Wien. Die Klimauhr tickt. Und tickt, unaufhörlich. Und eine Frage hört man dieser Tage immer wieder: Ist es fünf vor zwölf – oder bereits fünf nach? 780 Seiten, verfasst von 91 Forscherinnen und Forschern aus 40 Ländern, haben die Antwort: Es ist eins vor zwölf! Es braucht eine deutlich ambitioniertere Umweltpolitik als bisher, weit weniger Emissionen als bisher – aber es ist noch nicht zu spät! Aus dem unlängst veröffentlichten IPPC-Sonderbericht, eine Zusammenfassung von mehr als 6.000 wissenschaftlichen Studien, geht eindeutig hervor: Die nächsten zehn bis 20 Jahre werden für das Überleben unseres Planeten entscheidend sein.
„Am 12. Dezember 2015 wurde in Paris Geschichte geschrieben“, heißt es auf der Seite des Bundesministeriums für Umwelt. Eine Geschichte, die wohl nicht ganz der Wahrheit entsprach. Denn das beim 21. internationalen UN-Klimagipfel, der „COP 21“ [3], verabschiedete – und viel umjubelte – Zwei-Grad-Ziel liefert weit weniger Anlass zum Jubel als bisher angenommen. Der am 8. Oktober 2018 in Südkorea vorgestellte IPCC-Sonderbericht zeigt deutlich: Die Folgen für Mensch und Umwelt bei einem Temperaturanstieg um nur 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter[1] sind weit weniger gravierend als bei einem Anstieg um zwei Grad. Ein halbes Grad mehr oder weniger, das klingt wenig, bedeutet aber sehr, sehr viel – für viele Menschen: alles.
820 Milliarden Dollar für den Klimaschutz
Konkret heißt das: Steigt die Temperatur bis zum Ende des Jahrhunderts nur um 1,5 Grad an, fällt das Risiko für Starkniederschläge, Überschwemmungen oder Dürren deutlich geringer aus. Die afrikanische Sahelzone beispielsweise, derzeit Lebensraum für rund 30 Millionen Menschen, droht schon jetzt wegen extremer Trockenheit und Dürre unbewohnbar zu werden. Der Anstieg des Meeresspiegels könnte global um 0,1 Meter begrenzt werden – oder anders ausgedrückt: Bis zu 40 Millionen Menschen in küstennahen Regionen könnten ihre Heimat behalten.
Das Klimaabkommen von Paris sieht einen weltweiten CO2-Ausstoß von 52 bis 58 Gigatonnen pro Jahr vor. Auf diesem Kurs jedoch sei ein Plus von 1,5 Grad bereits zwischen dem Jahr 2030 und 2052 erreicht, erklärt Keywan Riahi, einer von 91 Autoren des IPCC-Sonderberichts. Der neue Bericht sieht eine Reduktion auf nur 25 bis 30 Gigatonnen CO2 pro Jahr vor – „innerhalb der nächsten zehn bis 20 Jahre“, fordert Riahi. Bis 2050 müssten die CO2-Nettoemissionen [2] dann auf null sinken (Grafik siehe hier).
Und selbst dann müsse in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts CO2 aus der Atmosphäre entnommen werden, um den sogenannten „Overshoot“ zu bereinigen. Das klingt deutlich ambitionierter als bisher – dies sei aber möglich, wie Riahi bei der Präsentation des Berichts in Wien jüngst klarstellte. Hierfür benötig es Investitionen von rund 820 Milliarden Dollar. Das klingt viel, macht aber gerade einmal 0,8 Prozent des Welt-BIPs aus. Angesichts dessen, was auf dem Spiel steht: Peanuts.
Schon heute ist es um 1,0 Grad wärmer
Zwei Fragen sind in Sachen Klimaschutz entscheidend, erklärt Reinhard Mechler, der ebenfalls am Sonderbericht federführend beteiligt war: „Wie – und warum?“ Bis 1980 wurde bisher ein globaler Temperaturanstieg von 0,4 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter verzeichnet.
Um das Jahr 1998 waren es bereits 0,6 Grad. Und heute sind es plus 1,0 Grad. Bereits jetzt weiß man: Ein weiterer Anstieg in dieser Geschwindigkeit hat enorme Auswirkungen auf Mensch und Umwelt. Das reicht vom massiven „Artenverlust und -aussterben“ über „Anstiege des Säuregehalts und Abnahme des Sauerstoffgehalts im Ozean“ bis hin zur Gefährdung „menschlicher Gesundheit, Existenzgrundlagen, Nahrungs- und Wasserversorgung, menschlicher Sicherheit und Wirtschaftswachstum“, wie es im Bericht heißt.
All diese im IPCC-Sonderbericht aufgeführten Risiken wird der Menschheit auch bei einem Anstieg um 1,5 Grad nicht erspart bleiben – jedoch in weit geringerem Ausmaß. Und: Je geringer der weltweite Temperaturanstieg, desto größer die „Auswahl an Anpassungsmöglichkeiten, welche die Risiken des Klimawandels verringern können“. Das heißt: Je ambitionierter und schneller wir bereits heute an die Sache herangehen, desto mehr Handlungsspielraum bleibt gegen Ende des Jahrhunderts.
Entscheidung im Dezember
Was es hierfür braucht, sind „schnelle und weitreichende Systemübergänge in Energie-, Land-, Stadt- und Infrastruktur […] sowie in Industriesystemen“. Und zwar „beispiellos bezüglich ihres Ausmaßes“, wie die Autoren im Sonderbericht deutlich hervorheben. Komme es nicht zu dieser „unverzüglichen und radikalen Senkung der globalen Emissionen“, sondern behalte man das derzeitige Emissionsniveau bei, drohe gar ein Anstieg um bis zu vier Grad – mit unabsehbaren Folgen.
Das Faszinierende an diesem Bericht ist nicht nur sein Umfang und die beeindruckende wissenschaftliche Sorgfalt, mit der das 780 Seiten starke Werk verfasst wurde (im Verlaufe von zwei Jahren wurde es 1.113 Reviewprozessen unterzogen), sondern vor allem die darin enthaltenen Handlungsanleitungen. Der Bericht zeigt detailliert auf, was in welchen Sektoren bis zu welchem Zeitpunkt erledigt werden muss, um den Planeten Erde vor dem Kollaps zu bewahren. Die Umsetzung obliegt der Politik. Im Dezember findet die UN-Klimakonferenz im polnischen Katowice statt. Dann wird sich zeigen wie politische Entscheidungsträger mit diesen neuen Erkenntnissen umgehen.
Johannes Gress
Hintergrund unserer Serie:
„Unsicherheit“ ist das Schlagwort unserer Generation. Wie umgehen mit den zahlreichen Herausforderungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft? Unsere Welt ist im Wandel begriffen, dreht sich immer schneller. Wir möchten wissen: Wie damit umgehen? Dabei sollen nicht nur unsere Leserinnen und Leser zu Wort kommen, sondern auch Experten, Wissenschaftler, Politiker und Ökonomen. Was sagt eigentlich ein Zukunftsforscher über seinen Forschungsgegenstand? Wie wird sich der Klimawandel auf den Bayerischen Wald auswirken? Wie sicher ist unsere Rente? Im Rahmen der Serie „Generation Y: Was bringt die Zukunft?“ soll das Thema „Zukunft“ aus verschiedensten Blickwinkeln betrachtet werden, sollen Akteure und Betroffene zu Wort kommen, Standpunkte und Meinungen analysiert werden. Gerne auch mit Deinem Beitrag!