Sölden/Herzogsreut. Der Tag danach. Montagmorgen. Jonas Stockinger ist noch eine Nacht im Öztal geblieben, um die Ereignisse vom Sonntag sacken zu lassen. Am 29. Oktober hätte der große Traum des 24-Jährigen in Erfüllung gehen sollen. Nach vielen Jahren und noch mehr Mühen und Entbehrungen stand der Herzogsreuter vor seinem Debüt im Ski-Weltcup. Doch es kam – wie so oft im bisherigen Sportler-Leben des jungen Mannes – anders als erwartet. Der Riesenslalom im österreichischen Sölden wurde witterungsbedingt abgebrochen. „Ich bin glücklich und traurig zugleich“, versucht Stockinger seine Gefühlslage zu beschreiben.
Glücklich, weil das Ski-Ass endlich wieder einmal die Sonnenseiten des Sports erleben durfte. Dies gestaltete sich nämlich in der jüngsten Vergangenheit meist anders. Weil der Rücken zu sehr zwickte und in der Folge Top-Resultate ausgeblieben sind, wurde der Waidler vor der vergangenen Winter-Saison aus dem DSV-Kader gestrichen. „Im ersten Moment habe ich mich damals schon gefragt: Wie soll es nun weitergehen?“ Die Antwort darauf fand er in Neukirchen beim Heiligen Blut. Genauer gesagt in der Sportschule „Kinema“ von Sepp Maurer. Dort trainierte er auf eigene Faust – mit der Motivation, es sich selbst und allen anderen zu beweisen, dass er zurückkehren kann.
Vererbte Stehaufmännchen-Mentalität
Stockinger kam dabei seine Stehaufmännchen-Mentalität zugute, die nicht nur ihn auszeichnet, sondern generell seiner Familie nachgesagt wird. „Aufgeben gibt’s nicht“ – unter diesem Motto kämpfte sich der Herzogsreuter zurück auf die Piste. Verlassen konnte er sich dabei stets auf den Rückhalt seiner Verwandtschaft. Und auch sein Arbeitgeber, die Bundeswehr, ließ ihn nicht hängen. „Das Ganze ist etwas kompliziert: Obwohl ich nicht mehr zum Kader gehörte, hatte ich nach wie vor Kaderstatus“, berichtet er über das komplexe Fördersystem. „Und deshalb war ich weiterhin Teil der Sportförder-Gruppe der Bundeswehr und zumindest finanziell abgesichert.“
„Rausschmiss“ positiv
Der für den SC Herzogsreut startende Rennläufer konnte somit weiter am Europa-Cup teilnehmen – und Werbung in eigener Sache betreiben. Das gelang ihm. Das wohl größte Ausrufezeichen im vergangenen Winter setzte er mit dem Titel bei den Deutschen Meisterschaften im Riesenslalom. Erfolge, die bis zur DSV-Führungsriege vordrangen. Im Sommer wurde er daher wieder in den Kader berufen, war wieder offizielles Mitglied des Europa-Cup-Teams. Rückblickend stellt Stockinger fest: „Auch wenn es enorm bitter war: Der Rausschmiss hat mich weitergebracht. Ich habe viel dazu gelernt – vor allem über mich selbst.“ Und er ist endlich beschwerdefrei. Topfit. „Sepp Maurer war ein Glücksfall – ohne den Rausschmiss, hätte ich ihn wohl nie kennengelernt.“
Und dann stand das Tor zum Weltcup nach einem langen, beschwerlichen Weg plötzlich offen. Nach dem verletzungsbedingten Ausfall von Stefan Luitz, hat sich nach und nach abgezeichnet, dass Stockinger einen der begehrten Startplätze im Weltcup erhalten wird. „So richtig ausgeredet hat aber zunächst keiner.“ Erst als das Euro-Cup-Team nach Schweden flog und es hieß, der Herzogsreuter solle in Deutschland bleiben, wurde es langsam konkreter. Am Mittwoch, 25. Oktober, ist er schließlich offiziell nominiert worden – nur vier Nächte vor dem Wettbewerb. „Das macht nix“, kommentiert Stockinger in seiner typisch pragmatischen Art jene Kurzfristigkeit. „Spontaneität gehört dazu.“
„Ich war etwas nervös vor dem Rennen“
Der Skizirkus ist unberechenbar. Da es sich um eine Freiluft-Veranstaltung handelt, die vom Wetter abhängig ist. Und weil auf Weltverbands-Ebene – wie in vielen anderen Sportarten auch – die sportlichen Argumente eine meist untergeordnete Rolle zu spielen scheinen. Die medialen Diskussionen rund um den frühen Weltcup-Auftakt in Sölden bekam Stockinger freilich mit. „Ich habe mich aber nicht genauer damit beschäftigt, weil ich mich auf mich selbst konzentrieren wollte. Nur soviel: „Der frühe Start in die Saison ist ungewohnt – und deshalb für mich eine neue Situation.“ Gewisse für Sportler so wichtige Abläufe wurden somit über den Haufen geworfen. „Gerade deshalb war ich etwas nervös vor dem Rennen am Sonntag.“
Obwohl er das gesamte Wochenende über mit Szene-Größen wie Alexis Pinturault und Henrik Kristoffersen trainiert hatte und sah, dass er mithalten konnte, nahm die Anspannung nicht unbedingt ab. Das lange Warten auf den Start aufgrund der hohen Startnummer sowie die Unterbrechung des Wettbewerbs wegen des zu starken Windes taten ihr Übriges. „Ich würde lügen, wenn mich das alles kalt gelassen hätte.“ Mehr und mehr zeichnete sich dann ab, dass der Riesenslalom komplett abgesagt werden muss. „Dennoch konnte ich die Spannung nicht abfallen lassen. Ich hätte ja bereit sein müssen, wenn es doch weitergeht.“
Tat es aber nicht. Und dann fiel er doch in ein kleines Loch. „Ich bin erst einmal nur wehmütig dagestanden. Dann habe ich langsam meinen Rennanzug ausgezogen. Und dann war ich wieder positiv gestimmt.“
„Sölden war kein Rückschlag, sondern nur der Anfang“
„Die Piste war gut präpariert. Er hätte trotz hoher Startnummer reelle Chancen auf die Top-30 und somit die Qualifizierung für den zweiten Lauf gehabt. Er hätte sich endlich beweisen können – deshalb ist der Abbruch sehr schade“, blickt Andreas Stockinger, Jonas‘ Papa, auf die Geschehnisse am vergangenen Wochenende zurück. Er selbst war mit einer Herzogsreuter Abordnung in Sölden vor Ort mit dabei. „Das war höhere Gewalt“, lautet das Fazit des Vaters. „Und die Entscheidung, das Rennen nicht weiterlaufen zu lassen, deshalb richtig.“
Seitdem sein Sohn erstmals auf zwei Brettern stand, glaubt der Senior freilich auch weiterhin an ihn, sein Talent – und seine Chance. „Ich unterstütze ihn, wo es nur geht. Ich leide mit und freue mich mit.“ Für ihn steht fest: „Sölden war kein Rückschlag, sondern nur der Anfang.“
Start in Val d’Isère: „Schaut nicht schlecht aus“
Davon ist man auch in Herzogsreut überzeugt. Das ganze Dorf drückte seinem sportlichen Aushängeschild die Daumen. Jonas war am Fuße des Haidels schier allgegenwärtig. Man hoffte mit ihm – und nahm Anteil an seinem Fast-Weltcup-Debüt, wie Roland Duschl, erster Vorsitzender des SC Herzogsreut, berichtet: „Jonas hat so lange dafür gekämpft beim Weltcup an den Start zu gehen. Alles war angerichtet, das ganze Dorf stand hinter ihm. Dass es dann kurz vor seinem Start abgebrochen werden muss, ist natürlich extrem bitter. Aber die nächste Chance kommt bestimmt.“
Und diese ist auch schon terminiert: Der nächste Riesenslalom-Weltcup findet am 9. Dezember in Val d’Isère statt. „Ich glaube, es schaut nicht schlecht aus, dass ich dabei bin“, zeigt sich Jonas Stockinger vorsichtig optimistisch. Bis zur nächsten Möglichkeit, sich seinen Weltcup-Traum zu erfüllen, ist ihm aber keine Pause vergönnt. Er muss im Training weiterhin sein Bestes geben. Am 8. Dezember steht zudem ein Europa-Cup-Start in der Schweiz auf dem Plan. Und auch bei der dorfinternen Dart-Meisterschaft in Herzogsreut ist er mit von der Partie. Nicht einberechnet: Unwägbarkeiten, die zu seinem Sportler-Leben dazugehören. Und die ihn zu dem haben werden lassen, der er nun ist. Ein Athlet mit Leib und Seele, der mit Rückschlägen umzugehen gelernt hat…
Helmut Weigerstorfer