Schönberg. Wenn man in den Aufzeichnungen und Chroniken alter Zeiten blättert, stößt man häufig auf Großfamilien. Es war nicht selten, dass noch vor gar nicht vielen Jahren zehn, zwölf oder gar noch mehr Kinder in einer Familie lebten. Einen reichen Kindersegen sah man damals als „Gottesgabe“ – insbesondere im Bayerischen Wald. Verhütung oder gar Abtreibung waren Fremdworte, die man gar nicht erst in den Mund nahm. Man hatte auch keine Angst, dass viele Kinder nicht ernährt werden könnten. Vielfach verbreitet war der Standpunkt: „Gott gibt sie, Gott wird auch helfen.“
Sicherlich hatte man auch nicht den Lebensstandard wie heute. Man kannte keine Waschmaschinen, keine Wäschetrockner, keine Fernsehapparate, keine Staubsauger oder gar Autos. Damals wurde einfach geheiratet, auch wenn man nicht gleich ein Haus oder von den Eltern eine Erbschaft zu erwarten hatte. Wichtig war, dass man sein Auskommen hatte, auf dem man eine Familie gründen konnte.
Vielfach stand auch nicht die Liebe im Vordergrund. Wichtig war vor allem für viele Frauen, für das restliche Leben versorgt zu sein. Meist waren die Mädchen in der kleinen elterlichen Landwirtschaft beschäftigt, Berufe und schulische Ausbildung wie in der heutigen Zeit gab es für sie kaum – und so mussten sie, wenn die vielen Mäuler am Tisch nicht mehr ernährt werden konnten, aus dem Haus. Es blieb nichts anderes übrig als zu heiraten, auch wenn es oft nicht der Richtige war. Man raufte sich zusammen, oft trotz oder auch wegen vieler Kinder.
Und dann stand sie mit zehn Kindern alleine da
Es gab aber auch Ausnahmen, so wie bei Familie Saffenreuther. Hier war sehr wohl auch Liebe mit im Spiel. Das Ehepaar Anna und Herbert Saffenreuther verstanden sich ausgezeichnet, obwohl sie ihr ganzes Leben lang Schicksalsschläge zu verkraften hatten und die Not immer mit am Tisch saß. Das Ehepaar heiratete bereits in jungen Jahren. Sie wohnten in Wildenranna bei Wegscheid, wo sie versuchten, sich eine Existenz aufzubauen. Gleich zu Beginn mussten sie jedoch in ihrer vielversprechenden Schweine- und Kälberzucht aufgrund einer eingeschleppten Krankheit alle Tiere schlachten – und sie standen vor dem Nichts.
Vier Kindern hatte das Ehepaar bereits das Leben geschenkt: Irmgard, Elfriede, Anni und Walter wurden knapp hintereinander geboren. Vater Herbert bekam eine Anstellung bei der Post und wurde nach Hauzenberg und Bayerisch Eisenstein versetzt. Dort kam das fünfte Kind namens Paul zur Welt. 1938 gelangte das Ehepaar noch Schönberg, wo es das kleine Haus des „Postboten Binder“ bezog, das man später nur das „Saffenreuther-Häusl“ nannte. In den Jahren 1938 bis 1943 kamen hier die Kinder, Karl, Doris, Hedi, Klara und Else zur Welt.
Herbert Saffenreuther wurde schließlich zu den Waffen gerufen. Trotz zehn Kindern musste er an die Front. Am 18. März 1944 ist er gefallen. Was dies für die Familie bedeutete, braucht man wohl nicht erläutern. Anna Saffenreuther stand nun mit zehn Kindern alleine da. Diese schwere Kriegs- und Nachkriegszeit konnte wohl nur eine Frau bewältigen, die eiserne Nerven, große Kraft, viel positive Lebenseinstellung und Gottvertrauen hatte. Die größeren Kinder mussten schon früh für den Lebensunterhalt mitsorgen – und die kleineren mitaufziehen. Die Mutter selbst musste zu den Bauern in die Arbeit, um die nötigen Lebensmittel zu bekommen.
Es gab nichts, was sie so leicht aus der Bahn werfen konnte
Nach dem Tode des Vaters war auch kein Geld im Hause. Die Entnazifizierung dauerte bis 1948. In dieser Zeit erhielt Anna Saffenreuther nur 250 Reichsmark vorläufige Rente. Sozialhilfe gab es damals nicht. Kurz vor der Währungsreform wurde die Nachzahlung der Rente in Höhe von 10.000 Reichsmark zwar noch ausbezahlt. Bereits wenige Tage später war das Geld jedoch wertlos…
Die Familie schlug sich von da an mehr schlecht als recht durch. In einem gemieteten Garten baute man Gemüse an, von den Kindern wurden Waldfrüchte gesammelt und Seegras gezupft, das man zu Zöpfen flocht und an die Schönberger Sattler verkaufte. Für einen Zentner erhielten sie zwölf Mark. Die Buben betätigten sich als Alteisen- und Altpapiersammler – und trotzdem war das Geld Mangelware in der Familie. Das Brennholz schlugen die Buben und Mädchen mit Genehmigung des Forstamtes im Wald selbst, denn zum Kauf von Kohle reichten die Mittel nicht.
In den 50er Jahren wurde das Grundstück und das „Saffenreuther-Häusl“ vom damaligen Besitzer verkauft und eine Zwangsräumung gerichtlich angeordnet. Niemand wollte der großen Familie eine Wohnung vermieten. Schließlich wies man die Saffenreuthers in das „Gottsacker Sigl-Haus“ ein (dieses wurde später, bei der Erweiterung der Deggendorfer Straße abgerissen). Die Kinder wurden nach und nach erwachsen und suchten sich Arbeit in der Fremde. Anna Saffenreuther selbst zog zu ihren Kindern, zuerst nach Mietzing bei Deggendorf, dann nach Deggendorf und München.
Viele Schicksalsschläge hatte die Waidlerin über sich ergehen lassen müssen – zuerst den Verlust des geliebten Ehemannes, die Versorgung der zehn Kinder. Die Tatsache, dass eines ihrer Enkelkinder im Alter von 21 Jahren ermordet wurde, nahm sie schwer mit. Und schließlich musste sie auch noch der Tochter Anni ins Grab schauen. Abgesehen davon, dass sie in ihrem Leben ganze 90 Monate lang, also siebeneinhalb Jahre, schwanger war, hatte sie viele schwere Krankheiten zu überstehen. Dank ihrer robusten Gesundheit hat sie Bauch-, Myom-, Gallen- und Krebsoperationen, Gürtelrose und einen Wirbelsäulenbruch überstanden. Anna Saffenreuther war immer eine lustige, lebensfrohe Frau – es gab nichts, was sie so leicht aus der Bahn werfen konnte.
Sie wohnte zuletzt bei einer ihrer Töchter in Wildenranna. Ihren 90. Geburtstag wollte sie jedoch in Schönberg feiern, wozu sie mehr als 40 Familienangehörige in das „Hotel zur Post“ eingeladen hatte. Es war eine schöne Feier, bei der sie einige ihrer Erlebnisse erzählt hat.
Sie waren die „Kelly-Family“ von Schönberg
Trotz der Not, die ständiger Lebensbegleiter war, verstand Anna Saffenreuther es die Familie zusammen zu halten. Musik und Gesang waren bei ihnen zu Hause. Sie waren die „Kelly-Family“ von Schönberg. Vater Herbert, ein begnadeter Sänger, war gewillt, die Kinder schon früh an die Musik heran zu führen. Mit ihren Heimatliedern, mehrstimmig gesungen, erfreuten die Saffenreuthers viele Menschen. Die Musik und der Gesang ist allen bis heute geblieben. Vor allem Paul, der Fünftgeborene, ist ein bekannter Sänger geworden, der bei verschiedenen Chören mitwirkte und als Solist auftrat. Wenn er in Schönberg ist, nutzt er jede Gelegenheit, sein Können zu Gehör zu bringen.
Eben dieser Paul schwärmt heute noch von den Kochkünsten seiner Mutter. Trotz der immer gegenwärtigen Not erinnert er sich gerne an die herrlichen Fasten- und Mehlspeisen, an die Kartoffelsuppe, an den Milirahmstrudl, an die Krautfleckerl und an die Kartoffelnudeln in der Rein sowie an die „Buamabola“ in der Pfanne. Gleichfalls unvergessen sind der Kaiserschmarrn und der Sterz, auch wenn er manchmal mangels Fett in der Pfanne „gescheppert“ hat.
An die Erdäpfel-Maultaschen, Rainstritzel und Rohrnudeln, Reiwadatschi sowie an die Mehlsuppe mit Kartoffeln erinnert er sich ebenso gerne. Das gute Krautg’mias, die Kümmelkartoffeln, das süße Kraut mit Einbrenn und die saure Suppe mit Oal sind ihm bis heute im Gedächtnis geblieben. Nur äußerst selten gab es Schweinebraten mit Reiberknödel und Sauerkraut – und wenn, wurde es gut ausgebraten, damit man viel Soße erhielt, worin man die Knödel eintunken konnte. „Dies alles waren besondere Spezialitäten der Mama“, erzählt Paul.
Im Nachthemd dem Dieb hinterher
Anna Saffenreuther war eine tapfere Frau. Gleich nach dem Krieg, um 1947/48 rum, hatte sie ein aufregendes Erlebnis. Schon seit Wochen lauerte sie auf einen Dieb, der sich in ihrem bescheidenen Haus immer nachts bediente. Er war bereits des Öfteren ins Gebäude eingestiegen, um sich am Werkzeug, an Wertgegenständen, die ohnehin spärlich vorhanden waren, sowie an Wäsche und Nahrungsmitteln zu vergreifen. Sogar aus dem Kinderzimmer hatte er Sachen mitgenommen, die für ihn wertlos waren.
Eines Nachts, als Anna Saffenreuther wieder einmal wachte, sah sie plötzlich einen Taschenlampenschein an der Wand des Nachbarhauses entlang leuchten. Im Nachthemd schlich sie sich in den Wohnraum und verfolgte den Dieb hinterrücks durch den Raum. Das weiße Nachthemd muss ihn geblendet haben, denn plötzlich ließ er – so erzählte man sich – einen Pickel und einen vollen Sack fallen, in dem er sein Diebesgut verstaut hatte und entfernte sich schleunigst durch das Fenster.
Sie hatte den Dieb erkannt und verfolgte ihn noch auf der Straße in Richtung Marktplatz. Einen Mann, der ihnen entgegen kam, bat sie, sofort zur Polizei zu laufen und den Einbruch zu melden. Dieser verweigerte jedoch die Hilfe aus guten Grund, denn: Er war selbst auf Raubzug. Der Dieb des Saffenreuther-Häusls jedoch flüchtete und ließ sich tagelang nicht mehr blicken. Letztendlich hatte ihn dann der damalige Polizist Heinz Groll nach vielen Tagen in einem Kornfeld aufgestöbert und verhaftet. Bei der Hausdurchsuchung des Diebes wurde festgestellt, dass dieser ein ganzes Warenlager zusammen gestohlen hatte. Er musste dafür eine längere Gefängnisstrafe absitzen.
Breitbeinig und mit ausgestreckten Armen
Typisch für ihre Furchtlosigkeit war ein weiterer Vorfall, der im Markt Schönberg lange erzählt wurde. Einmal ist einem Landwirt ein Pferdegespann durchgegangen und niemand traute sich es aufzuhalten. Erst als die wilde Meute zwischen dem damaligen Pfab-Haus und dem Saffenreuther-Häusl angekommen war, fanden die Pferde ihre Meisterin. Geistesgegenwärtig stellte sich Anna Saffenreuther in der Engstelle dem Pferdefuhrwerk breitbeinig und mit ausgestreckten Armen in den Weg, ergriff waghalsig die Zügel der Pferde und ließ sie nicht mehr los, bis das Fuhrwerk zum Stehen kam. Dieses Geschehnis brachte ihr damals viel Respekt in der Bevölkerung ein…
Anna Saffenreuther ruht mittlerweile in der Ewigkeit. Ihr menschliches Verhalten ist ihr gewiss gelohnt worden.
Sepp Sager