Eine Mauer, ein Zaun, Stacheldraht und Grenzsoldaten. Als Reaktion auf die dringlichsten Fragen unserer Zeit ist dies das Repertoire an Lösungen, das wir derzeit von den Herrschern und Regierungschefs dieser Welt offeriert bekommen. Abschottung, Nationalismus und Isolation. In einer Welt, in der Millionen Menschen vor Hunger, Verfolgung und Krieg, aus blanker Not und elender Perspektivlosigkeit fliehen, ein Wirtschaftssystem unaufhörlich neue Widersprüche produziert, sind offenbar die einzig logisch-konsequenten Antworten Herren wie Donald Trump oder Brasiliens neuer Leader Jair Bolsonaro – mitsamt ihrer menschenverachtenden Politik. Doch sind sie mehr Symptom als Ursache. Ein Kommentar.
Schätzungen gehen von bis zu 7.000 Menschen aus, die dieser Tage aus Zentralamerika Richtung US-amerikanische Grenze marschieren. Bis zu 50 Kilometer pro Tag legt die sogenannte Migranten-Karawane zurück. Darunter Frauen, Kinder, Alte und Kranke. Weg, nur weg! Vor Armut und Arbeitslosigkeit, Hunger und Verfolgung, Korruption und vor den sogenannten Maras, kriminellen Jugendbanden. Ihr Ziel lautet: eine Zukunft. Ein Leben in Würde. Dafür lassen sie zu Hause alles zurück – auch die eigenen Kinder -, machen sich auf in die USA. Ihre Hoffnung ist es, nach mehreren tausend Kilometern Fußmarsch einmal quer durch Mexiko eine solche Zukunft zu finden.
Eine Welt, die all‘ jene zu Kriminellen erklärt, die etwas vom Wohlstandskuchen abbekommen möchten
Eine Zukunft, wie erhofft, wird sie an der amerikanischen Grenze vorerst nicht erwarten; dafür mehr als 10.000 Soldaten. Und ein paar Grenzzäune. Demnächst wohl auch eine Mauer. Das alles wissen die Mitglieder der Karawane zwar – aufhalten lassen sie sich vorerst dennoch nicht. Der honduranische Präsident Juan Orlando Hernández erklärt: „Guatemala, Honduras, El Salvador, Mexiko und die USA sollten mit Hochdruck gegen die Verantwortlichen ermitteln und die volle Härte des Gesetzes gegen jene anwenden, die diese Wanderungen mit politischen oder kriminellen Zielen organisieren und fördern.“
Und derweil lechzen sie. Ausgezerrt von der Hitze. Hungernd und durstend. Mit Blasen und Wunden.
Die Migranten-Karawane ist ein tragisches Abbild, ein grausames Symbol für eine Welt, die in Widersprüchen gefangen ist, aus denen es keinen Ausweg gibt. Diese Welt produziert unfassbaren Reichtum – auf Kosten unfassbaren Leids. Eine Welt, die all‘ jene zu Kriminellen erklärt, die etwas vom Wohlstandskuchen abbekommen möchten. Als Asylsuchender oder als subsidiär Schutzberechtigter. Und seien es nur ein paar Krümel. Doch um die Maschinerie am Laufen zu halten, werden aus Asylsuchenden und Flüchtenden „Illegale Migranten“ und „Asyltouristen“. Aus einer Flüchtlingskarawane wird eine „Invasion“, ein „Angriff“. Diese Art der Verklärung, der Verunmenschlichung, ist eine Notwendigkeit in einer Welt, in der Moral durch Zeichen, Ziffern und Rationalität ersetzt wurde.
Wer keine Zukunft hat, hat nicht nur keine Zukunft, sondern auch ein Problem mit dem Gesetz
So wie Obdachlose aus den feinen Gegenden der Metropolen ferngehalten werden – das schimmernde Stadtbild soll schließlich nicht durch offen zur Schau getragene Armut verschandelt werden -, so werden die Zukunftslosen aus den feinen Gegenden dieser globalisierten Welt ferngehalten. Mit Stacheldraht und Grenzpolizisten. Mit Frontex und Abschiebehaft. Wer keine Zukunft hat, hat nicht nur keine Zukunft, sondern auch ein Problem mit dem Gesetz.
Ein 26-jähriger Honduraner stirbt, getroffen vom Gummigeschoss eines mexikanischen Polizisten. Zehn Personen werden verletzt.
Diese Welt produziert Abermillionen von Nutzlosen, Ausgestoßenen und Unbrauchbaren. Jene, die für den globalen Kapitalverwertungsprozess keine Rolle spielen, sozusagen wertlos sind. Die mit etwas Glück für zum Hungerlohn den westlichen Markt schuften dürfen – und die ansonsten bitte nicht weiter stören sollten. Lasst euer Leben am mexikanischen Grenzzaun, vor der libyschen Küste, lasst euch von Sweatshop-Dächern begraben, von Düngemitteln vergiften oder verdurstet unseretwegen zu Hause – aber don’t touch me!
Wer die Hölle auf Erden erlebt, der hat auch keine Angst vor dem Tod
Die Chancen, dass die Mitglieder der Karawane jemals in die USA gelangen werden, sind denkbar gering. Dass sie als US-amerikanische Staatsbürger anerkannt werden, Arbeit finden, Sozialleistungen beziehen und einmal ein wohlstandsbeseeltes Leben führen werden können – egal! Diese Menschen marschieren – unaufhaltsam – gegen jede Widrigkeit, alleinig getrieben von purer Verzweiflung und Ausweglosigkeit. Auf der Flucht vor dem Grauen und der Gewalt, die ihren Alltag bestimmen. Auf der Flucht vor gewalttätigen Drogenkartellen – oder weil nach einem Hurrikan vom eigenen Heim nichts mehr übrig ist. Wer nichts zu verlieren hat, der hat eine Welt zu gewinnen! Und wer die Hölle auf Erden erlebt, der hat auch keine Angst vor dem Tod.
Bei Auseinandersetzungen erstickt ein Mädchen im Tränengasnebel. Eine Frau wird nachts von einem Auto erfasst und tödlich verletzt.
Was ist das nur für eine Welt, in der Millionen Menschen ihr Hab und Gut, Familie und Freunde zurücklassen, in Zentralamerika wie in Afrika, in Asien, im europäischen Süden wie im europäischen Osten, in der Hoffnung auf – einen Ausweg? Da ist von gleichen und freien Menschen, von Würde die Rede. Herbeigezaubert von der Hand, die Wachstum auf magische Art und Weise in Wohlstand verwandeln soll. Wohlstand. In einer Welt, die bald keine Luft mehr zum Atmen bietet und sich die eigenen ökologischen Grundlagen – zu Wohlstandszwecken – unter dem eigenen Allerwertesten wegschürft. Die täglich 800 Millionen Menschen hungern lässt und – zu Wohlstandszwecken – Lebensmittel verbrennt, ins Meer schiebt oder einfach so verrotten lässt.
Wenn sich die Gleichung „Wachstum = Wohlstand“ offensichtlich nicht bewahrheitet, dann sollten wir damit aufhören Wachstum zum Selbstzweck zu erklären. Wir zerstören unser Hier und Jetzt, unsere Gegenwart wie unsere Zukunft, basierend auf einer Illusion, auf einer menschenverachtenden Ideologie, die uns weißmachen will, dass es uns irgendwann einmal allen besser gehen wird – wenn der wirtschaftliche Output nur groß genug ist. Wir zerstören und töten, löschen aus und vernichten, führen Kriege und werfen Bomben, kreieren Chaos und Verzweiflung – und verfolgen damit einen Traum, der nur in einer Tragödie enden kann.
Was uns Menschen ausmacht, hat in dieser allzu menschlichen Welt keinen Platz
Möglicherweise hatten wir einst Freiheit im Sinn, Emanzipation und Fortschritt – und nicht zuletzt: Wohlstand -, als wir diese wachstumsgetriebene Maschinerie in Gang setzten. Doch daraus hervorgegangen ist eine Diktatur ohne Gesicht, eine Diktatur, gegen die auch die stärksten demokratischen Institutionen nicht standhalten. Die nicht fassbar und nicht begreifbar ist, die nur in Form von Karawanen, Flüchtlingen und Zerstörung in Erscheinung tritt. Die sich nur in Nummern und Symbolen ausdrückt, in Algorithmen, Zeichen und binären Logiken – und das ganze „Rationalität“ tauft. Die keinen Platz bietet für Empathie oder gar Moral, Gefühle oder Solidarität.
Das, was uns Menschen ausmacht, hat hier, in dieser allzu menschlichen Welt, keinen Platz. An die Stelle des Menschlichen ist die reine, die pure, indifferente Abstraktion gerückt. Und in dieser Geiselhaft, mit dieser Form der Rationalität als oberstem Prinzip, sind Trump und Bolsonaro, Erdogan und Strache keine Unmenschen, sondern die letztverbliebenen Retter des Bestehenden – die einzig möglichen Verfechter der Abstraktion.
Eine Frau, im sechsten Monat schwanger, legt sich auf einem Pappkarton zu Bett. Neben ihr ihre zwei Töchter.
Und genau das, diese monströse Logik, die in Rationalität verpackte und zur Institution verkommene Unmenschlichkeit, die wir uns selbst kaum zu erklären in der Lage sind, verbreiten wir – wie besessen – an Schulen und Universitäten, in Kirchen und Vereinen, in Zeitungen und Fernsehshows. Wie besessen, wie getrieben, zur Verachtung von all‘ jenem, das keinen Wert hat, ein unproduktives Dasein fristet.
Menschen – ja immer noch(!) – laufen barfuß, mit den Kindern auf dem Arm, quer durch einen halben Kontinent, um etwas zu erreichen – irgendwas, aber nur nicht das, was sie bisher hatten. Sie besteigen Boote und verstecken sich in Güterzügen, überqueren Zäune, graben Tunnel. Um irgendetwas zu erreichen. Wenn das Leben die Hölle ist, schreckt einen nichts und niemand ab – auch der Tod nicht. Wahrscheinlich hatte Mark Fisher Recht, als er einst behauptete, wir könnten uns eher das Ende der Welt vorstellen als das Ende des Kapitalismus. Für viele ist das Ende ohnehin schon erreicht.
Im Kampf gegen die Polizei, Menschenhändler und kriminellen Banden, gegen Hunger, Durst und Verzweiflung bleibt der Karawane nur eines: Sie selbst.
Johannes Gress