde keiner mehr für Europa interessieren muss – aber Europa wirklich da ist!
Meine Antwort auf die Frage, wieso sich Menschen für Europa engagieren sollen, wäre: Lasst die Leute mal in Ruhe! Die müssen sich nicht für Europa interessieren. Kümmere sich jeder um seine Bank und um seinen Radweg. Das Ziel ist, nicht einmal zu merken, dass man in Europa lebt.
Frau Guérot, ein gutes Schlusswort…
… einen Satz noch!
Wissen Sie, wir reden hier immerzu über europäische Demokratie, Agora, wir müssen uns alle lieb haben… Ich sage Ihnen Folgendes: Ich habe eine 80-jährige Mutter im Rheinland. Die wacht nicht jeden Morgen auf und fragt sich, wie es den Menschen in Schleswig-Holstein geht – oder in Bayern? Die ist da auch noch nie gewesen. Die liest die regionale Tageszeitung und ist völlig happy. Sie weiß, sie wohnt in der Bundesrepublik Deutschland, sie geht zur Wahl, bekommt ihre Sozialleistung. Das könnte in Europa genau so laufen. Rechtsgleichheit heißt nicht Zentralisierung. Das ist nämlich das Missverständnis in der Debatte. Ich will keinen europäischen Superstaat. Jeder ist da und macht Gutes, da wo er ist. Europa soll überall sein – und keiner merkt es.
Vielen Dank für das Gespräch und dafür, dass Sie sich Zeit genommen haben.
Interview: Johannes Gress
Zur Person: Seit April 2016 ist Ulrike Guérot Leiterin des „Departments für Europapolitik und Demokratieforschung“ an der Donau-Universität Krems. Nachdem sie in Münster Politikwissenschaft studierte, war sie von 1995 bis 1998 wissenschaftliche Mitarbeiterin beim ehemaligen Präsidenten der Europäischen Kommission, Jacques Delors. Sie erhielt Lehraufträge an Universitäten in den USA und in Europa und ist Autorin zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien im Juni 2018 „Europa Jetzt! Eine Ermutigung.“
Hintergrund unserer Serie:
„Unsicherheit“ ist das Schlagwort unserer Generation. Wie umgehen mit den zahlreichen Herausforderungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft? Unsere Welt ist im Wandel begriffen, dreht sich immer schneller. Wir möchten wissen: Wie damit umgehen? Dabei sollen nicht nur unsere Leserinnen und Leser zu Wort kommen, sondern auch Experten, Wissenschaftler, Politiker und Ökonomen. Was sagt eigentlich ein Zukunftsforscher über seinen Forschungsgegenstand? Wie wird sich der Klimawandel auf den Bayerischen Wald auswirken? Wie sicher ist unsere Rente? Im Rahmen der Serie „Generation Y: Was bringt die Zukunft?“ soll das Thema „Zukunft“ aus verschiedensten Blickwinkeln betrachtet werden, sollen Akteure und Betroffene zu Wort kommen, Standpunkte und Meinungen analysiert werden. Gerne auch mit Deinem Beitrag!