Atreichenau. Er zählt zu den wohl treuesten Lesern des Onlinemagazins da Hog’n – aber auch zu den kritischsten. Sein Name findet sich auf der Social-Media-Plattform „Facebook“ unter so einigen Artikeln: Franz Kerschbaum äußert gerne seine Meinung zu den unterschiedlichsten Themengebieten. Während bei so manch fleißigem Kommentarschreiber schnell klar ist, welcher politischen Gesinnung er wohl zuzuordnen ist, bleibt bei dem Altreichenauer oft ein Fragezeichen: Meint er das jetzt ernst – oder schwingt da eine gehörige Portion Ironie mit? Wir wollten den 76-jährigen Ex-Lehrer einmal näher kennen lernen.
Vor Kurzem hatte Franz Kerschbaum seinen 76. Geburtstag gefeiert, kurz zuvor seine Goldene Hochzeit mit Ehefrau Gisela. Mit ihr hat er drei Kinder. Er singt im Kirchenchor. Ist pensionierter Lehrer. Hat fast sein ganzes Berufsleben an der gleichen Schule verbracht. Er lebt seit mehr als fünfzig Jahren im gleichen Dorf und war dreißig Jahre lang Mitglied im Gemeinderat. So weit, so konservativ?
„Oft verirre ich mich in den Zeitungen“
Franz Kerschbaum ist kein CSU-, sondern SPD-Mitglied. Im Gemeinderat saß er für die Christliche Wählerunion (CWU). In seiner Jugend hat er am liebsten Tucholsky und Brecht gelesen. Statt Lehrer wollte er eigentlich Ingenieur werden. Dafür reichte aber das Geld nicht. Und seine Abi-Note litt unter der 4, die er für den Deutschaufsatz erhielt, in welchem er eine allzu kommunistische Meinung vertreten hatte. „Ich war bei einigen Lehrern recht unbeliebt wegen meiner politischen Ansichten“, erinnert er sich mit einem Lächeln.
Mit seiner Meinung eckt er auch heute noch gerne an. „Ein paar kriegen es immer in den falschen Hals – vielen Leuten passt meine Meinung nicht ins Konzept“, sagt er. Und ergänzt sogleich: „Doch das ist mir egal.“ Im Internet erlaubt er sich auch Kommentare wie: „Busen und Küssen verboten. Wahrscheinlich Neid der Besitzlosen!“ Diese Aussage galt einem Artikel über eine Rüge des deutschen Werberates für vermeintlich zu freizügige Bierwerbung. Bei Facebook hat er sich angemeldet, um mitdiskutieren zu können. Leserbriefe schreibt er schon lange – doch die Zeitungen drucken sie seiner Meinung nach nur selten ab.
Im Gegensatz zu manch anderem Facebook-Kommentarschreiber tippt der 76-Jährige jedoch nicht sofort los und gibt seinem Bauchgefühl nach. Er bildet sich seine Meinung zuvor gründlich und informiert sich bei unterschiedlichsten Quellen. Er hat nicht nur ein Abo der Lokalzeitung, sondern auch eines der renommierten „Neuen Züricher Zeitung“ (NZZ). Letzteres hat ihm sein Sohn geschenkt, sagt er. Dieser wohnt nämlich in der Schweizer Metropole. „Eine recht konservative Zeitung. Aber es gibt da auch viele Gastkommentare.“
Vormittags sitzt er am Computer und liest sich durch die Artikel des Onlinemagazins da Hog’n sowie etlicher weiterer Medienangebote. Seine Lieblingsseite im Netz nennt sich „nachdenkseiten.de„. Hier findet man eine Zusammenstellung verschiedenster Artikel zu wichtigen Nachrichten-Themen aus aller Welt. Laut Wikipedia werden dort insbesondere politische und gesellschaftliche Ereignisse kommentiert. „Oft verirre ich mich sozusagen in den Zeitungen“, sagt Kerschbaum und lacht. „Man kommt da von einem Artikel zum anderen“, wenn er immer wieder verlinkte Seiten anklickt und sich dann quer durch die bereitgestellten Informationen liest.
Und dann kommentiert er eben, wenn ein Thema in einem Beitrag seiner Meinung nach nicht umfassend dargestellt ist. Oder er bemängelt, dass der Verfasser etwas Falsches behauptet hat – wie beispielsweise bei einem Hog’n-Artikel über Verkehrsminister Andreas Scheuer: „Schon wieder werden die Begriffe durcheinander geworfen. Die Lungenärzte bescheinigten lediglich die Harmlosigkeit der Stickstoffoxide, nicht aber die von Feinstaub, wie hier behauptet wird.“
Als Kind erlebte er Flucht und Vertreibung
Sein politisches Interesse habe er von seinem Großvater geerbt, sagt Franz Kerschbaum. Dieser war bis zum Einmarsch der Nazis SPD-Bürgermeister in Filipova Hut‘ (Philippshütten), einem Ort im heutigen Tschechien, zwischen Rachel und Lusen gelegen. 1938 steckten die deutschen Besatzer seinen Großvater ein halbes Jahr lang ins KZ Dachau. Als Franz Kerschbaum 1943 zur Welt kam, war sein Opa längst entlassen. Die Zeit im Konzentrationslager wirkte aber noch lange nach. „Er hat mir alles dazu erklärt“, sagt Kerschbaum. Er selbst habe schon als kleines Kind mit ihm die Zeitung studiert: „Ich habe über das Zeitung lesen das Lesen gelernt.“
Als Franz Kerschbaum fünf Jahre alt war, floh seine Familie von Philippshütten nach Finsterau. „Wir hätten wegen der Vergangenheit meines Großvaters bleiben dürfen“, sagt er heute. Sein Vater hätte dann aber Militärdienst leisten und seine Mutter in der Kolchose arbeiten müssen. Die Familie landete schließlich in einem Auffanglager in Furth im Wald: „Viele Leute, wenig Essen“, erinnert er sich. Die nächste Station war Innernzell, wo er als kleiner Junge ein Jahr lang auf einem Bauernhof lebte – „unter katastrophalen hygienischen Bedingungen“. Die Bevölkerung sei aber den Flüchtlingen gegenüber sehr aufgeschlossen gewesen.
Vielleicht sind es die Erfahrungen aus seiner frühen Kindheit, die seine Ansichten zur sog. Flüchtlingswelle im Jahr 2015 geprägt haben. Er findet: Es darf keine Völkerwanderung geben. Das betont er auch in so manchem Kommentar: „Ich denke, dass wir Flüchtlingen, Asylanten oder wie wir sie auch immer nennen, eine Perspektive bieten müssen. Das kann nur bedeuten, dass wir ihnen Arbeit verschaffen müssen. Sie nur zu alimentieren, würde unser Sozialproblem innerhalb weniger Jahre zerreißen.“
Sein Vater fand kurz nach der Flucht nach Deutschland Arbeit in Schönberg. Franz Kerschbaum verbrachte seine Grundschulzeit dort. 1955 schickte ihn sein Vater, der wollte, dass sein Sohn später Lehramt studiert, auf das „Deutsche Gymnasium“ in Straubing (heutiges Anton-Bruckner-Gymnasium). Der junge Franz besuchte das dortige Internat. Der strenge Tagesablauf nahm um sechs Uhr morgens seinen Lauf und enthielt neben den zahlreichen Unterrichtseinheiten vor allem stundenlange Studierzeiten, in denen einhundert Schüler zusammen in einem Saal saßen und still sein mussten. „Da hat man wenigstens was gelernt“, sagt Kerschbaum im Rückblick. „Ich kann nichts Schlechtes über die Zeit im Internat berichten.“
Ein kommunistischer Deutschaufsatz versaut ihm die Abinote
Während seiner Zeit am Gymnasium sei er sehr kommunistisch eingestellt gewesen, erzählt der pensionierte Lehrer heute: „Eine Lehrerin hat mal zu mir gesagt: Chruschtschow würde sich über meine Aufsätze freuen.“ Im Deutschaufsatz seiner Abiturprüfung bekam er eine 4, da auch dieser Text sehr politisch gewesen sei, sagt er. Das Abi erhielt er trotzdem – wie damals lediglich fünfzehn Prozent der Schülerschaft des Internats.
Kommunistisch geprägt seien seine Ansichten heute nicht mehr. Diese ließen sich auch nicht mehr so einfach in eine politische Richtung einordnen. Als Mitglied der SPD kritisiert er offen an seiner Partei, dass sie verlernt habe, klar Stellung zu politischen Themen zu beziehen: „Die wollen es jedem Recht machen.“ Franz Kerschbaum will das nicht.
Er ist nur eines definitiv nicht, wie er verrät: wirtschaftsliberal. Er übt daher häufig Kritik an der Wachstums- und Wohlstandsgesellschaft: „Das Gemeinschaftliche, das Soziale war früher besser. Heute leben wir in einer kalten Gesellschaft, in der das Materielle zu sehr im Vordergrund steht.“ Wie man das ändern könnte? „Mit der Vernunft des Verbrauchers ist nicht zu rechnen. Da helfen nur strikte Verbote“, schreibt er in einem Facebook-Kommentar.
Anfang der Sechziger studierte Kerschbaum Lehramt in Regensburg. Ab 1965 unterrichtete er in Altreichenau. Damals gab es dort noch eine siebenklassige Volksschule. Von jemandem, der zu dieser Zeit in einer Gemeinde als Lehrer arbeitete, wurde erwartet, dass er im Ort auch andere Aufgaben übernimmt: Das Orgelspielen in der Kirche zum Beispiel. Oder das Verrichten der Arbeit eines Gemeindeschreibers. Andere Zeiten waren das.
Vielleicht hätte Franz Kerschbaum diese Zeiten manchmal wieder gerne zurück? Etwa, wenn er sich mehr Arbeitsplätze für den ländlichen Raum wünscht. Er findet es nicht gut, dass sich alles in die Stadt, in die Ballungszentren, verlagere: „Spielt sich die Welt und das Leben nur in den Großstädten ab? Am Beispiel des zukünftigen Verkehrs kann man das genau beobachten. Den Belangen der Landbewohner wird kein Interesse entgegengebracht. Der urbane Intellektuelle ist der Neue Mensch. Na, wenn sie meinen“, kommentiert er dazu vielsagend.
Globalisierungsgegner Kerschbaum fordert mehr Regionalität
Die heutige, globalisierte Welt schlage stärker zurück denn je, sagt er: „Dadurch sind unsere Umweltprobleme doch erst entstanden.“ Auch wenn es vermutlich weniger Wohlstand zur Folge hätte, plädiert er für eine Rückkehr zur Regionalisierung. Und für weniger Konsum: „Muss man wirklich zehn verschiedene Hosen im Schrank haben?“ Aber er weiß auch: „Es ist nicht so einfach, wie soll man alles zurückbauen?“
Bis heute wohnt Franz Kerschbaum in Altreichenau. Nach der Schulreform hatte er an der Hauptschule in Neureichenau unterrichtet, hauptsächlich Chemie und Physik. „Und ich war immer für neue Fächer wie technisches Zeichnen oder Informatik zuständig“, erzählt er. „Und für neue Geräte wie zum Beispiel den Overhead-Projektor.“ Ingenieur ist er nie geworden, doch das technische Interesse blieb. Bis heute, wenn er im Keller an seinen Modellfliegern bastelt.
Sabine Simon