Berlin/Grafenau. An das genaue Datum kann er sich auf Anhieb nicht mehr erinnern. „Es war irgendwann 2001.“ Und auch Details der Flucht seiner Familie vom Irak nach Deutschland verschwinden immer mehr in den hintersten Ecken seines Gedächtnisses. Vor allem ein Bild hat sich jedoch eingebrannt. „Wir sind im Bauch eines großen Transportschiffes über ein großes Meer gefahren. Heute weiß ich, dass es das Mittelmeer war. Die Außenwand hatte eine undichte Stelle, sodass immer wieder Wasser eingedrungen ist.“ Diese Geschichte hat Muhanad Al-Halak in den vergangenen Monaten oft erzählen müssen. Zahlreiche bekannte Medien – darunter auch die New York Times – haben über ihn berichtet. Der Flüchtling, der es in den Deutschen Bundestag geschafft hat, hat für Aufmerksamkeit gesorgt.
Der 32-jährige Grafenauer ist es inzwischen Leid, andere über seine Herkunft zu informieren. Er möchte nicht auf seinen Migrationshintergrund reduziert werden. Seine politische Arbeit, sein Werdegang als Persönlichkeit sollen stattdessen im Mittelpunkt stehen. „Klar, ich bin ein Musterbeispiel für Integration. Aber ich bin auch einer, der es als Nicht-Akademiker in den Bundestag geschafft hat. Diese Leistung zählt.“ Im ersten Teil des Interviews mit dem Onlinemagazin da Hog’n geht der FDP-MdB auf seine Eingewöhnungszeit im „Haifischbecken“ Berlin ein. Genauso spricht er über Rassismus im Alltag sowie über seine ausgeprägte Social-Media-Aktivitäten. Er wirkt dabei sehr authentisch, lacht viel, erzählt gerne…
„Es steckt viel Druck dahinter, viel Verantwortung“
Herr Al-Halak, wie geht es Ihnen denn als Bundestagsabgeordneter in Berlin?
Mir geht es gut. Am Anfang war alles neu für mich. Ich musste mich in viele Themen einarbeiten. Die Arbeit ist sehr aufwendig. Es steckt viel Druck dahinter, viel Verantwortung. Es macht mir sehr viel Spaß, aber es ist auch echt sehr stressig.
Wie hatten Sie sich es denn vorgestellt?
Mein Kalender ist voll – von frühmorgens bis spätabends. Und wir reden von Terminen, bei denen man immer 100 Prozent bringen muss. Kürzlich war ich beim Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesumweltministerium: Christian Kühn von Bündnis 90/Die Grünen. Für mich als Neuling ist es eine große Herausforderung, mich mit einem Staatssekretär argumentativ zu messen. Das ist nur ein Beispiel. Inzwischen entwickelt sich jeder Tag so.
Wer taktet das alles durch?
Der Kalender bestimmt mein Leben. Also letztlich meine Büros in Grafenau und Berlin, die die Termine vereinbaren und vorbereiten. Je nach Thema, Zuständigkeit und Aufenthaltsort gibt es Schnittstellen. Und es ist tatsächlich auch so, dass ich erst abends, wenn ich ins Bett gehe und in den Kalender auf meinem Handy schaue, genau weiß, was mich am anderen Tag erwartet. Auch, wie ich von A nach B komme, musste ich erst herausfinden.
Inwiefern?
Erst habe ich überlegt, ob ich zu Fuß oder mit dem Auto in Berlin schneller unterwegs bin. Nun habe ich einen E-Scooter. Den habe ich von Grafenau nach Berlin mitgenommen, weil er hier im Woid mit den vielen Anstiegen einfach überfordert ist (lacht herzlich).
„Ich kann es mir nicht leisten, auszufallen“
Wie viel Einfluss haben Sie auf ihren persönlichen Terminkalender?
Ich habe mit Bedacht mein Team ausgesucht. Anfangs haben sich meine Mitarbeiter bei jeder Terminanfrage noch bei mir erkundigt, ob das was für mich wäre. Inzwischen kennen sie mich so gut, dass sie selber über Zu- und Absagen bestimmen. Und bei den Pflichtaufgaben ist es sowieso klar, dass ich hin muss.
Wie oft sind Sie in Berlin? Wann in Grafenau?
50:50. Während der Sitzungswochen bin ich in Berlin und nehme dort so viele Termine wie möglich wahr. Genauso geht das Ganze in Grafenau vonstatten. Ich bin praktisch rund um die Uhr im Einsatz – egal, wo ich bin. Außer ich bin krank. Aber ich kann es mir fast nicht leisten, auszufallen.
Wird es einfacher, wenn sie mal richtig angekommen sind in ihrem Amt als Bundestagsabgeordneter?
Ich bin inzwischen angekommen, denn ich habe gleich die erste Zeit nach der Wahl genutzt, um mich im Berliner Politikbetrieb einzuleben. Dennoch muss ich noch viel lernen. Mein großer Vorteil war meine kommunalpolitische Vorgeschichte. Gewisse Abläufe kenne ich deshalb bereits. Wobei Berlin dann schon noch einmal eine andere Hausnummer ist als der Grafenauer Stadtrat.
Ist die Bundeshauptstadt eine Art Haifischbecken?
In der eigenen Fraktion eher weniger. Über die Parteigrenzen hinweg ist man schon angriffslustig. Fehler kann man sich kaum leisten (überlegt). Haifischbecken. Hm… (überlegt wieder) Ich will da keine falschen Aussagen treffen. Aber ich denke, jeder weiß, was ihn erwartet, wenn man in den Bundestag einzieht.
AfD: „Feuer mit Feuer zu bekämpfen ist der falsche Weg“
Wie fühlt es sich an, im Bundestag mit einer Partei wie der AfD zu sitzen, nach deren Ansichten Sie als Flüchtling eigentlich gar nicht dort sein dürften?
Im Rahmen meiner ersten Rede im Bundestag habe ich deutlich gemacht, dass ich sehr dankbar dafür bin in einem Land zu sein, in dem ich die Möglichkeit hatte, mich hochzuarbeiten. Demokratie und Freiheit sind nicht selbstverständlich. Dass ich gewählt worden bin, hat nichts mit meiner Herkunft zu tun. Das ist ein Signal.
Berührungsängste Ihrerseits gegenüber den Rechtspopulisten gibt es nicht?
Eine persönliche Diskussion mit einem AfD’ler hatte ich noch nicht. Ich werde auch nie jemanden persönlich angreifen. Das ist der falsche Weg. Es geht um Inhalte – und diese werde ich vertreten. Klar, eine Partei wie die AfD muss man bekämpfen – aber nur mit Argumenten. Feuer mit Feuer zu bekämpfen ist der falsche Weg.
Spielt Rassismus in ihrem Alltag generell eine Rolle?
Gott sei Dank nicht. Ich habe bisher noch nie Rassismus erlebt in meinem Alltag. Das liegt vielleicht an meinem Naturell. Ich bin sehr offen. Fest steht aber auch: Rassismus, egal welcher Art, muss man entgegenwirken (lacht herzlich). Oder vielleicht habe ich doch schon persönlich Rassismus erlebt, aber ihn nicht so wahrgenommen (lacht wieder)?
Ich fahre ja immer mit dem Zug von Passau nach Berlin. Mein Auto steht dann immer auf einem Parkplatz in der Nähe des Bahnhofes. Und als ich dort nach einem Berlin-Aufenthalt wieder angekommen bin, stand auf der verstaubten Heckscheibe meines Wagens mit Grafenauer Kennzeichen „Scheiß Waidler“ geschrieben. Ich war so stolz. Wow! Ich bin ein Waidler! Das hat mich so berührt – positiv.
Eintritt in die Freiwillige Feuerwehr als Schlüsselmoment
Passend zu diesem Thema: Ist der Waidler in Berlin das, was der Flüchtling in der Welt ist? Eher ein Außenseiter?
Meine ursprüngliche Herkunft, die ja durch mein Aussehen deutlich wird, wird in Berlin komplett ausgeblendet. Vielmehr wird in mir der Bayer, der Waidler, gesehen. Das ist aber weder positiv noch negativ. Die Persönlichkeit ist ausschlaggebend. Es war jetzt nicht so, dass ich belächelt worden bin, weil ich ein Waidler bin. Solche Vorurteile gibt es nicht.
Wie ist denn der Waidler eigentlich?
Bodenständig. Die Leute hier leben wie in einer Familie. Es dauert etwas, bis man dazugehört. Aber gehört man mal dazu, wird man immer zur Familie gehören.
Seit wann gehören Sie zu dieser Familie? Gibt es da den einen Moment?
Ehrlich gesagt fühle ich mich schon immer als Mitglied der Familie. Als Kind habe ich das gar nicht richtig realisiert. Erst später wurde mir bewusst, wie gut ich aufgenommen worden bin. Im Rückblick war der eine Moment wohl der Eintritt in die Freiwillige Feuerwehr.
„Böse Kommentare sind Seltenheit“
Themawechsel, aber irgendwie dann doch nicht. Sie sind in den Sozialen Medien sehr aktiv, posten viele Dinge – auch aus ihrem privaten Leben. Wie nehmen Sie den Umgang beispielsweise in Facebook wahr – auch und vor allem wegen Ihres Migrationshintergrundes?
Ich erinnere mich an meinen Post bei Facebook, in dem ich mich gegen eine Impfpflicht ausgesprochen habe. Da ging es schon ordentlich rund. Aber nicht gegen mich, sondern die Leute bekriegten sich untereinander. Das hat sich so hochgeschaukelt, das hat mir im Herzen weh getan. Corona hat unsere Gesellschaft sehr gespalten. Sehr traurig.
Das ist ein Beispiel. Und wie ist es um den generellen Umgang bestellt?
Ich bin ja nicht nur bei Facebook aktiv. Sondern auch auf Instagram und bei TikTok. Und aus meiner Sicht ist der gegenseitige Umgang sehr positiv. Ich werde unter anderem gelobt, dass ich es als Nicht-Akademiker in den Bundestag geschafft habe. Böse Kommentare sind die absolute Seltenheit. Oder ich nehme sie einfach unbewusst gar nicht wahr.
„Die Storys mancher Politiker sind echt langweilig“
Wie ausschlaggebend waren Ihre Social-Media-Aktivitäten für den Wahlerfolg?
Einer von vielen Faktoren. Ich habe während des Wahlkampfes bewusst keine Werbekampagnen gestartet. Ich wollte mich nur durch meine Arbeit messen lassen. Und offensichtlich war das der richtige Weg.
Finden Sie Plattformen wie Instagram, TikTok oder Facebook oberflächlich?
Nichts geht über das persönliche Gespräch. Soviel steht fest. Man muss wissen, wie man welches Sprachrohr einsetzt. Die Mischung macht’s. Mit Inhalten wird man auf TikTok keinen Erfolg haben. Dort sind andere, vor allem private Sachen gefragt. Facebook ist hingegen eher die Plattform, auf der man Inhalte teilen kann. Social Media ist unsere Zukunft. Deshalb sehe ich es als Aufgabe eines Politikers, sich mit diesen Themen auseinander zu setzen.
Was gar nicht so einfach ist.
Die Storys mancher Politiker sind echt langweilig, das stimmt schon. Da steckt dann meistens ein PR-Team dahinter, das ein Bild postet und ein paar Zeilen dazuschreibt. Kein Mensch liest das. Die persönliche Note ist sehr wichtig. Das muss von Herzen kommen. Dann hat es Erfolg.
Interview: Stephan Hörhammer und Helmut Weigerstorfer
_________________
Im zweiten Teil des Hog’n-Interviews spricht Muhanad Al-Halak über konkrete politische Inhalte und Schwerpunkt seiner Arbeit in Berlin. Er thematisiert den Ukraine-Krieg, geht auf die Entlastungspakete der Bundesregierung ein – und erklärt, welche Einflussmöglichkeiten er als eines von vielen Bundestagsmitgliedern auf die Bundespolitik hat.