Val d’Isere/Herzogsreut. Auch wenn es letztlich nur gut 20 Sekunden waren, die er auf der Piste verbracht hat, ehe er ausgeschied, ist es nun amtlich. Der Traum wurde zur Realität: Jonas Stockinger hat sechs Wochen nach der bitteren Sölden-Erfahrung sein erstes Weltcup-Rennen bestritten. Der Riesenslalom im französischen Val d’Isere wird deshalb nicht nur für ihn immer in besonderer Erinnerung bleiben. Sondern auch für seine Familie und Freunde, seinen Heimatverein, den SC Herzogsreut, und den gesamten Bayerischen Wald, der endlich wieder ein alpines Ski-Ass hervorgebracht hat.
„Muss über sein Limit gehen“
So ist es auch ein positives Gefühl, das bei ihm überwiegt, als das Onlinemagazin da Hog’n am Montagmorgen den 24-Jährigen, frisch angekommen in seiner Heimat, erreicht. Das vorzeitige Ausscheiden hat der junge Bursch längst aufgearbeitet und verdaut. „Natürlich könnte man im ersten Moment in den Schnee beißen“, blickt Stockinger noch einmal zurück. „Man muss aber über sein Limit hinausgehen, um im Weltcup bestehen zu können. Und dann passieren einfach Fehler. Lieber scheide ich aus, und weiß, dass ich alles gegeben habe, als dass ich den Schönheitspreis bekomme und unter meinen Möglichkeiten bleibe.“
Rückschläge gehören im Leistungssport dazu. Und was Enttäuschungen betrifft, ist der Herzogsreuter, wie inzwischen hinlänglich bekannt, ein gebranntes Kind. Mittlerweile kann er jedoch all diese Steine auf seinem Weg richtig einordnen. „Das Mentale ist so wichtig“, weiß er. „Durch intensives Training in diesem Bereich habe ich es geschafft, eine Selbstsicherheit reinzubekommen, durch die ich mich nicht mehr so leicht aus der Bahn werfen lasse. Ich bin in schwierigen Momenten gelassener als manche Leute glauben.“
„Wie blöd kann man sich überhaupt anstellen?“
Auch zwischen Sölden und Val d’Isere erlebte „da Meijna“, wie er in seinem Heimatdorf genannt wird, wieder einmal Höhen und Tiefen. Anfang November knickte er beim Treppensteigen um. „Erst wollte ich es überspielen. Das war aber nur so lange möglich, bis ich nicht mehr draufsteigen konnte und der Knöchel extrem angeschwollen ist. Ich werde sehr selten blau, wenn ich mich verletzte – das war aber dieses Mal der Fall.“ Bange Momente. Glück im Unglück. Denn nach eingehender Untersuchung stellte sich heraus, „dass nur feine Bandstrukturen“ betroffen waren. „Trotzdem denkt man sich: Wie blöd kann man sich überhaupt anstellen?“
Mit der Unterstützung seines Athletik-Coaches Sepp Maurer war Stockinger rechtzeitig zum Trainingslager in Finnland wieder fit. Dort holte er sich trotz einer kleinen Erkältung Mitte November den Feinschliff für die Wintersaison – gewann im Hohen Norden u.a. ein FIS-Rennen. Er war also bereit. Bereit für sein tatsächliches Weltcup-Debüt. Davor stand allerdings noch der Europacup in Zinal (Schweiz) an. „Ein sehr wichtiges Rennen. Über viele Punkte im Europacup kann ich mir einen Fixplatz im Weltcup sichern.“ Den ersten Durchgang am 7. Dezember versiebte der SC’ler, ehe er im zweiten Lauf die drittbeste Zeit in den Schnee zauberte. „Und auch da waren Teilstücke einfach nur zum Vergessen.“
„Schlimmste Fahrt meines Lebens“
Für eine genauere Analyse blieb allerdings keine Zeit. Raus aus den Skischuhen, rein ins Auto – der deutsche Ski-Tross musste schließlich weiter von Zinal nach Val d’Isere reisen. „Diese vier Stunden waren die schlimmste Fahrt meines Lebens. Noch nie habe ich eine derart kurvige Strecke gesehen.“ Doch Stockinger ließ all das an sich abperlen. Selbst als ihn sein Vorbild Felix Neureuther am Samstagmorgen ansprach, verlor Jonas Stockinger nicht seinen Fokus. Später beschrieb ihn der Ex-Weltmeister in der ARD „als netten Burschen“ und „richtig guten Typen“.
„Man versucht, alles auszublenden. Aber das ist bei so einem besonderen Ereignis natürlich nicht komplett möglich“, gibt Jonas Stockinger offen zu. „Gerade im Starttunnel war ich bestimmt nervös.“ Dass es vor ihm der ein oder andere Athlet mit hoher Startnummer in den zweiten Durchgang, der gleichbedeutend mit Weltcup-Punkten gewesen wäre, geschafft hat, nahm der durchaus wahr. Mehr aber auch schon nicht, weil es „ja letztlich mir nichts bringt.“ Und nach gut 20 Sekunden „Pistenzeit“ wären derartige Gedankengänge ohnehin komplett umsonst gewesen.
Zwei Möglichkeiten in Alta Badia?
In seiner Heimat ist man dennoch stolz auf Jonas Stockinger. „Super, dass es endlich mit dem ersten Weltcup-Start funktioniert hat – auch wenn es schade ist, dass es nicht wie gewünscht geklappt hat. Aber ein Ausfall kann immer passieren – und das haut Jonas sowieso nicht um“, weiß Roland Duschl, erster Vorsitzender des SC Herzogsreut. Stockingers Vater Andreas, seit jeher sein größter Forderer und Förderer, macht deutlich: „Schön, dass er seinen ersten Weltcup hinter sich gebracht hat. Gott sei Dank ist er unspektakulär ausgeschieden und unverletzt geblieben.“
Es zählt nicht nur das Ergebnis, sondern allen voran die Erfahrung. Das weiß auch der 24-Jährige mit etwas Abstand umso mehr. „Es steht fest, dass ich mithalten kann. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis es soweit ist – und ich in den zweiten Durchgang komme.“ Die Möglichkeit dazu besteht bereits am kommenden Wochenende: Am Sonntag (17. Dezember) und Montag (18. Dezember) stehen in Alta Badia (Südtirol) gleich zwei Riesenslalom-Wettbewerbe auf dem Plan. „Ich denke, ich bin dabei – auch wenn es wieder einmal noch nicht zu 100 Prozent fix ist.“ Ungewissheiten der kleineren Kategorie, die dazugehören – und die „da Meijna“ locker wegstecken kann, wie man inzwischen weiß…
Helmut Weigerstorfer