„Hallo an alle egoistischen, unfreundlichen und nicht hilfsbereiten Menschen da draußen!!“, machte eine Hog’n-Leserin unlängst ihrem Unmut öffentlich Luft. Sie war mit ihrem Auto im Schnee stecken geblieben; zwar fuhren Dutzende anderer Fahrzeuge an ihr vorbei, helfen wollte ihr jedoch niemand. „Was ist das heute für eine Gesellschaft??“, fragte sie sich enttäuscht, ja entrüstet. Der mehrheitliche Tenor der Diskussionsteilnehmer unter dem dazugehörigen Facebook-Eintrag: Diese Gesellschaft werde zunehmend egoistischer! In der Hog’n-Redaktion haben wir uns gefragt: Stimmt diese These? Wird unsere Gesellschaft tatsächlich immer selbstsüchtiger, immer egozentrischer? Und falls ja: Wie ließe sich das feststellen?
Die Popularität von derlei „Früher-war-alles-besser“-Aussagen rührt bekanntlich daher, dass sich deren Wahrheitsgehalt nur schwer an der Wirklichkeit überprüfen – und somit nur schwer widerlegen lässt. Das gilt auch für die These, unsere Gesellschaft entwickele sich sukzessive zu einem Konglomerat von Egomanen. Eine Skala zur Messbarkeit von Egoismus muss erst noch er- bzw. gefunden werden. Dennoch lassen sich Entwicklungen ausmachen, die in eine gewisse Richtung deuten.
Sei besonders! Immer.
Da ist zum einen das Dogma „Sei besonders! Setz Dich durch!“, das die heutige Generation quasi von der Wiege bis zur Bahre begleitet. Die erste Fremdsprache wird demnach bereits im Vorschulalter erlernt, die Ellbogen werden zum wichtigsten Instrument sozialer Interaktion. Nur wer es versteht, sich von Schul- oder Arbeitskolleginnen abzusetzen, hat die Aussicht auf Erfolg – und soziale Anerkennung.
Betitelt wird ein solches Verhalten selten als „Egoismus“, sondern häufiger mit Begriffen wie „Ehrgeiz“ oder „Zielstrebigkeit“. „Etwas aus seinem Leben machen“, heißt vor allem, „etwas aus seinem Leben machen“ – alles ringsherum stört da nur. Dem zu Grunde liegt der Irrglaube: Wenn nur jeder möglichst auf sich selbst schaut, geht es auch einer Gesellschaft als Ganzes stetig besser. Eine Gesellschaft ist demnach die Summe ihrer Individuen. Jeder und jede für sich. Arbeitslose oder sozial Benachteiligte sind dieser Logik folgend eben selbst schuld an ihrer Misere, haben sich eben nicht stark genug angestrengt. Dass es bei jedem Wettlauf immer auch einen Letzten geben muss, wird dabei ausgeblendet.
Das „Ich“ im Mittelpunkt
Die Entwicklung hin zur Selbstsucht lässt sich zumindest teilweise in Zahlen veranschaulichen. Eine Studie der US-amerikanischen Literatur zeigt: Im Jahr 2008 taucht das Wort „Wir“ um zehn Prozent weniger auf als 1960 – während das Wort „Ich“ 42 Prozent häufiger vorkommt. Und natürlich befeuern die zur Selbstvermarktungsmaschinerie verkommenen so genannten Soziale Medien individualistische Tendenzen. Folgerichtig sind heute knapp 70 Prozent der angefertigten Fotos Selfies.
Auch eine zweite Tendenz lässt darauf schließen, dass die These vom fortschreitenden Egomanentum durchaus seine Richtigkeit hat: das kollektive Gefühl der Verunsicherung. Die Globalisierung und die Beschleunigung unserer Lebens- und Arbeitswelt tragen maßgeblich zu dieser Verunsicherung bei. Jobs werden prekärer, die Anforderungen an das Selbst höher, soziale Sicherungsnetze seit Jahrzehnten abgebaut, Staatsausgaben gekürzt. Individuelle Verantwortung bedeute individuelle Freiheit, so die vermeintliche, sich dahinter verbergende Glücksformel.
Das Gemeinschaftliche, das Wir, das füreinander Einstehen scheint immer weniger von Wert zu sein. Wer berechtigten Anspruch auf staatliche Hilfe stellt, wird heute schnell mal der „sozialen Hängematte“ bezichtigt, steht schnell mal im Verdacht auf Staatskosten zu „hartzen“. Natürlich macht es etwas mit einer Gesellschaft, wenn der andere stets nur als Konkurrent und jede Form der Kooperation als unproduktiv gilt. Wenig verwunderlich ist daher auch das Ergebnis der ZEIT-Vermächtnisstudie 2019, die zu diesem Thema mehr als 2.000 Bundesbürger befragte: 85 Prozent der Deutschen sehnen sich nach einem stärker ausgeprägten Wir-Gefühl. Wer verunsichert ist, womöglich sogar Angst hat, handelt weniger solidarisch gegenüber anderen.
Je reicher ein Land, desto individualistischer
Einen der wenigen Versuche, den vermeintlichen Hang zum Egoismus wissenschaftlich zu belegen, unternahm der Psychologe Henri Santos von der University of Waterloo in Kanada. Auch wenn solche Studien durchaus mit Vorsicht zu genießen sind, konnte Santos sehr eindrucksvoll „Global Increases in Individualism“, also einen globalen Anstieg individualistischen Handelns, feststellen. Dazu sammelte er Daten aus knapp 80 Ländern über einen Zeitraum von 50 Jahren. Bis auf wenige Ausnahmen, so das Ergebnis der Studie, tendieren die Menschen aller untersuchten Länder zu mehr Individualismus. Das Interessante dabei: Je reicher ein Land, desto unattraktiver scheint kollektives Handeln zu sein.
Der größte Faktor sei also die sozio-ökonomische Entwicklung eines Landes, betont Santos. Und fügt sogleich ein Aber an. Denn für jenes Land, das in den vergangenen Jahrzehnten den rasantesten wirtschaftlichen Aufstieg hinlegte, trifft seine These nicht zu: China. Niemals zuvor konnte ein Land den eigenen wirtschaftlichen Wohlstand so dermaßen schnell steigern wie das so genannte Reich der Mitte. Dennoch ist es eines der wenigen Länder, in denen individuelle Wertvorstellungen sogar gesunken sind…
Johannes Greß
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