Freyung-Grafenau. Im ersten Stock in der Abteistraße 23 in Freyung, da gibt es ein ganz besonderes Büro. Dieses Büro ist nicht nur deswegen so besonders, weil einem beim Öffnen der Tür (in der kalten Jahreszeit!) der Duft ätherischer Öle entgegenströmt. Nein, das eigentlich Besondere daran ist der 65-jährige Mann, der hier meistens nicht hinter seinem massiven Holzschreibtisch, sondern geschäftig im Raum hin- und herrennend, anzutreffen ist. Die Rede ist von Alois Seidl, dessen Gesicht man mit der Katholischen Erwachsenenbildung (KEB) im Landkreis in Verbindung bringt wie kein anderes.
Seine gesamte berufliche Laufbahn hat er bei der KEB in Freyung-Grafenau verbracht. Er hat sie mitgegründet und sie 40 Jahre lang als Geschäftsführer aufgebaut und energisch vorangetrieben. Heute Abend wird Seidl mit einer großen Feier und weit über 200 Gästen im Kurhaus Freyung in den Ruhestand verabschiedet. Welche Menschen ihn in den letzten vier Jahrzehnten bewegt haben und warum die grenzübergreifende Völkerverständigung mit Tschechien für ihn eine Herzensangelegenheit ist, darüber spricht er im Hog’n-Interview.
„So kam die Verbindung zustande“
Sie sind ja ursprünglich aus Vilshofen. Wie hat es Sie denn in den Landkreis Freyung-Grafenau verschlagen?
Ich habe Theologie studiert, zwei Jahre in Passau und danach drei Jahre in Würzburg. Ein Jahr bevor ich mein Diplom gemacht habe, wusste ich schon, welche Arbeitsstelle ich antreten werde. In der Diözese Passau sollte die Erwachsenenbildung dezentralisiert werden und da haben sie mich gefragt. Ich konnte mir damals sogar noch einen Landkreis aussuchen. Ich entschied mich für Freyung-Grafenau. Mein Vater war VdK-Geschäftsführer im ehemaligen Landkreis Vilshofen und Franz Schumertl war, vor seiner Wahl zum Landrat, als VdK-Geschäftsführer in Freyung ein Kollege meines Vaters. Als Kinder haben wir die Schumertls in Freyung öfters besucht. So kam die Verbindung zustande.
Ihre Nachfolgerin Veronika Emmer kennen Sie ja schon von früheren musikalischen Begegnungen. Was wünschen Sie Ihr?
Dass sie auch weiterhin vor allem die volle Unterstützung der Diözese Passau, aber auch der Pfarreien und Kommunen bekommt, sowohl finanziell als auch personell.
Wie meinen Sie das? Sehen Sie da mögliche Probleme?
Ja, den aktuellen Sparkurs. Mit einer Geschäftsführerin, die eine Teilzeitstelle mit 19,5 Stunden hat und einer Sekretärin, die zehn Stunden arbeitet, wird es schwierig, ein umfangreiches Programm wie das derzeitige aufrecht zu erhalten.
„Ich bin ein totaler Egoist“
Sie haben immer sehr viel gearbeitet. Warum haben Sie auf die Bezahlung von vielen Überstunden verzichtet?
Weil das Schöne an dieser Stelle immer die Tatsache war, dass ich selbständig arbeiten konnte. Ganz zu schweigen von den zahlreichen Begegnungen mit den vielen interessanten Menschen, die ich kennenlernen durfte. Dadurch habe ich immer gemerkt: Ich kann was bewegen. Da halte ich es ganz mit dem Freyunger Bürgermeister Dr. Olaf Heinrich, der mir, als ich ihn kurz nach seiner Wahl fragte, ob er überhaupt noch zu Hause sei, um zu sich zu kommen, sagte: ‚Mir macht es Freude, zu gestalten!‘ Und eigentlich bin ich ja auch ein totaler Egoist, weil ich viele Veranstaltungen nur für mich selber organisiere. Und wenn sich dann auch noch andere darüber freuen, dann ist das für mich eine doppelte Freude.
Aber wie soll das Ganze denn dann künftig bewerkstelligt werden – ohne Sie?
Nun, die Arbeit der neuen Geschäftsführerin wird sich auf die eigentlichen Bildungsveranstaltungen beschränken. Dadurch werden die Angebote in der Erwachsenenbildung sicher weniger werden. Den Kulturkreis werde weiterhin ich betreuen. Allerdings ehrenamtlich von meinem Wohnsitz in Hinterschmiding aus.
„Aus Freude über so viel Gastfreundlichkeit“
Sie haben sich, auch im Rahmen der KEB, immer für die Völkerverständigung mit Tschechien stark gemacht? Wie kam’s?
Das begann schon 1988, noch vor der Revolution. Hans Presl, der damalige Vorsitzende des Siedlerbunds und Gründer des Landesverbandes Bayern der Deutsch-Tschechoslowakischen Gesellschaft, hatte schon vor der Grenzöffnung viele Kontakte nach Tschechien – und der hat mich da so richtig schön mit reingezogen (lacht). Die Initialzündung kam mit der ersten Begegnung 1988 mit einem Frauenchor aus der Nähe des mährischen Ostrava: Da steht ein Mensch vor dir, der so ähnlich ausschaut wie du, dann macht er den Mund auf … und du verstehst ihn nicht! Deswegen habe ich 1990 meinen ersten Tschechisch-Kurs belegt. Seit über zwanzig Jahren lerne ich nun Tschechisch, immer bei der gleichen Lehrerin: Jana Vokurkova aus Volary.
Wie gut ist Ihr Tschechisch denn mittlerweile?
Also, das was ich kann, kann ich gut. Mir fehlt es allerdings an Vokabular. Im September steige ich übrigens in den Fortgeschrittenenkurs Nummer 38 ein.
An welche Begegnungen mit den tschechischen Nachbarn erinnern Sie sich besonders gerne?
Anfang September 1990 weilte der Chor der Pädagogischen Hochschule Ostrava, nach der Rückreise von einer Tournee durch die Niederlande, für einen Tag mit Übernachtung in Hinterschmiding. An einem Mittwoch riefen sie mich an und fragten, ob die Gruppe schon am darauffolgenden Freitag auf Samstag in der Turnhalle übernachten könnte. Innerhalb von zwei Stunden hatten wir für alle kostenlose Privatquartiere in Hinterschmiding organisiert. Das muss man sich mal vorstellen! Das waren zwei volle Busse!
Wir haben mit den Tschechen am Samstagvormittag dann auch noch einen Ausflug nach Passau bzw. nach Freyung unternommen. Da hat es aber sehr stark geregnet. Ich habe meine Frau angerufen, ob sie mit ein paar anderen vor der Weiterreise des Chores ein wenig Kaffee und Kuchen im Gemeindesaal herrichten können. Als wir ankamen, haben die Tschechen die Hände vor den Mund geschlagen und Rotz und Wasser geheult: Die Schmidinger hatten die Tische weiß gedeckt und geschmückt, jede Menge Kuchen gebacken, belegte Brote vorbereitet, sogar eine Gulaschsuppe wurde angerichtet. Die Tschechen waren einfach total überrascht von so viel Gastfreundlichkeit, obwohl sie selber eigentlich viel gastfreundlicher sind als die Deutschen. Sie hatten bisher geglaubt, dass die Deutschen abweisend, unfreundlich, distanziert und geizig sind. „Jetzt haben wir ein ganz anderes Bild von den Deutschen“, waren ihre Reaktionen. Genau diese Momente sind Völkerverständigung für mich!
„Die Vorurteile sind auch nach 20 Jahren Grenzöffnung noch da“
Haben Sie den Eindruck, dass die Vorurteile nach mehr als 20 Jahren Grenzöffnung abgebaut wurden?
Nein, eher nicht. Ich habe da noch lebhaft einen Ausflug mit dem Kinderchor nach Opava in Erinnerung: Fast keines der Kinder wollte mitfahren. ‚Es ist doch dreckig da‘ und ‚Da gibt’s nichts Gescheites zu essen‘, bekam ich immer wieder zu hören. Als ich nachgefragt habe, wie sie darauf kommen, bekam ich als Antwort: ‚Das hat die Mama gesagt‘. Aber als ich sie dann überredet habe und wir endlich hingefahren sind, haben sie schon am zweiten Tag gefragt, ob wir nicht länger bleiben können, so gut hat es ihnen gefallen. Vor der Abreise lagen sich die mährischen und die bayerischen Kinder weinend in den Armen!
Warum halten sich viele Vorurteile dann so hartnäckig?
Die Vertreibung spielt nach wie vor eine große Rolle. Dabei ist das doch längst Geschichte. Das ist schon seltsam: Da fahren sie vielfach ins Casino jenseits der Grenze und ihre Vorurteile können sie nicht mal begründen. Mir fällt noch eine tolle Geschichte ein: Ein Hinterschmidinger Wirt war zum ersten Mal bei einer Reise des Schmidinger Männerchores dabei. Wir waren im Hotel beim Essen. Da gab es einfach alles, von Vorspeisen über Becherovka bis hin zum Apfelstrudel. Nach dem Essen hat er gestanden: ‚Ich hatte alles dabei, von der Wurst bis zum Brot, aber ich habe nichts gebraucht! Wehe, einer schimpft mir noch einmal über das tschechische Essen!‘
Aber bewirken Vereine und Patenschaften denn nichts?
Doch, aber die Motivation auf beiden Seiten wird immer weniger, je länger die Revolution her ist.
Zurück zur Erwachsenenbildung: Was waren die interessantesten Vorträge?
Das waren immer die Vorträge von „Grenzgängern“. Leute, die aus dem üblichen Schema ausbrechen und dadurch etwas Neues bewegen. Zum Beispiel die palästinensische Friedensaktivistin Sumaya Farhat-Naser, der Wiener Weihbischof Dr. Helmut Krätzl oder der alte Schweizer Kapuzinerpater Walbert Bühlmann. Ich habe so viele Veranstaltungen erlebt, wo Menschen bis ins Innerste berührt wurden, wo sie aus erster Hand informiert, aufgebaut, motiviert, ermutigt – ja oft befreit wurden! Gerade in der Erwachsenenbildung hat man ungeahnte Möglichkeiten, über Bildungsmaßnahmen verschiedenster Art Einfluss zu nehmen auf Vorgänge in Kirche und Gesellschaft.
Wie unterscheidet sich die Erwachsenenbildung in kirchlicher Trägerschaft denn von anderen Einrichtungen?
In den Dokumenten des II. Vatikanischen Konzils wie auch der Würzburger Synode wird eindeutig von einem umfassenden Bildungsauftrag der Kirche gesprochen. Es wird auch nicht unterschieden zwischen einem minderwertigeren Weltdienst und einem höherwertigen Heilsdienst. Weltdienst ist Heilsdienst und Heilsdienst ist Weltdienst. Es ist immer ein Dienst am Menschen. ‚Der Mensch ist der Weg der Kirche‘, heißt es in einem Dokument des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Ich habe meine Arbeit im weiteren Sinne immer auch als pastoralen Dienst verstanden, als Dienst am ganzen Menschen. Dieser Dienst galt nicht nur den sogenannten Mitgliedern der Kerngemeinden, sondern vor allem auch allen, die der Kirche nur mehr oder weniger – oder überhaupt nicht nahe stehen. Ich wünsche der kirchlichen Erwachsenenbildung deshalb, dass sie sich weiterhin um Offenheit bemüht, was Inhalte und Adressaten angeht.
Wie hat sich die KEB in den letzten 40 Jahren verändert?
Am Anfang gab es noch nicht so viele Angebote, dadurch waren sie auch interessanter. Was auch zu beobachten ist: Die Teilnehmer bei den Veranstaltungen sind weniger geworden. 1985 hatten wir an die 51 000, 2011 waren es 20 000, obwohl das noch verhältnismäßig gut ist. Aber darüber sind die Veranstaltungen anspruchsvoller geworden und die Teilnehmer kritischer. Eine große Rolle hat natürlich auch die wachsende Vielfalt weiterer Bildungseinrichtungen, wie die vhs und das bfz, gespielt. Das hat die Bildungslandschaft natürlich verändert.
„Die KEB und die vhs kann man nicht fusionieren“
In diesem Zusammenhang kommt ja immer wieder die Frage auf: Warum nicht KEB und vhs zusammenlegen? Warum bündelt man die Kräfte denn nicht in einer Organisation?
Die KEB und die vhs kann man nicht fusionieren. Da treffen zwei völlig unterschiedliche Träger auf Landesebene aufeinander. Bei der KEB nimmt der religiös-theologisch-weltanschauliche Bereich eine zentrale Position ein, bei der vhs ist es eher die Berufsbegleitung. Kooperationen sind jedoch möglich und gewünscht.
Und wie sieht es dann mit einer Kooperation aus?
Nach der Gründung der Arbeitsgemeinschaft für Jugend- und Erwachsenenbildung im Landkreis Freyung-Grafenau, kurz: AJEB, im Jahr 1974 kooperierten wir jahrzehntelang hervorragend. Wir führten zahlreiche zentrale Veranstaltungen miteinander durch und brachten auch ein gemeinsames Programmheft heraus. Irgendwann schlief dann diese Zusammenarbeit ein. Es laufen jedoch schon Vorgespräche für eine Neubelebung der AJEB. Zur vhs bestehen gute Beziehungen. Auf Betreiben des Regionalmanagers Sebastian Gruber wurde im Frühjahr erstmals das gemeinsame Projekt „Gute Nachbarschaft heißt miteinander reden – Tschechischkurse für den Alltag und im Beruf“ gestartet. Eine Wiederholung ist für den Herbst vorgesehen.
Was wird Ihnen im Ruhestand fehlen?
Hm (überlegt) … der Druck durch das Hauptamt wird weg sein – und da freue ich mich drauf. Und ich habe noch einige ehrenamtliche Projekte in Hinterschmiding: Musik- und Heimatverein mit den Chören, die Partnerschaft mit Mähren, die jährliche Chor- und Orchesterwoche zu Pfingsten, der Kulturkreis und einiges andere. Einen richtigen Ruhestand darf es sowieso nicht geben. Zudem will ich im Bereich der Seniorenarbeit grenzüberschreitend mit den Tschechen tätig werden.
Interview: Dike Attenbrunner