Trump tönt „America first“. Hierzulande schreien derzeit sämtliche Plakate so mancher Parteien „Bayern first“. Und sei es auf der Straße, beim Einkaufen oder auf dem Spielplatz – auch hier gilt das ungeschriebene Gesetz: „Ich first“. Der Anspruch, sich durchzusetzen, wenn nötig auch mit spitzen Ellbogen, scheint gewachsen zu sein. Das Individuum ist zum Ego-Schwein mutiert, so der Eindruck. Wie konnte das passieren? Und: Stimmt das überhaupt so? Soziologischer Feldzug in Form eines Stream-of-Consciousness.
Nun – wie konnte das passieren? Um es gleich vorweg zu sagen: Es ist nichts Neues, nein, im Gegenteil. Es ist was ganz Altes – und ja, es hat was mit unserem Wirtschaftssystem zu tun. Und es erinnert gleichzeitig an kindheitliche Strukturen: Der Angestellte arbeitet nach den Regeln seiner Chefs, wird mit einem Lohn „entschädigt“ – und darf sich davon kaufen, was er will. Das Kind benimmt sich nach den Regeln der Erwachsenen, ist „brav“ – und bekommt eine Belohnung in Form von Schokolade oder Fernsehen.
Nicht, dass wir das nicht schon längst geahnt hätten
Am Ende steht der Konsum, ein Besitz, ein Wert für all die Mühen – ein Wert, der das Leben erträglich macht. Etwas, das es zu verteidigen gilt, das man nicht teilen mag. Etwas mit Definitionskraft: Ich habe etwas, also bin ich etwas. Ich habe brav meine Leistung vollbracht und habe meinen Lohn dafür bekommen. Ich bin etwas wert – meinen Arbeitgebern, meinen Eltern, der Gesellschaft, in der ich so meinen Platz gefunden habe.
Auf all diese Generationen prägende Konditionierung folgen nun Gegentrends, die allesamt besagen, dass all die Dinge nicht glücklich machen. Nicht, dass wir das nicht schon längst geahnt hätten – denn: Sind wir glücklich in einer Gesellschaft, deren materielle Grundbedürfnisse derartig befriedigt sind wie an kaum einem anderen Ort des Planeten? Wie kann es sein, dass die Zahl der Menschen mit psychischen Problemen so hoch ist – wie an kaum einem anderen Ort des Planeten? Und was soll das eigentlich, dieses Glücksstreben? Das ewige „Be happy“, „Smile“, „Der Sinn des Lebens ist das Glück“. Du musst glücklich sein?
Nein, muss ich nicht. In erster Linie muss ich lebendig sein. Und das Leben besteht weder aus pastellfarbenen Wattebällchen noch aus faltenfreiem Dauergrinsen. Womit wir beim nächsten Thema wären: beim bereits beschriebenen Selbstoptimierungswahn. Da gehen noch zwei Gramm runter, da könnte ich noch drei, vier Zertifikate erhaschen, da könnte ich noch fünf, sechs Freunde gebrauchen (und wenn ich sie einfach nur auf dem „Social“-Media-Kanal „ädde“ – na und? Gilt schon!). Und dann muss ich noch schauen, was genau meinen Bedürfnissen entspricht und am Ende weiß ich gar nicht mehr, wer ich eigentlich bin und geh doch lieber shoppen/(fr)essen/fahr zum dritten Mal in diesem Jahr in den Urlaub und überlege, mir einen Pool neben das Trampolin in den Garten zu pflanzen.
Ich bin nämlich nicht das, was ich von mir erwarte
Es fällt wahrlich schwer, den Überblick zu behalten. Denn da ist das Leben, das sich aus den immer selben Komponenten zusammensetzt – Arbeit, Liebe, Familie (doch, doch, die Reihenfolge ist schon richtig), vielleicht noch Freizeit und Seelenheil. Und es gibt Einemillionsiebzehnneunzigbilliarden Möglichkeiten all das so zu gestalten, wie ich mir das vorstelle. Ich ganz allein! Und am Ende werde ich nie wissen, ob ich mich richtig entschieden habe und – entscheide mich lieber fünfhundertdrölfundzwanzig mal um. Könnte ja sein, dass ich dann richtig liege.
Das ist wie beim Computer-Spielen – einmal noch, dann schaffe ich bestimmt das nächste Level. Oder wie beim Schwammerlsuchen – einmal noch um den nächsten Baum schauen und dann steht er dann da, der kapitale Steinpilz. Und von dieser ganzen Optimiererei und dem ganzen ablenkenden Oberwahnsinn verliere ich völlig den Überblick – aber auch den Blick, der mich trifft, wenn ich in den Spiegel gucke. Den Blick auf mich und den Blick auf die Menschen, die mich umgeben. Ich bin nämlich nicht das, was ich von mir erwarte – und die Menschen um mich herum sind es auch nicht: perfekt. Keine perfekten Körper und Seelen, keine perfekten Leben. Schon klar, geht doch auch gar nicht? Wirklich?
Weit weg von mir selbst und von all den anderen Menschen, getrieben von Zeitnot, Pflichterfüllung – für ein monatliches Gehalt und ein bisschen Freizeit, so hangelt sich der Mensch durchs Leben und ist doch irgendwann tot. Achtsamkeit? Selbstbestimmtheit? Innere Mitte? Das Kind in Dir? Begriffe, die einen in der Buchhandlung unter der immer noch gern verwendeten, etwas staubig klingenden Rubrik „Lebenshilfe“ anspringen. Denn ob diese Konstrukte eine Hilfe sind, lässt sich so nicht sagen. Sie sprechen vor allem unsere inneren Sehnsüchte an und sind damit einmal mehr ein schlagendes Verkaufsargument. Denn ja, klar, das Kind in mir will Heimat finden. Nur wo auf diesem Planeten, in diesem Leben, wenn ich mich so allein fühle unter lauter Wahnsinnigen, mich so mitgerissen fühle und ich es einfach immer wieder nicht schaffe, diese gesellschaftlichen Muster zu durchbrechen?
Und wenn sie miteinander reden, sagen sie… nichts
Und dann brechen sie über mich herein, die vielen Dinge: Der Hambacher Forst, die irrsinnigen Auswüchse der Politik, all das, was mir aus den Arbeitswelten, aus den Krankenhauswelten, aus den Stammtischwelten zu Ohren kommt – und mich packt das blanke Entsetzen über mein Umfeld, in dem jeder Bauch und jedes Haus voll ist bis zum Enddarm und bis zur letzten Kellerecke. Und die Stimmen bauschen sich auf und schwellen an zu einem unerträglichen Crescendo:
„Alles unsers, lasst es Euch nicht wegnehmen von denen da!“ – „Wir mussten das Kind in die Krippe geben, schließlich haben wir ein Haus gebaut und müssen mindestens zweimal in den Urlaub fahren!“ – „Hast Du schon gesehen, im neuen Aldi-Prospekt gibt es dreiviertellange Lederhosen mit Einhornstickerei und integriertem USB-Anschluss?“ – „Mei, der Meier Hansi liegt im Krankenhaus, alles haben’s ihm rausgenommen, furchtbar.“ – „Ich müsste dringend mal wieder Fenster putzen!“ – „Nach vorn schauen, nach vorn schauen, sag ich immer!“ – „Ja, die Müllers haben jetzt nur noch ein Auto. Kostet halt Geld und wenn man’s nicht hat, was will man machen?“ – „Hast Du den gesehen, wie komisch der geschaut hat!“ – „Gell, die Huber Gisela hat diese Depressionen. Ganz schlimm!“ -„„Also ich weiß, was ich wählen werde – aber das darfst ja heut nimmer laut sagen!“
Und so reden sie übereinander und hintereinander und nur nicht miteinander. Und wenn sie miteinander reden, sagen sie… nichts. Schönes Wetter, tolles Jahr, Sommer seit April, aber viel zu trocken, wohin mit all dem Obst, hahahahaha. Und sie misstrauen dem, dem noch mehr Äpfel im Keller verfaulen. Apfelmumien nennt man übrigens die Früchte, die schrumplig bis zur Unkenntlichkeit herumliegen. Mumien im Keller. Ich hupe, ich remple, ich quetsche mich an der Kasse noch schnell vor, ich spare das Trinkgeld, ich zeige es denen da oben, ich ergattere Schnäppchen, mähe wöchentlich den Vorgarten – was sollen denn die Nachbarn denken? Ich drohe mit Fernsehverbot und Liebesentzug, nehme fleißig meine Pillen und gönne mir manchmal richtig was: Das Stückchen Kuchen vom Bäcker zum Nachmittagskaffee!
Dass es dem Hinterdobler Beppi von nebenan richtig schlecht geht?
Ich schaue vorzugsweise in eckige Kästen: Smartphone, Laptop, Fernseher – hin und wieder auch in den Backofen oder die Mikrowelle, ziemlich oft aus dem Fenster, wo das Leben stillsteht oder vorbeirauscht, je nach dem. Ich schaue selten in runde Dinger, Augen nennt man die Luken im Kopf, glaube ich. Denn was würde ich erblicken? Dass es dem Hinterdobler Beppi von nebenan richtig schlecht geht? Will ich nicht sehen – und was könnte ich schon dagegen ausrichten? Dass die Pupillen vom Typen im Café groß werden, weil er mich vielleicht gut findet? Aber seine Haare werden am Hinterkopf schon spärlich und seine Hände sind ein wenig zu klein, das ist indiskutabel für einen Lebensabschnittsgesellen. Dass in meinem Hund so unergründliche Tiefen sind, wenn er mich ansieht? So viel Direktheit ertrage ich nicht, weil ich mich dann klein und schäbig und ertappt fühle.
Ertappt, dass das Leben, das ich führe, nicht die ganze Wahrheit ist. Denn vor der laufe ich davon und es ist auch ganz einfach. Da tu ich lieber so, als ob ich ganz brav sei und bekomme meine Schokolade und mein Geld und damit kann ich machen, was ich will! Mir sofort die ganze Tafel quer in den Mund schieben oder mir Zeugs kaufen – aber alles ist meins, meins, meins. Aber… es ist auch mein Leben. Mein Leben. Es gehört mir und irgendwann bin ich tot und die anderen sind tot und dazwischen liegt nur noch ein ungewisses Stück Zeit und vielleicht sollte ich noch so vieles tun und sagen, weil wir doch dieses Schicksal teilen, weil wir doch unseren Kindern eine bessere Welt vorleben möchten, weil… Ich bin plötzlich schrecklich müde.
Eva Hörhammer
Ja, ja, ja – ruf ich dazu und fühl mich betroffen und getroffen.
Es ist so schwer, zu widerstehen. Oft ist alles zuviel – zu viele Dinge, zu viele Infos, zu viel zu sehen und alles viel zu laut! Da hilft nur noch – auf eine Wiese legen und in den Himmel schauen. Ich find aber keine Wiese und am Himmel wimmelt es von Fliegern. Also doch lieber in den Wald gehen?
Ja – ich bin auch plötzlich so müd.
Liebe Eva, das ist ein toller Text.
Ehrlich. Ich rede gern mit Menschen, mit vielen. Immer. Überall. Mein Sohn hat mal zu mir gesagt: „Mit dir kann man nirgends hingehen, du quatschst ja jeden an, das ist so peinlich.-“ Ist mir aber wurscht, ob das peinlich ist“, hab ich gesagt. Dann war Ruhe. Mein Sohn ist ein Mensch ohne Schokoladenbelohnung und er arbeitet als Manager Teilzeit bei der Österreichischen Post. Es ist noch nicht Alles zu spät. Es gibt soviel zu entdecken und nichts zu bereuen, auch wenn man die Rasen nicht wöchentlich mäht, bei mir mähen die Schafe. Schafe suchen das Glück nicht, sie kennen es.
Ihr das draußen, ihr Jungen, Alten, Lieben, Bösen, Liebende, Hassende…redet, redet!
Hallo Eva,
deine Müdigkeit … so unmissverständlich und klar, so bekannt und beinahe einladend, so beklemmend und niederschmetternd …
BLEIB genau so WACH und ungebrochen, halte fest an dem, das jede(r) loszulassen lernen muss (… oder ist das ein DARF?) …
Scheib es hinaus in die Welt … du findest Gehör.
Und auch bei mir hast du’s schon gefunden. … ich danke dir dafür.
Peter