Passau/München. Vor 28 Jahren ist er in die SPD eingetreten. Seitdem arbeitet Christian Flisek in in verschiedenen parteipolitischen Funktionen an kommunalpolitischen Themen, unter anderem im Passauer Stadtratsgremium (seit 2014). Zwischen 2013 und 2017 gehörte er dem Deutschen Bundestag an – seit diesem Jahr ist der gebürtige Wattenscheider erstmals als Abgeordneter im Bayerischen Landtag vertreten. Das Ergebnis seiner Partei bei der Bayernwahl bezeichnet der 44-Jährige im Interview mit dem Hog’n als „katastrophal“. Verunsicherung sei das derzeit vorherrschende Gefühl innerhalb der SPD, „Wunden lecken“ stehe auf der Tagesordnung.
Zudem wollten wir von dem Passauer Rechtsanwalt wissen, wie groß der Einfluss der Bundespolitik auf die SPD-Wahlniederlage bei der bayerischen Landtagswahl war, welchen Anteil Spitzenkandidatin Natascha Kohnen seiner Meinung nach daran hatte, ob nicht gerade jetzt der richtige Zeitpunkt für die SPD gekommen ist, sich etwas weiter links der Mitte zu positionieren – und wie er den Aufstieg der Grünen bewertet.
„Die SPD ist der Blitzableiter, weil sie solange mitregiert“
Herr Flisek, was überwiegt nach den Landtagswahlen 2018: Die Freude ob des eigenen Einzugs in den Landtag – oder die Enttäuschung ob des sehr schwachen SPD-Ergebnisses?
Die Enttäuschung über das katastrophale SPD-Ergebnis überschattet alles. Wir kämpfen gerade in weiten Teilen Niederbayerns mit der 5-Prozent-Hürde. Ich habe es in Passau gerade mal so geschafft, den niedrigen Trend auf bayerischer Ebene bei den Erststimmen abzubilden, also um die zehn Prozent geholt.
Die Katastrophe zeigt sich auch in der Landtagsfraktion. Ich bin neben dem ehemaligen Landrat von Coburg, Michael Busch, das einzige Neumitglied. Die Fraktion ist geschrumpft von 42 auf 22, also hat sich fast halbiert. Da ist immer noch Wunden lecken angesagt. Doch dafür haben wir eigentlich keine Zeit, weil die Kommunalwahl 2020 als nächster großer Test für die Bayern-SPD bereits vor der Tür steht. Wir müssen jetzt nach vorne schauen.
Das persönliche Ergebnis, dass ich auf der Liste von Platz vier auf zwei vorgewählt wurde, freut mich. Dass es am Ende für ein Mandat gereicht hat, war einfach Glück. Wenn wir kein Ausgleichsmandat bekommen hätten, wären wir zahlenmäßig in Niederbayern nur bei einem Grundmandat gelegen. Wie gesagt: Der Einsatz und der Fleiß wurde am Ende belohnt durch Glück (lacht). So wie ich bei der Bundestagswahl mit einem schlechten Listenplatz Pech hatte, hat sich das Blatt nun wieder gewendet.
Wie würden Sie derzeit die allgemeine Stimmung innerhalb der Bayern-SPD beschreiben?
Es herrscht Verunsicherung vor – bei den ganz normalen, langjährigen Mitgliedern bis hin zu unseren kommunalpolitisch engagierten Gemeinde-, Stadt- und Kreisräten. Bei der Landtagswahl konnten wir uns überhaupt nicht freimachen vom Bundestrend. Jetzt haben wir eine Situation, in der die SPD auf Bundesebene seit 1998 – bis auf vier Jahre – regiert, entweder als Kanzlerpartei oder als Juniorpartner. Wir haben an und für sich eine gute Gesamtlage im Land – und trotzdem gibt es auf der Gefühlsebene eine gewisse Unzufriedenheit. Die SPD ist dabei der Blitzableiter – allein aufgrund der Tatsache, dass sie nun solange mitregiert.
Den großen Einfluss der Bundespolitik auf die Bayernwahl hatte auch MdL Max Gibis im Hog’n-Interview bereits angesprochen. War deren Strahlkraft tatsächlich derart groß, dass man in Bayern keine durchschlagenden Akzente mehr setzen konnte?
Es gab das Mega-Thema Migration und Flüchtlinge. Wir haben trotzdem versucht, bestimmte Themen in den Vordergrund zu rücken, bei denen sich auch die Mehrheit der Bevölkerung angesprochen fühlt. Wie bekomme ich in den Ballungsgebieten bezahlbaren Wohnraum? Wie schaffe ich gleichwertige Strukturen und Lebensverhältnisse, z.B. beim Breitband-Ausbau? Wie kann ich künftig eine flächendeckende, qualitativ-hochwertige Gesundheitsversorgung garantieren? Wie bekomme ich den Pflegenotstand beseitigt?
Wenn Sie die Leute danach fragen, sagen Ihnen vermutlich 80 Prozent: Ja, das sind unsere Probleme. Trotzdem haben wir es nicht geschafft, damit durch zu dringen.
Unseriös: „Kritik am Wahlabend kann ich nicht ernst nehmen“
Woran lag’s?
Wir hatten Angst, bei dem einen Mega-Thema konkret zu werden. Wenn man sich das Wahlergebnis anschaut, ist viel Protest zu erkennen. Die Leute, die glauben unser Wohl läge in Abschottung und neuem Nationalismus, haben AfD gewählt. Andere Protestwähler haben die Grünen gewählt. Die etablierten Parteien sind abgestraft worden. Das war in Hessen nicht anders.
Zuwanderung und Migration ist in unseren eigenen Reihen ein zutiefst emotionales Thema. Es war in meiner Partei die Angst spürbar, sich dazu zu äußern. Viele dachten: Wir halten lieber die Füße still, weil das Thema sonst noch weiter befeuert wird. Nichts dazu zu sagen habe ich aber immer für grundfalsch gehalten.
Es galt 2015 eine humanitäre Katastrophe mitten in Europa abzuwenden. Die Wahrheit ist: Wir, die Union und die SPD, haben dabei gemeinsam Fehler gemacht. Und die SPD wird mit Sicherheit eines nicht tun: Diese Fehler schön zu reden und alles zu wiederholen. Genau das aber ist die Politik der Kanzlerin. Wir müssen aus diesen Fehlern lernen und die Konsequenzen ziehen. Dazu gehört etwa, dass wir endlich mit einem Zuwanderungssteuerungsgesetz in die Pötte kommen – mit klaren Kriterien für wirtschaftliche Migration usw. Doch all diese Punkte sind bislang verschwiegen worden. Das war mit Sicherheit ein großes Problem.
Welchen Anteil hatte Spitzenkandidatin Natascha Kohnen, Vorsitzende der Bayern-SPD, an der Wahl-Niederlage?
Als Spitzenkandidat hat man immer einen großen Anteil – insbesondere, wenn man, wie Frau Kohnen, einen personalisierten Wahlkampf führt. Ich gehöre aber nicht zu denjenigen, die, wenn’s mal nicht so gut läuft, gleich lauthals fordern die Köpfe abzuschlagen. Natascha Kohnen hat versucht einen eigenständigen, von neuen Formaten geprägten Wahlkampf zu machen, der sich vom klassischen Auftreten der CSU etwas abhebt.
Ich muss ehrlich sagen: Die Leute, die am Wahltag um 18.15 Uhr die bereits vorgestanzte Analyse aus der Schublade hervor holen, müssen sich die Frage gefallen lassen, warum sie nicht drei Monate zuvor in den einzelnen Gremien das Maul aufgerissen und etwas dazu gesagt haben. Nachher ist man immer schlauer. Und wenn’s funktioniert hätte, hätten sie alle gejubelt. Aber um 18.15 Uhr sich hinzustellen und zu sagen, die Kohnen ist schuld, ist unseriös. So eine Kritik kann ich nicht ernst nehmen.
Was glauben Sie: Wenn Natascha Kohnen von Verjüngung spricht, nimmt sie sich selbst aus?
Frau Kohnen kennt ihr Alter. Aber eines steht für mich auch fest. Verjüngung bedeutet für mich in erster Linie frische politische Ideen zu haben, die für die Bürger wirklich relevant sind. Das hat nicht immer etwas mit dem biologischen Alter zu tun. Oft sind die Ideen eines älteren, aber querdenkenden Menschen frischer, als die eines angepassten jungen.
„Haben innerhalb der Gesellschaft eine kulturelle Kampflinie“
Natascha Kohnen will ja SPD-Vorsitzende bleiben. Ist sie die richtige Frau an der Spitze der Bayern-SPD, die sie aus der Misere wieder herausführen kann?
Die Entscheidung, den Parteitag vorzuziehen, war klug. Nach aktuellem Stand ist Natascha Kohnen die einzige Kandidatin. Das heißt: All diejenigen, die sagen, sie sei nicht die Richtige, sind nun dazu angehalten eine Gegenkandidatur zu präsentieren. Jetzt muss sich jemand hinstellen und sagen: Ich kann’s besser!
Sehen Sie derzeit eine Alternative zu Natascha Kohnen innerhalb der Bayern-SPD?
Ich sehe momentan niemand Konkreten. Aber in solchen Funktionen gibt es immer Alternativen.
Werden Sie für den Landesvorstand der Bayern-SPD kandidieren?
Nein.
Hat die SPD mit ihrer aktuellen Ausrichtung denn noch eine Zukunft? Oder wäre es nicht an der Zeit, sich etwas weiter links zu positionieren?
Gute Frage. Ich sag’s Ihnen ganz offen: Ich denke, dass wir mit dem klassischen Links-Rechts-Schema überhaupt nicht mehr weiterkommen. Die Frontlinie in unserer Gesellschaft verläuft nicht mehr zwischen den Progressiven auf der linken Seite und den Konservativen auf der rechten. Die Faktoren, die die neue Front schaffen, sind Themen wie Digitalisierung, Globalisierung und Beschleunigung.
Es gibt einen großen Teil innerhalb der Bevölkerung, der bei diesen Themen mit Stress reagiert – unabhängig vom Beruf, vom sozialen Milieu, von Geschlecht und Alter. Sie sagen alle: Ich will da nicht mehr mitmachen – das ist alles zu komplex und zu überfordernd und macht mir Angst. Und dann suchen die Mitglieder dieses Teils nach etwas, an dem sie sich festhalten und an dem sie identitätsstiftend andocken können. Der andere Teil der Bevölkerung hingegen sieht eine erhebliche Chance in all diesen Entwicklungen und arrangiert sich damit.
Wir haben innerhalb der Gesellschaft also eine kulturelle Kampflinie, die nicht mehr mit links und rechts definierbar ist. Phasen erheblicher gesellschaftlicher Umbrüche wie diese bringen unglaublich viele Stressfaktoren für viele Menschen mit sich. Darauf hat Politik kluge Antworten zu geben.
„In den eigenen Betreuungswahlkreisen bin ich Generalist“
Weniger SPD-Abgeordnete heißt größere Aufgabenbereiche für jeden Einzelnen – sowohl inhaltlich als auch geographisch. Wie versuchen Sie, diesen Aufgaben gerecht zu werden?
In Niederbayern haben wir – Gott sei Dank – zwei Abgeordnete. Das bedeutet: Die neun Stimmkreise haben wir, Ruth Müller und ich, aufgeteilt in zwei Bereiche. Ich werde zuständig sein für Passau Ost und West, für Freyung-Grafenau und Regen sowie für den Stimmkreis Deggendorf. Das bringt ein erhebliches Mehr an Arbeit mit sich. Ich sehe das jedoch als Herausforderung und Chance. Ich kann nicht überall gleichzeitig sein, klar, aber ich kann so einen anderen Überblick bekommen über die Strukturen und unterschiedlichen Regionen innerhalb des Regierungsbezirks.
In den eigenen Betreuungswahlkreisen bin ich Generalist. Man ist für alles zuständig. Das ist auch das Schöne an der Arbeit als Landtagsabgeordneter, wenn die Bürger mit ganz normalen Problemen auf einen zukommen. Auf der anderen Seite hat man die fachliche Bezogenheit in den Ausschüssen in München.
Welchem Ausschuss werden Sie künftig angehören?
Das ist jetzt entschieden. Von meiner Berliner Zeit her war ich als Jurist mit dem Rechtsausschuss eng vertraut. Ich habe dort auch klassische Sicherheitspolitik gemacht, Stichwort: NSA-Ausschuss. Ich habe dadurch auch ein sehr gutes Lagebild vor Augen, was die innere Sicherheit unseres Landes betrifft. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass mich meine Fraktion nun mit der Aufgabe des Sprechers im Ausschuss für Recht und Verfassung betraut hat. Hier kann ich nahtlos an meine bisherige berufliche und auch politische Erfahrung anknüpfen.
Daneben habe ich auch noch eine zweite Sprecherfunktion bekommen, nämlich für Wissenschaft, Hochschulen und Kunst – ein klassisches Thema in der Kompetenz der Bundesländer. Ich freue mich sehr auf diese Arbeit, weil ich unsere Region als ambitionierte Hochschulregion sehe. Ich unterstütze zudem den Gedanken, in Passau eine starke medizinische Fakultät zu etablieren. Ich war ja der erste Politiker, der das Thema im Wahlkampf auf den Tisch gebracht hatte. Darin sehe ich eine große Chance – nicht nur für Passau, sondern für die gesamte Region. Stichwort: hochwertige medizinische Versorgung im ländlichen Raum, die mit der Digitalisierung im Medizinbereich einhergeht.
Im neuen Koalitionsvertrag steht, dass die Staatsregierung 2.000 neue medizinische Studienplätze in Bayern schaffen möchte – das ist dringend notwendig. Es macht überhaupt keinen Sinn die angehenden Mediziner nur noch nach Noten und Numerus Clausus auszuwählen. Wenn ich ein guter Chirurg sein möchte, muss ich in erster Linie ein guter Handwerker sein. Ich brauche als Arzt soziale Kompetenzen – und das spiegelt sich nicht unbedingt ausschließlich in einem guten Abiturschnitt wider.
Wir müssen die Studienplätze weiter erhöhen – und wir werden uns dafür stark machen, dass diese 2.000 Studienplätze nicht nur bei den etablierten medizinischen Fakultäten geschaffen werden, sondern auch an möglichen neuen Standorten, wie etwa Passau.
„Die Grünen laufen Gefahr, dass sie beliebig werden“
Kommen wir zu den Grünen: Sie waren überaus erfolgreich bei den Wahlen, haben auch viele Stimmen von ehemaligen SPD-Wählern erhalten. Ist grün das neue rot? Wie bewerten Sie deren Aufstieg?
Die Grünen waren im Wahlkampf frisch und charmant. Frischer und charmanter als wir. Die Doppelspitze hat gut gewirkt – vor allem bei jungen Leuten. Ich will den Grünen da jetzt auch nichts madig reden – aber auch bei ihnen gibt es durchaus populistische Strömungen. Wenn man bei den ganzen Themen einmal etwas tiefer bohrt, stößt man ganz schnell auf den Boden der Tatsachen…
Ich gönne den Grünen ihren Erfolg und hoffe, dass sie etwas Vernünftiges daraus machen. Ich persönlich habe immer für rot-grüne Projekte gearbeitet. Ich habe aber in Berlin bereits gemerkt, dass wir uns ein Stück weit aus den Augen verloren haben, weil die Grünen sich von ihrer Rolle als SPD-Mehrheitsbeschaffer emanzipieren wollten. Das ist ihnen gelungen.
Doch jetzt laufen sie Gefahr, irgendwann beliebig zu werden. Sie können mal eben schnell zu einer grün-lackierten FDP verkommen, es gibt bei den Grünen auch sehr konservative Strömungen. Ich hoffe dennoch, dass wir irgendwann wieder einmal zusammenfinden, um den gesellschaftlichen Aufbruch und Fortschritt weiter zu forcieren.
Wie gesagt: Sie sind attraktiv, sie sind frisch, sie haben viele junge Kandidaten…
Hat die SPD denn keine jungen Kandidaten?
Ja, gut, in der Politik ist man mit 44 Jahren noch jung… (lacht). Im Ernst: Wir müssen uns den Nachhaltigkeitsthemen widmen – das ist für uns, wenn wir junge Wählergruppen erreichen wollen, essenziell. Für junge Leute ist das die soziale Frage schlechthin.
„Müssen uns von den Gewerkschaften etwas freimachen“
Also weg von den klassischen SPD-Themen hin zu…
Nicht weg, nein. Wir brauchen beides. Ich bin davon überzeugt: Keine andere Partei ist aufgrund ihrer Erfahrung in der Lage, Ökologie, Ökonomie und Soziales so auszubalancieren, dass es am Ende zu etwas Konstruktivem führt – auch im Industrieland Deutschland. Wir sind eine Industrienation – und deren Grundlagen müssen erhalten bleiben. Da bedarf es wirtschaftlichen Sachverstand, Sensibilität für einen sozialen Ausgleich und mehr Empfindsamkeit für Nachhaltigkeitsthemen.
Das ist in der SPD leider bisher nicht immer der Fall. Das hat damit zu tun, dass wir manchmal in einigen Bereichen – wie etwa dem Energiesektor – eine zu enge Bindung an die Gewerkschaften haben. Da müssen wir uns ein Stück weit davon freimachen.
Interview: Stephan Hörhammer und Helmut Weigerstorfer
Im zweiten Teil unseres großen Nachwahl-Interviews haben wir uns mit MdL Christian Flisek über die neue, schwarz-orange Regierung Bayerns unterhalten und ihm die Frage gestellt, wie er es schafft, die Nähe zu den Menschen im Bayerischen Wald herzustellen. Zudem wollten wir von ihm wissen, wie er sich den Erfolg der Rechtspopulisten von der AfD in seinem Wahlkreis erklärt – und ob denn der „Wink mit dem Zaunpfahl“ seitens der Wähler bei ihm und seinen Genossen angekommen ist…