Passau. „Der Mensch braucht Kunst, weil sie ein Teil seiner selbst ist“, rezitiert Konstantin Wecker den österreichischen Komponisten und Dichter Georg Kreisler. An einem kleinen Holztisch sitzend, das Publikum gebannt seinen Worten lauschend, stellt der mittlerweile 73-Jährige Liedermacher im Passauer Dreiflüssestadion die überaus aktuelle Frage, wie systemrelevant die Kunst eigentlich sei – und erläutert auf der provisorischen Bühne, die sich auf der Tartanbahn gegenüber der Zuschauertribüne befindet, dass jener Begriff etwa auf den Handel mit Waffen bzw. deren Herstellung heute offenbar sehr wohl zutreffe. Warum sonst würde trotz Corona so viel Geld in diesem Bereich umgesetzt werden? Weckers Conclusio: „Die Kultur ist nicht für dieses System relevant, aber vielleicht für ein anderes.“ Konzertabend mit einem Unermüdlichen.
Veranstalter und Kulturmanager Till Hofmann hat mit seinem „Eulenspiegel Flying Circus“ den Münchener Kult-Musiker nach Passau geholt, wobei zunächst die Corona-Umstände es erforderlich machten, dass aus dem geplanten Trio mit Fany Kammerlander und Jo Barnikel an der Ortsspitze ein Solo-Auftritt im Fußball-Stadion wurde – und sich daraus wiederum aufgrund einer kurz vor Konzerttermin zugetragenen Handverletzung Weckers ein Duett zustande kam. Nämlich mit der Pianistin, Sängerin und Songwriterin Sarah Straub (34), die er einst als Hochschuldozent unterrichtete und die im vergangenen Jahr ein Album mit seinen Liedern einspielte.
„Wir haben Angst vor der Angst“
Mit der 1975er-Nummer „Ich singe, weil ich ein Lied hab“ leiten die beiden den angenehm sommerlichen Abend – ein konstanter Wechsel aus Liedern und Lesungen – ein, was die gut 400 Zuhörer mit Wohlwollen quittieren. Sogleich folgt ein Auszug aus Weckers Biografie „Das schrecklich schöne Leben“, der vom Erwachsenwerden handelt. Er selbst habe sich erst mit 50 dazu entschlossen und fordert heute – halb singend, halb lesend -, „dass unsere Gesellschaft pubertärer sein muss“. Genauso gelte es zu erkennen, dass die Kinder schuldlose Wesen seien und man sie vom „Moralismusgetöse“ fernhalten solle. Die Stimmung im Publikum entpuppt sich während Weckers Lesungen stets andächtig, konzentriert, aufmerksam. So, als wolle es all seine Lebenserfahrungen und -weisheiten in sich aufsaugen und keinesfalls verpassen.
Etwa den Teil, als er tief blicken lassend auf ein dunkles Kapitel seiner Biografie eingeht: die Zeit des Höhepunkts seiner Drogensucht, kurz vor seiner Verhaftung. „Vielleicht wär’s gscheida g’wesn, ich wär damals in der Psychiatrie gelandet“, blickt er heute auf jenen Abgrund zurück. Auch das Thema Angst bekommt seinen Platz in Weckers Repertoire: „Wir haben Angst davor, nicht geliebt zu werden, weil wir selbst keine Liebenden sind“, ruft er den Leuten zu. Genauso Statements wie: „Wir haben Angst vor der Angst.“ Oder: „Die Angst verleiht dem System, das uns unterdrückt, Flügel.“ Ja, die seelisch-geistigen Aspekte spielen nach wie vor eine große Rolle auf Weckers Bühne. Da passt es umso mehr, dass er mit Sarah Straub eine studierte Psychologin an diesem Abend an seiner Seite hat.
„Der Kapitalismus nimmt uns die Butter vom Brot, nicht die Flüchtlinge“, darf freilich auch der überzeugte Sozialist und Linke in ihm nicht zu kurz kommen. Dazu passend sein Lied „Das Leben will lebendig sein“, das er nach den Ausschreitungen in Chemnitz im Sommer 2018 schrieb und in dem es heißt: „Wer in Freiheit leben will, darf nie gehorsam sein.“
„Es bleibt nicht mehr so viel Zeit“
Weckers antifaschistisches Kampflied „Sage Nein!“ tragen er und Straub in einer „gegenderten Version“ vor, da in der Ur-Version mit der Hausfrau nur eine einzige weibliche „Berufsbezeichnung“ vorkommt. Der Applaus des Publikums fällt umso begeisterter aus, als beim Refrain das Echo der Stimme des 73-Jährigen sich wie Donnerhall durch das Rund des Stadions bewegt. „Was keiner wagt“ ist ein ebenso typischer Wecker-Song, der mit Zeilen wie „Was keiner sagt, das sagt heraus/ Was keiner denkt, das wagt zu denken/ Was keiner anfängt, das führt aus“ den nimmermüden Widerständler, den ewigen Protestler, den sich niemals Anpassenden in ihm bedient.
Dass er nichts vom Patriotismus hält, dass die Welt nie aufhören darf über den Holocaust nachzudenken und dass dem Nationalismus keine Freiheit zugrunde liegt, sondern er der Anfang vom Ende ist – all das wollen seine Fans hören. Ja, er hat es nicht verlernt, den Leuten aus der Seele zu sprechen, den Schwachen und Abgehängten, den Gescheiterten und Vergessenen eine Stimme zu geben. So wie seine Münchener Oma, die – wie so viele andere auch – der Gentrifizierung zum Opfer fiel, was er und seine musikalische Begleiterin mit einem sehr nachdenklichen wie rührenden Stück den Anwesenden vor Augen führen. „Die meisten Leben nicht, sie werden gelebt“, gibt er sich dabei ganz philosophisch.
„Ich habe viele Lieder auf mich umgemünzt, weil ich sie wie Konstantin fühle“, verrät Sarah Straub, nachdem sie einen neuerlichen Wecker-Hit in ihrer Version vorträgt. Gesanglich erinnert sie dabei das ein oder andere Mal an eine Musical-Darstellerin. Die beiden harmonieren jedenfalls recht gut auf dem kleinen Podium – auch als sie das Publikum zum Mitsingen einladen und gemeinsam mit ihm zur Melodie von Beethovens „Ode an die Freude“ Sätze wie „Lasst uns jetzt zusammenstehen/ Es bleibt nicht mehr so viel Zeit/ Lasst uns lieben und besiegen/ Wir den Hass durch Zärtlichkeit„. Er, der in die Jahre gekommene Dichter und Denker, Gaukler und Sänger – sie, die junge, attraktive, ganz in schwarz gekleidete Pianistin mit den grellrot gefärbten Haaren.
Und nach eineinhalb Stunden kommt er dann doch nicht umhin, sich selbst an den Bösendorfer zu setzen und einhändig Zugaben wie „Stirb ma ned weg“ anzustimmen, das er Anfang der 90er mit dem italienischen Musiker Lucio Dalla einspielte und nun gemeinsam mit Sarah Straub vorträgt. Das Flutlicht brennt mittlerweile, die Temperaturen sind immer noch angenehm. Ein Hauch von „Notte Magica“ im Dreiflüssestadion.
Ein schonungsloser Spiegel der Gesellschaft
Ja, Wecker ist Philosophie, ist Poesie, ist Psychologie. Er ist die personifizierte Konfrontation mit einem selbst, mit seinem Innersten. Mit den eigenen Werten, Gedanken und Verhaltensweisen. Er ist ein Mahner, ein schonungsloser Spiegel der Gesellschaft, der einem die eigenen Unzulänglichkeiten und Abgründe offenbart. Wecker ist Seelenarbeiter, ist Therapeut und Wegbegleiter. Wecker geht dahin, wo’s weh tut – und wo auch die Freude sitzt. Und genau deshalb lohnt es sich, eines seiner Konzerte zu besuchen.
Stephan Hörhammer