Großglockner/Perlesreut. Das Überwinden der eigenen Schmerzgrenze, das Ausloten der eigenen Leistungsfähigkeit – das ist das, was Alfred Kretschmer immer wieder dazu treibt, sportliche Höchstleistungen zu vollbringen. „A bissl an Schatten muss man schon haben“, gab der Perlesreuter in einem früheren Hog’n-Bericht zu. Damals hatte er am Zugspitz-Ultratrail erfolgreich teilgenommen. Und was ihm in Deutschland gelungen ist, wollte er nun auch in Österreich schaffen. Am vergangenen Wochenende ging er beim Großglockner Ultratrail an den Start. Für das Onlinemagazin „da Hog’n“ berichtet er im Folgenden von diesem 28-Stunden-Marathon:
„24. Juli 2016, 4 Uhr – Zieleinlauf beim Großglockner Ultratrail 2016. Doch das Abenteuer hat bereits vor 28 Stunden (!) begonnen. Aber der Reihe nach. Bereits um die Mittagszeit des 22. Juli habe ich mich auf den Weg nach Bad Reichenhall gemacht, und das, obwohl der Trail-Start erst für 0 Uhr geplant war. Nach einer kurzen Schlafpause in der Hochstaufen-Kaserne, wo ich mir ein Zimmer „gebucht“ hatte, traf ich gegen 17 Uhr in Kaprun ein. Check der Ausrüstung, Startnummerm-Empfang und mit Energie-Gels versorgen – mehr war vor dem Start dann auch schon nicht mehr möglich. Während der Vorbereitungen schossen einem unzählige Gedanken durch den Kopf: „Habe ich etwas vergessen?“, „Bin ich gut genug trainiert?“, „Wie wird es mir unterwegs ergehen?“. Doch die Vorfreude verdrängte diese Fragen schnell.
„Klares, erfrischendes Bergwasser half gegen den Durst“
Pünktlich erfolgte dann, nach dem vorgeschriebenen Race-Briefing, der Start von über 200 ‚Wahnsinnigen‘. Die ersten Kilometer führten zum ersten „Cut-Off-Punkt“ Ferleiten. Dieser musste spätestens um 5 Uhr passiert werden, ansonsten wurde man bereits hier aus dem Rennen genommen. Auf dem Weg dorthin durften die Teilnehmer bereits 1600 Höhenmeter meistern. Ich erreichte gegen 3.40 Uhr das Zwischenziel – also rechtzeitig. Die größten Schwierigkeiten lagen da aber noch vor mir – die Anstiege zur Unteren Pfandlscharte (2663 m), zur Pfortscharte (2828 m), zur Stüdlhütte (2801 m), zur Kalser Tauern (2518 m) und zum Kapruner Törl (2639 m).
Körperlich und mental fühlte ich mich gut für den langen, nicht enden wollenden Anstieg zur Unteren Pfandlscharte gewappnet. Nach einer klaren Nacht bei einsetzendem Morgengrauen kämpfte ich mich nach oben und durfte dann die herrliche Bergwelt genießen. Erschöpft erreichte ich beim Sonnenaufgang den ersten Gipfel – 700 Höhenmeter ging es jetzt steil bergab. Keine Zeit also zum Erholen – höchste Konzentration war gefragt, um sich keinen Fehltritt zu leisten. Ständige Trinkpausen und kurze Versorgung mit Riegeln oder Gels überbrückten die Zeit zwischen den sechs offiziellen Verpflegungsstationen. Das klare, erfrischende Bergwasser half gegen den Durst.
„Die Bergwacht riet zur Aufgabe – doch sie wollten unbedingt weiter“
Ich war zuversichtlich, mein innerer Schweinehund hielt noch „Winterschlaf“ und so lief ich zur nächsten Wand, der Pfortscharte. Noch gut im Zeitplan erreichte ich sie um 11 Uhr. Der darauffolgende Abstieg und Aufstieg zur Stüdlhütte kostete mich dann unerwartet viel Substanz. Es folgte der „freie Fall“ nach Kals – über 1500 Meter steil bergab. Schon etwas müde erreichte ich schließlich das Zwischenziel – Platz 115 in der Gesamtwertung und 14. in meiner Altersklasse. Eine große Halle und warmes Essen luden zum Verweilen ein. Doch je länger man sich dort aufhielt, desto mehr baute der Körper ab. Die Folge: Es stiegen bereits viele aus dem Rennen aus und genossen die Annehmlichkeiten.
Ich wollte jedoch so schnell wie möglich weiter und vergaß vor lauter Eile meine frisch gefüllten Trinkflaschen. Also wieder einen Kilometer zurück, Flaschen holen und weiter ging es. Ich wollte auf alle Fälle noch so weit wie möglich bei Helligkeit kommen, um die noch vor mir liegende Strecke ohne Stirnlampe absolvieren zu können. 62 Kilometer hatte ich bereits hinter mir, 48 zum Teil technisch sehr anspruchsvolle Kilometer lagen noch vor mir. Kleinere Blessuren hielten mich nicht auf – Zähne zusammenbeißen und immer das große Ziel vor Augen. Zur Kalser Tauern erwarteten mich nicht enden wollende 1200 Höhenmeter im Rahmen eines 16-Kilometer-Anstieges. Schließlich kam ich um 19.38 Uhr am Berghotel Rudolfhütte an. Eine Handvoll Gleichgesinnte hielten sich zu diesem Zeitpunkt an dieser Verpflegungsstation auf. Einige waren sehr erschöpft, die Bergwacht riet zur Aufgabe, doch sie wollten unbedingt weiter.
„Der härteste und erlebnisreichste Trail lag hinter mir“
Ich schloss mich dieser Gruppe – bestehend aus zwei jungen Österreichern, einem Deutschen und einem jungen Polen – an. Da ich mich den Umständen entsprechend noch am „fittesten“ fühlte, übernahm ich die Führung. Der Weg hinauf zum Kapruner Törl im Schein der Stirnlampen kitzelte die wirklich allerletzten Kraftreserven aus uns raus. 50 Meter nach Erreichen des Gipfels, bereits während Abstiegs, stürzte der Österreicher in Folge einer Unkonzentriertheit. Ich konnte die Blutung an dessen Knie – trotz einiger Mullbinden – nicht ganz stillen. Im Anschluss daran erwartete uns eine regelrechte Odysee. Ein Schnellfeld, ein steiler Abstieg und noch eine weite vor uns liegende Strecke, die es aufgrund der Verletzung in sich hatte. Wie auch immer, ich hatte jetzt die Verantwortung und ich wollte nur noch alle heil und vollzählig ins Ziel bringen.
Ich machte das Schlusslicht und hatte so alle gut unter Kontrolle. Auf den noch gut 25 Kilometern, die wir noch zurücklegen mussten, verloren wir immer mehr die Orientierung. Die Ausschilderung übersahen wir wohl mehrmals, so dass wir zirka vier Stunden mehr als geplant benötigten. Alle waren jetzt sehr erschöpft. Wir konnten keine längeren Pausen machen, viele von uns wären sofort eingeschlafen. Aber wie ich bei der Bundeswehr gelernt habe: Es wird keiner zurückgelassen. Körperlich am Ende aller Kräfte erreichten wir um 4 Uhr das lang ersehnte Ziel in Kaprun. Der Verunfallte wurde sofort durch die anwesenden Rettungskräfte in Empfang genommen und weiterversorgt. Über die Hälfte aller Teilnehmer erreichten Kaprun nicht. Der härteste und vor allem erlebnisreichste Trail lag hinter mir. Ich war auch total kaputt, aber innerlich sehr stolz.“
da Hog’n