Waldkirchen. Früher Morgen in der Klasse 3a, kurz nach Unterrichtsbeginn an der Grundschule Waldkirchen. Wobei von klassischem Unterricht an diesem Tag nicht die Rede sein kann. Dafür sorgt die Passauer Musikerin Christiane Öttl, die seit Anfang des Schuljahres mit ihrem Projekt „Wir komponieren“ (da Hog’n berichtete) durch die regionale Grundschullandschaft gondelt und dabei Buben und Mädchen eindrücklich vor Augen führt, was ein kreatives Fach wie Musik alles leisten kann.
Die jüngste Entscheidung des bayerischen Kultusministeriums, die Fächer Musik, Kunst und Werken an Grundschulen zusammenzulegen, stößt vielerorts auf Fassungslosigkeit. Widersinnig und absolut kontraproduktiv sei es, auf diese Weise die Schulbildung verbessern zu wollen, heißt es von vielen Seiten. Eine Ansicht, die auch Projektleiterin Christiane Öttl teilt.
„Alle Antworten sind richtig“
Bei „Wir komponieren“ ist es egal, ob die Kinder schon einmal etwas gehört haben von Großmeistern wie Mozart und Beethoven oder von zeitgenössischen Werken. Es ist egal, ob die Kinder ein Instrument spielen oder nicht; ob sie in einem Chor singen, schon einmal in einem Konzert waren oder perfekt Deutsch sprechen. Alle starten vom gleichen Punkt aus – ohne Theorie, ohne nötige Vorkenntnisse. Christiane Öttl holt sie dort ab, wo sie stehen. Zunächst mit einem Arbeitsheft, das hilft, den Prozess in Gang zu setzen.
Die Schüler dürfen ihre Lieblingsinstrumente eintragen, ihre liebste Jahreszeit benennen, tauschen sich dann mit ihrem Gegenüber aus und erfahren über dieses „Vor-Spiel“, dass sie bei diesem Projekt nichts falsch machen können, denn so verschieden die Einträge auch sind: „Alle Antworten sind richtig“, versichert die Dozentin und lässt die Kinder diesen wichtigen Satz laut vorlesen. Überhaupt ermuntert sie die Buben und Mädchen immer wieder, laut und deutlich zu sprechen, statt schüchtern leise zu sein, schließlich sollen die Ideen für die Komposition aus den jungen Köpfen selbst kommen. Das ist das erklärte Ziel des Vormittags.
„Jede einzelne Person soll ihren Platz bekommen und gehört werden“, erklärt die Initiatorin, die für Projekte wie dieses extra einen Verein gegründet hat. Der Name: Dreisatz Kultur e.V. Unter diesem Dach können die Fördergelder generiert werden, die es für die Umsetzung braucht. Einer der Sponsoren von „Wir komponieren“ ist der Landkreis Freyung-Grafenau. Er trägt auf diesem Weg dazu bei, dass im laufenden Schuljahr rund 80 Grundschulklassen im ostbayerischen Raum in den Genuss kommen, ein eigenes Lied zu kreieren.
Die Köpfe rauchen
Aber wovon soll das Lied eigentlich erzählen? „Von Tieren“, lautet ein Vorschlag; vom Wald, von der Klasse, von einer Familie, von Hexen und Piraten, von Fußball, Nigeria oder von einer Semmel. Die Stoffsammlung gerät zu einer wilden Mischung, die strukturiert werden will und auf einige Begriffe beschränkt werden muss. „Wie machen wir das?“, will die Musikerin wissen. „Wir stimmen ab!“ Die Antwort kommt sofort und zeigt, dass die Kinder vertraut damit sind, demokratisch eine Mehrheitsentscheidung herbeizuführen. Gewinner sind die Begriffe „Klasse 3a“, „Tiere“ und „Semmel“.
Den Grundschülern macht das Projekt offenbar Spaß. Sie melden sich fleißig, merken aber auch, dass das Ganze durchaus anstrengend ist. „Ich finde es schwierig, aus diesen Wörtern eine Geschichte zu machen“, räumt der Blondschopf ein, der bis dahin mit besonders kreativen Gedanken aufgefallen ist. Die Köpfe rauchen. Schließlich steht fest, dass die Kinder der Klasse 3a in eine Zaubersemmel beißen und sich infolgedessen in Tiere verwandeln. Dazu passende Wörter werden gesucht – und Begriffe, die sich darauf reimen. Zoo-Floh, normal-egal-royal, Wal-Mahl, ausgedacht-Schicht im Schacht.
Zusammen werden Sätze formuliert, die als Liedzeilen taugen, anschließend in eine Reihenfolge gebracht, mit der sich eine Geschichte konstruieren lässt. Der Ausflug in den Zoo, die Zaubersemmel, die Verwandlung der kleinen Menschen in Tiere. Alle dürfen sagen, welches Tier sie sein wollen. Dieser Part verhilft jedem einzelnen Kind nacheinander und für einen kurzen Moment zu einem Solo-Auftritt. Es braucht ein paar Durchläufe, bis alle wissen, wann sie dran sind, und bis alle so laut sprechen, dass sie gut zu verstehen sind. Aber mit jeder Wiederholung klappt es besser. Und auch die Kinder, die zwischendurch ein wenig Konzentrationsprobleme zu haben scheinen, sind mit einem Mal wieder voll bei der Sache.
Ein bisschen tiefer – ein wenig höher
Der Text hat Formen angenommen. Gemeinsam werden die Liedzeilen laut vorgelesen. Mit Christiane Öttls Anleitung stellt sich auch der Rhythmus immer klarer ein. Ein Mädchen fängt an, mit dem Kopf mitzunicken, ein Bub klopft den Takt mit einem Fuß, ein anderer schwingt den Arm wie ein Dirigent den Taktstock. Allmählich schleicht sich in das Sprechen ein Singsang ein – und die ersten Tonfolgen kristallisieren sich heraus. „Die Melodie ist von Anfang an da“, erklärt Öttl lächelnd, „sie muss nur gefunden werden.“
Das Lied soll an der einen oder anderen Stelle „ein bisschen tiefer“ oder „ein wenig höher“ klingen, finden die Kinder. Christiane Öttl nimmt die Ideen auf und setzt sie um, soweit es sich machen lässt, jetzt auch mit Hilfe einer Gitarre. Sie begleitet den 18-stimmigen Chor in zwei Probedurchgängen, lässt die Klasse in manchen Passagen sogar schon alleine singen, denn viel Zeit bleibt nicht mehr. Um 12.40 Uhr wird das Werk vor Publikum uraufgeführt. Doch wenigstens die Flöten sollen noch integriert werden, die ein paar Kinder extra von daheim mitgebracht haben. Die kleinen Instrumentalisten üben eine vierreihige Tonfolge ein, die mehrmals im Lied wiederkehrt.
„Ich bin aufgeregt“, flüstert eine der Flötistinnen, als sich die Klasse auf den Weg zur Premiere in die Turnhalle macht, wo bereits andere Schulkinder, Lehrkräfte und Eltern warten. Tatsächlich scheint sie das Lampenfieber aber ganz gut im Griff zu haben, als sie sich zusammen mit den anderen Akteuren im Halbkreis aufstellt und das Lied der Waldkirchner 3a vorträgt.
„Nicht normal-royal“
Das Publikum lächelt, erstaunt, was da an einem Vormittag entstanden ist, lacht, weil das Stück durchaus witzig und aufgrund des Reimzwanges auch ein wenig „nicht normal-royal“ ist – und applaudiert am Schluss von Herzen. Stolz darauf, weil alle ihre Sache gut gemacht haben.
„Tolles Projekt“, urteilen die Lehrkräfte. Das motiviert natürlich, zumal dieses Feedback auch von den anderen teilnehmenden Schulen gekommen ist. „Ich würde ‚Wir komponieren‘ gerne im nächsten Schuljahr weiterlaufen lassen“, sagt Musikerin Christiane Öttl, erst recht nach den angekündigten Einschnitten aus dem Kultusministerium…
Karin Mertl
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Wer das Projekt unterstützen will, findet dazu alle Infos unter www.dreisatzkultur.de