Hengersberg/Freyung. Es gibt wohl kein Alter, in dem die Welt so intensiv erlebt wird wie in der Kindheit. Hier werden die Weichen gestellt für alles, was danach kommt. Doch wie war sie, die Kindheit in Bayern? Dieser Frage ist das niederbayerische Autorenpaar Julia und Robert Grantner in ihren Fernsehdokumentationen aus der Reihe „Unsere Kindheit in Bayern“ nachgegangen. Der Bayerische Rundfunk präsentiert dazu ab Montag, 9. Juli 2018, wöchentlich drei Folgen (Beginn ist jeweils um 21 Uhr).
Über das Onlinemagazin da Hog’n hatten die beiden Filmemacher einen großen Aufruf gestartet. Gesucht worden sind dabei Menschen aus der Region, die sich noch lebhaft an ihre Kindheit erinnern können und die über private Filmaufnahmen aus ihren jungen Tagen verfügen. Zahlreiche Rückmeldungen wurden ausgewertet, am Ende schafften es gleich zwei Geschichten in die Dokumentation: die von von Inge Artinger aus Hengersberg und deren Bruder Gerhard Cerny, der mittlerweile in München lebt, sowie die von Erwin Blumenstingl aus Fürholz in der Gemeinde Grainet.
Doch dann melden sich plötzlich seine leiblichen Eltern
Wie unterschiedlich selbst die Kindheiten zweier Geschwister verlaufen können, zeigt das Beispiel von Inge Artinger und ihrem Bruder Gerhard Cerny. Die beiden trennen nicht nur die 18 Jahre Altersunterschied, sondern weit aus mehr.
Gerhard wird 1944 geboren. Der Zweite Weltkrieg tobt noch und tausende Menschen sind auf der Flucht. Auch die Eltern von Gerhard sind darunter. Sie sind Sudetendeutsche und werden aus ihrer Heimat vertrieben, können nur das Nötigste mitnehmen. Den kleinen Gerhard, der an einer Lungenentzündung leidet, müssen sie bei seiner tschechischen Großtante Karla zurücklassen. Fast vier Jahre wird er bei ihr bleiben. Sie päppelt ihn auf, kümmert sich um ihn und erzieht ihn in tschechischer Sprache, damit er ja nicht als Deutscher erkannt wird. Alles läuft gut für ihn, doch dann melden sich plötzlich seine leiblichen Eltern.
„Als mein Vater und meine Mutter hier eine Existenz in Hengersberg gegründet hatten, haben sie mich kommen lassen wollen und die Großtante hat gesagt: Ich hab ihn aus dem Dreck rausgezogen – und jetzt muss ich ihn hergeben. Also, die hat mich nicht freiwillig wieder hergegeben und das Deutsche Rote Kreuz musste intervenieren und mich wegnehmen.“
Sie setzen den Vierjährigen ganz alleine in einen Zug und schicken ihn ins niederbayerische Hengersberg. Dort ist ihm alles fremd: das Land, die Sprache, selbst seine Eltern, die ihn vorfreudig am Bahnhof abholen.
„Jetzt hat mein Vater, er war ja Drechsler und hat viel mit Holz gearbeitet, mir als Geschenk einen Tretroller aus Holz gemacht; und als mich die Mutter und der Vater am Bahnhof in Hengersberg abgeholt haben, dann war ich unheimlich ängstlich und verwirrt – dann hab ich den Tretroller gesehen, hab den genommen und bin abgehauen! Und die Eltern sind mir hinterhergerannt: Halt, halt! Auf Tschechisch mussten sie es sagen, weil sonst hätt ich’s nicht verstanden.“
Die Beziehung zu den Eltern wurde nie so, als wäre er schon immer bei ihnen gewesen:
„Es war immer eine gewisse Entfremdung; und so sehr sie sich auch Mühe gegeben haben – und das war auch nicht ihre Schuld, das war der Krieg – ist man sich natürlich etwas wie ein Adoptivkind vorgekommen.“
Zum ersten Mal in die große Stadt, als der Bruder heiratet
Als 18 Jahre später seine kleine Schwester Inge das Licht der Welt erblickt, ist Gerhard bereits Student in München. Wenn er auf Heimatbesuch ist, bringt er der kleinen Inge immer etwas mit aus der großen Stadt.
„Er war für mich immer mehr Onkel. Wenn er gekommen ist, dann hat er mir immer was mitgebracht aus München, eine Puppe oder was ich eben noch nicht hatte – das war so schön, weil von meinen Eltern hab ich solche Sachen nicht bekommen.“
Die Eltern sind arm, können sich nicht viel leisten. Spielsachen hat Inge kaum, aber das macht ihr nichts. Der Bach hinterm Haus oder der kleine Sandkasten – mehr braucht sie gar nicht. Im Gegensatz zu ihrem Bruder hat sie ihr ganzes Leben lang ein sehr inniges Verhältnis zu ihren Eltern. Auch wenn der Vater oftmals wahnsinnig streng sein konnte.
„Wenn er gesagt hat um 5 zuhause, dann musste ich auch wirklich um 5 da sein! 5 Minuten später hat er schon nicht akzeptiert. Das hab ich als Kind gar nicht so richtig verstanden. Warum er auf der einen Seite so liebevoll sein konnte und dann plötzlich der furchtbar strenge Vater.“
Als der große Bruder eines Tages heiratet, kommt Inge das erste mal raus aus Hengersberg. Es geht nach München, in die Landeshauptstadt. Für das kleine Kind ein regelrechter Schock:
„Ich hab mich die Rolltreppe in Minga nicht fahren trauen, weil ich die noch nie gesehen habe. Und meine Eltern waren weg und ich steh oben und trau mich nicht runterfahren! Des war im Herti in München, mei, die waren auch so aufgeregt und irgendeine Verkäuferin hat mich gepackt, ist mit mir runter und unten haben mich die Eltern wieder in Empfang genommen. Und wir haben im Hotel gewohnt in München und da war’s so laut, die Straßenbahn hat die ganze Zeit gebimmelt und ich hab die ganze Nacht nicht geschlafen. Da war so ein Verkehr, wo bei uns um die Uhrzeit fast niemand mehr gefahren ist.“
da Hog’n
Zu den Autoren: Julia und Robert Grantner haben beide beim Bayerischen Rundfunk volontiert und arbeiten dort als feste freie Autoren für verschiedene Redaktionen. Julia stammt aus Vilsbiburg bei Landshut, Robert aus Zenting. Gemeinsam wurden sie 2015 mit dem Förderpreis für junge Journalisten des bayerischen Genossenschaftsverbands ausgezeichnet. 2018 erhielten sie für ihre Dokumentation „Mobben bis einer durchdreht? Der Amoklauf am OEZ“ den ersten Preis beim Sozialcourage-Medienpreis der Caritas.
Das ist ja hochinteressant, dass der Aufruf vom Hog`n ausgegangen ist. Ich hab vorgestern einen Teil der Reihe gesehen und das war großartig. Toll, dass damals schon privat gefilmt wurde, das sind richtige Zeitdokumente. Ich freu mich schon auf die anderen Teile, da macht fernsehen gleich wieder mehr Freude.