Zenting/Linz/München. Es ist die Geschichte zweier Jugendlicher. Beide verbringen einen Teil ihrer Jugend am selben Ort, trotzdem könnten ihre Biographien kaum unterschiedlicher sein – denn sie sind getrennt durch einen Stacheldrahtzaun. Den Stacheldrahtzaun des Konzentrationslagers Gusen in Oberösterreich in der Nähe von Linz. Der eine ist als Häftling im Lager, während der andere draußen eine unbeschwerte Jugend erlebt. Er genießt sogar Privilegien, denn sein Vater ist der gefürchtete Leiter des Lagers. Die Häftlinge nennen ihn den „Teufel von Gusen“.
„Normalerweise suchen Filmemacher nach ihren Storys, doch hier war es andersrum: Hier hat die Story die beiden Filmemacher gefunden“, erzählt Robert Grantner, ein für den BR arbeitender Video-Journalist aus Zenting im Landkreis Freyung-Grafenau. „Wir hatten einen Aufruf gestartet – auch über den Hog’n – für die Sendereihe Kindheit in Bayern. Die Leute sollten uns ihre Kindheitsgeschichten schicken. Und dann kam da auch eine mehrseitige Schilderung eines älteren Herren aus Unterhaching.“ Sein Name: Walter Chmielewski.
„Es war ein ständiges Auf und Ab“
Schnell waren sich Robert Grantner und seine Frau Julia (Video-Redakteurin aus Vilsbiburg) darüber einig, dass diese außergewöhnliche Lebensgeschichte einen eigenen Film wert ist – und machten sich sogleich auf die Suche nach einem etwa Gleichaltrigen, der damals, vor mehr als 70 Jahren, auf der anderen Seite des Stacheldrahts gefangen gehalten wurde. Mehr als zwei Jahre ist das nun her. Die Recherchen führten die Filmemacher durch ganz Europa. Österreich, Polen, Spanien und schließlich Slowenien, wo sie den zweiten Hauptprotagonisten fanden: Dušan Stefančič.
„Es war ein ständiges Auf und Ab. Zwischendrin schien das ganze Projekt zu scheitern, aber unsere Redaktion hat uns die ganze Zeit über die Stange gehalten“, zeigt sich Robert Grantner dankbar. „Als wir dann endlich drehen konnten, war das sehr aufregend. Vor allem die Begegnung der beiden in Ljubljana, da hatten wir davor schlaflose Nächte.“ Doch am Ende hat alles geklappt. Herausgekommen ist dabei eine Dokumentation, die man in dieser Form schon bald nicht mehr wird machen können (Sendetermine siehe Artikel-Ende). Da Hog’n vermittelt in drei Teilen einen Eindruck davon, was im Film „Getrennt durch Stacheldraht – Jugendjahre im KZ Gusen“ zu sehen sein wird. Teil 1: Der Sohn des Teufels.
„Dann ist er zur Bestie geworden“
Walter Chmielewski, „der Sohn des Teufels“, wie ihn Autor Holger Schaeben in seinem gleichnamigen Buch bezeichnet, ist mittlerweile über 90 Jahre alt und lebt zusammen mit seiner Lebensgefährtin in Unterhaching. Er erinnert sich noch gut an die Zeit, als der Arbeitsplatz seines Vaters das nahegelegene KZ war.
„Daheim war er ein netter Vater, ein guter Ehemann und ein ganz normaler Mensch. Aber wehe, wenn er dann seine Stiefel angezogen hat und seine Uniform, dann ist er zur Bestie geworden.“
Sein Vater, Karl Chmielewski, ist eigentlich gelernter Holzbildhauer, wird aber im Zuge der Weltwirtschaftskrise arbeitslos. Er sucht eine neue Perspektive und findet sie bei den aufstrebenden Nationalsozialisten. Schon 1932 tritt er sowohl in die Partei als auch in die SS ein. Was folgt, ist ein rascher wirtschaftlicher Aufstieg. Sohn Walter soll seinem Vater einmal nachfolgen und wird in der Napola angemeldet, einer Eliteschule zur Erziehung des sogenannten Führernachwuchses. Durch die Stellung des Vaters bekommt der kleine Bub ganz besondere Einblicke. Einmal, nach einem Auftritt Hitlers am Münchner Odeonsplatz, darf er seinen Vater sogar noch ins „Braune Haus“ begleiten, die Parteizentrale der NSDAP.
„Da kann ich mich gut erinnern, es ging ein paar Treppen hinab zum Führer-Casino und ich habe meine Waldmeister-Limonade bekommen, die ich so gern mochte – und irgendwann kam tatsächlich der Führer. Es hieß: Achtung, der Führer und alle sind aufgesprungen wie die Wilden! Heil Hitler, mein Führer! Ich bin dazwischen gestanden und der Führer hat alle begrüßt und dann hat er auch mich begrüßt – und hat gesagt: Wer bist denn du? Mein Vater hat gesagt: das ist mein Sohn. Aha, hat er gesagt und du bist in der Napola. Das ist gut so. Und so wie du ausschaust, so wünsch ich mir einen deutschen Jungen, gut gut, und hat mich getätschelt. Da war ich natürlich stolz!“
Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zieht die Familie Chmielewski 1940 nach St. Georgen an der Gusen in Oberösterreich bei Linz. Walters Vater ist inzwischen SS-Hauptsturmführer. Unter seinem Kommando wird – nur wenige Kilometer vom Ort entfernt – ein Konzentrationslager errichtet. Das KZ Gusen, ein Zweiglager des KZ Mauthausen, wird der neue Arbeitsplatz von Walters Vater.
Deportiert als politischer Häftling – mit 15 Jahren
Dušan Stefančič ist zwei Jahre älter als Walter. Er wird 1927 in Gornji Grad, in der slowenischen Steiermark, geboren. Noch heute verbringt er dort die Sommermonate – mit seiner Frau arbeitet er gerne im Garten, auch wenn er einen Stock braucht, um überall sicher hinzugelangen. Und auch wenn die Hände zittern beim Pflanzen stutzen. Als Kind erlebt er den Einmarsch der deutschen Truppen in Jugoslawien und die Besetzung Ljubljanas durch Mussolinis Truppen. Er ist erst 15 Jahre alt, als er sich dem slowenischen Widerstand anschließt.
„Ich hatte sofort eine Sympathie für so eine Bewegung. Ich war kein Held, aber wir haben so manche Sachen auf die Wände gemalt, so Zettel haben wir auf die Straße gestreut – und so war ich dann ein Mitglied, ein winzig kleines Rad in dem ganzen Mechanismus von Widerstand.“
Doch eines abends klingelt es an der Haustür der Familie. Es ist die Polizei. Dušan wird verhaftet und wochenlang unter Schlägen verhört. Als er glaubt, es überstanden zu haben, wird er eines morgens auf einen Zugwagon verladen. Das Ziel: Dachau.
„Ich muss sagen, ich habe das damals vielleicht nicht ganz ernst genommen. Sie müssen verstehen, ein Junge mit 15, 16 Jahren – die Welt gehört ihm! Da gibt es keine Probleme, alles werden wir schaffen. Gar nichts kann passieren.“
Erst im Laufe der nächsten Tage wird ihm klar, dass das nicht stimmt. Was folgt ist eine Odyssee durch halb Europa und mehrere Konzentrationslager: Dachau, Markirch, Natzweiler und schließlich Mauthausen. Dort angekommen, wird er in das wenige Kilometer entfernte Zweiglager Gusen deportiert. In das Lager, das Walters Vater aufgebaut hat.
„Im Lager war Platz nur für eine Schicht. Wenn es aber geschehen ist, dass am Sonntagnachmittag die Wartung in den Betrieben war, dann waren von Sonntag bis Montag zwei Schichten in dem Lager und es gab keinen Platz. Da musstest du schlafen, wo du konntest – auf dem Boden.“
da Hog’n
Im zweiten Teil unserer Vorschau geht es unter anderem darum, wie der 13-Jährige Walter Chmielewski den Alltag im unmittelbaren Umfeld des Konzentrationslagers Gusen erlebte, welche Gräueltaten sich dort abspielten und wie sein Vater die Methode des „Totbadens“ in dem Lager etablierte.
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Sendehinweis: Für die Dokumentation „Getrennt durch Stacheldraht – Jugendjahre im KZ Gusen“ haben sich die beiden Männer, die sich damals so nah und doch so fern waren, das erste mal persönlich getroffen. Zu sehen am Montag, den 20. April, um 23.30 Uhr in der ARD, oder am Mittwoch, den 22. April, um 22 Uhr im BR Fernsehen.