Wien. Mit einem stets prall gefüllten Newsfeed ist die heutige Generation scheinbar derart gut über politische Geschehnisse informiert wie nie zuvor – immer up to date sozusagen. Facebook, Twitter und andere sogenannte soziale Medien bieten Menschen quer über den Globus die Möglichkeit – und das in viel größerem Ausmaß als je zuvor – miteinander zu kommunizieren und miteinander zu diskutieren, sich zu informieren und sich zu organisieren. Nicht zuletzt der Arabische Frühling hat gezeigt, welch großartiges Potenzial diese Netzwerke in sich bergen. Auch die Politik hat verstanden diese Instrumente für sich zu nutzen. Facebook und Co. helfen uns dabei, unsere eigene Scheinrealität zu entwerfen – und erschweren damit den so dringend nötigen Dialog zweier sich zunehmend polarisierender politischer Lager.
Im Januar 2013 konstatierte der Twitter-Hashtag #aufschrei den Beginn einer neuen Sexismus-Debatte. Anlass waren mehrere frauenfeindliche Äußerungen seitens des deutschen Bundestagsabgeordneten Rainer Brüderle. Tausendfach geteilt fand das Thema schnell den Weg in die Medien, dominierte die Titelblätter gängiger Printmedien und okkupierte einschlägige Talkshows. Spätestens als die New York Times dem #aufschrei seine Aufmerksamkeit widmete, hatte die Aktion auch international großen Anklang gefunden. Im Juni desselben Jahres wurde der Hashtag mit dem Grimme Online Award in der Kategorie „Spezial“ ausgezeichnet.
Likes, Followers oder Shares als führende Qualitätsmerkmale
Dennoch bringen soziale Medien nicht nur Positives in den politischen und medialen Diskurs. Diese Medienform – für jeden frei zugänglich – offeriert jeder Person die Möglichkeit, seine oder ihre Meinung öffentlich kund zu tun, Dinge an den Pranger zu stellen oder in ein positives Licht zu rücken. Und genau hier liegt auch die Gefahr, welche diese Kommunikationsform in sich trägt: Nur weil einer Vielzahl von Personen die Möglichkeit gegeben wird, sich „öffentlich“ zu äußern, sagt das noch wenig bis gar nichts über die Qualität der Diskussion aus. Führende Qualitätsmerkmale in der Social-Media-Debatte sind leider immer noch Likes, Followers oder Shares.
Die amerikanische Pop-Sängerin Taylor Swift, welche auf eine stolze Liste von 60 Millionen Twitter-Followern blicken kann, kritisierte im Juni 2015 mit einem Blogeintrag eine Klausel im Vertrag zu Apples neuem Streaming-Dienst „Apple Music“. Nur wenige Stunden später lenkte Apple ein, änderte die Vertragsklausel. Über die Qualität von Swifts Aussagen lassen sich daraus relativ wenig Schlüsse ziehen. So werden die meisten ihrer 60 Millionen Twitter-Fans Swift wohl ob ihres vermeintlichen Gesangstalents folgen – und die wenigsten ob ihres Scharfsinns, was Vertragsklauseln anbelangt.
Gehört wird, wer am lautesten schreit, nicht wer am schönsten singt
Dies birgt ein gewisses Risiko. In einer Welt, in der die Anzahl von Likes und Shares die gesellschaftliche Relevanz widerspiegelt, muss zwangsläufig etwas falsch laufen. Selbst internationale Medienriesen wie BBC oder CNN können von gewissen Reichweiten nur träumen – eine Nachrichtenshow zur besten Sendezeit hat bei Weitem nicht dieselbe Schlagkraft wie der Post eines Social-Media-Riesen à la Swift. Gehört wird, wer am lautesten schreit, nicht wer am schönsten singt.
Auch die Politik hat die sozialen Medien natürlich längst für sich entdeckt – und besonders Oppositionsparteien haben verstanden, von diesem Tool auch intensiv Gebrauch zu machen. Soziale Netzwerke bieten in der Politik vor allem die Möglichkeit, potenzielle Wähler mit „demographisch zielgerichteter Onlinewerbung“ anzusprechen.
Vorreiter in diesem Gebiet ist der US-amerikanische Präsident Barack Obama, der im Jahr 2008 erstmals soziale Medien aktiv in den Wahlkampf miteinbaute. Durch die Auswertung von sozialen Medien, Payback-Karten und staatlichen Registern versuchte Obama gezielt sein Wahlprogramm mit dem nötigen Inhalt zu füllen, um möglichst viele Wählerstimmen abzugreifen – mit Erfolg. Diese Strategie machte sich in der Politik als „Mikrotargeting“ einen Namen, war aber bis zu diesem Zeitpunkt vor allem aus der Wirtschaft und dem Produktmarketing bekannt.
Soziale Medien als Türöffner zur digitalen Basisdemokratie?
Politik nach den Regeln des Marketings ist aber auch in vielen europäischen Staaten bereits trauriger Bestandteil des Politikalltags. Immer mehr begibt man sich ins Feld der „empirischen Politik“, lässt zunächst auswerten, was gut ankommt – und legt dann sein Parteiprogramm entsprechend danach aus.
Dass Soziale Medien erheblich zur Entwicklung einer neuen politischen (Diskussions-) Kultur beitragen, ist evident. Weitaus interessanter ist die Frage, inwieweit diese Entwicklung auch positiv ist. Grundsätzlich öffnet diese Medienform die Tür zur politischen Teilhabe für jedermann, öffnet eine Tür zu einer Art digitalen Basisdemokratie. Trotzdem folgt aus dem Angebot nicht automatisch, dass diese Kanäle auch genutzt werden und – noch viel wichtiger – in welcher Art und Weise sie genutzt werden.
Nach einer Phase der Euphorie auf dem Höhepunkt des Arabischen Frühlings, in der man glaubte, soziale Medien öffnen Tür und Tor für Frieden, Freiheit und Gleichberechtigung für jeden der gut sieben Milliarden Bewohner dieser Erde, kehrt nun langsam aber sicher wieder etwas Ernüchterung ein. Wolfgang Merkel, Leiter der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin, geht einen Schritt weiter, warnt sogar vor negativen Auswirkungen der sozialen Medien auf die politische Partizipation. Seiner Meinung nach erzeuge dies nur den Schein einer Teilnahme und Einflussnahme, stehe aber „echter Partizipation“ in vielen Fällen im Wege. Man engagiert sich ja ohnehin schon – online.
Eine Welt ohne Gegenwind: die Filterblase
Weitaus gravierender sind die Auswirkungen eines Phänomens, das der amerikanische Autor Eli Pariser als „Filterblase“ bezeichnet – ein „persönliches Informationsuniversum“, das nur ganz bestimmte Informationen in die Blase hineinlässt – ohne, dass der Bewohner der Blase darüber entscheiden kann, welche Informationen dies genau sind.
Social-Media-Plattformen wie Facebook bedienen sich komplexer Algorithmen, um den sogenannten Newsfeed eines jeden Nutzers mit dem für ihn „relevanten“ Inhalt zu füllen. Facebooks EdgeRank-Algorithmus analysiert dabei das Verhalten eines jeden Users detailgenau. Angefangen vom Ort des Log-Ins über den abgerufenen Inhalt bis hin zu Likes, Shares, Kommentaren und Postings – der Algorithmus zeichnet so ziemlich alles auf, was datentechnisch verwertbar ist. Dabei wird auch penibelst genau darauf geachtet, ob ein bestimmter Inhalt nur für einige Sekunden überflogen wird oder tatsächlich von größerem Interesse für den Nutzer ist. Informationen über Websites, welche neben Facebook im Browser geöffnet werden, wie lange und wie häufig diese geöffnet werden, fließen in die Datensammlung mit ein. Alles in allem soll so aus über 100.000 (!) aufgezeichneten Faktoren ein möglichst detailgetreues Profil des Nutzers entstehen, um den Newsfeed nur noch gemäß seinen Präferenzen zu füttern.
Eli Parisers „TED-Talk“ über die Filterblase:
Bezogen auf die politische Situation im Land, welche mit Blick auf die Flüchtlingsfrage in zwei konträre Lager zu verfallen droht, hat das Phänomen der Filterblase weitreichende Konsequenzen. Die von Facebook oder anderen Plattformen verwendeten Algorithmen (das oben beschriebene Phänomen zieht genauso bei Google, Amazon und vergleichbaren Anbietern) bestärken die Spaltung in zwei politische Lager.
Soziale Medien befeuern politische Polarisierung
Jenes konservativere Lager, welches einen restriktiveren Zuzug nach Deutschland fordert, sich von vermeintlich kriminellen Zuwanderern verunsichert fühlt, wird der Logik des Algorithmus folgend mit ihrer Meinung entsprechenden Inhalten „gefüttert“ („feed“). Täglich mit zahlreichen Negativmeldungen über die nicht enden wollende „Asylflut“ versorgt, verwandelt dieser Mechanismus einen „verunsicherten Bürger“ schnell in einen „besorgten Bürger“. Der eigenen Meinung widersprechende Inhalte sucht man im Newsfeed dieser Person vergeblich. Eine auf diese Weise kreierte Filterblase – eine Welt bestehend aus Berichten über Diebstähle und Vergewaltigungen – hat Potenzial einen „besorgten Bürger“ in einen Ausländerhasser und Rassisten zu verwandeln.
Ein Blick ins andere Lager – jenes, das offene Grenzen fordert und „Refugees Welcome“ jubelt – offeriert dasselbe Bild: Auch hier sorgt der Algorithmus dafür, dass der Newsfeed stets mit entsprechenden Informationen angereichert wird, die auf Dauer das eigene Meinungsbildung bestärken, jedoch selten bis nie in Frage stellen. Ein Verhärten der Fronten zwischen beiden Lagern lässt sich schon seit Monaten beobachten, ein ebnen der Unstimmigkeiten, ein Dialog zwischen „konservativ“ und „liberal“ wird angesichts auseinanderdriftender und sich verzurrender Meinungen immer schwieriger.
Objektivität dank Algorithmen? Nope!
Auf der einen Seite verfestigt sich das Bild des Eindringlings, desjenigen der unsere Kultur bedroht und nicht zuletzt unsere Frauen belästigt. Demgegenüber entsteht eine Position, welche Nichts unversucht lässt, den Flüchtling zu glorifizieren und jegliches Gegenargument als „dumm“ oder „rassistisch“ abtut.
Zu entscheiden, was für einen Leser „relevant“ ist, was einen Leser interessiert oder interessieren könnte, welcher Meinung man wie viel Platz im jeweiligen Druckwerk einräumt und nicht zuletzt der Versuch, eine objektive Berichterstattung zu gewährleisten, fielen bisher ins Aufgabenfeld von Journalisten. Nun werden diese Entscheidungen zunehmend von sozialen Medien getroffen. Journalisten zu kritisieren, sie würden subjektiv agieren, bewusst Informationen zurückhalten bzw. diese in einem völlig falschen Licht präsentieren, mag in manchen Fällen seine Berechtigung haben. Im derzeitigen Fall der Flüchtlingsfrage geben wir diese Verantwortung an einen computergesteuerten Algorithmus ab.
Johannes Greß