Arnbruck/München. Es gibt wohl nur wenige Waidler, die derart Karriere gemacht haben wie er: 1957 erblickte Josef Käser (später: Joe Kaeser) in Arnbruck (Landkreis Regen) das Licht der Welt – und eroberte von dort aus den globalen Wirtschaftssektor im Sturm. Von 2013 bis 2021 war der heute 65-Jährige Vorstandsvorsitzender des deutschen Global Players Siemens. Nach der Umstrukturierung des Großkonzerns wurde er Aufsichtsratsvorsitzender der Siemens Energie AG und der Daimler Truck Holding AG.
Erst kürzlich hat der ehemalige Siemens-Boss im Rahmen der Reihe „Auf ein Wort mit…“ vor Besuchern der Freyunger Freybühne gesprochen. Im Nachgang hat sich Kaeser nun mit den Fragen des Onlinemagazins da Hog’n insbesondere zu den Themenfeldern Wirtschaft und Politik, auseinandergesetzt – und dies auf eine erfreulich tiefgehende Arte und Weise. Zudem verrät er im ersten Teil des Interviews , ob er im Rückblick auf sein Leben noch einmal alles genauso machen würde…
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Herr Kaeser, wie würden Sie das Zusammenspiel von Wirtschaft und Politik beschreiben?
Joe Kaeser: Die Politik setzt die Rahmenbedingungen – und in diesem Rahmen bewegen sich Unternehmen. Das geschieht idealerweise so, dass die Bedingungen so ausschauen, dass sich Unternehmen entfalten können und auch zum Wohl der Gesellschaft beitragen. Unternehmen sind keine Wohltätigkeitsorganisationen. Sie sollten aber der Gesellschaft dienen. Und das geht am besten aus einer Position wirtschaftlicher Stärke heraus: Wer nicht hat, der kann nicht geben.
Wirtschaftlich stark kann ein Unternehmen nur sein, wenn auch die Rahmen- und Standortbedingungen passen. Und da sind wir wieder bei der Politik. Was klar sein muss im Verhältnis Politik und Wirtschaft: Es gilt das Primat (Vorherrschaft, Dominanz – Anm. d. Red.) der Politik. Das sehen wir auch gerade bei den Sanktionen des Westens gegen Russland und Belarus, die wegen des verbrecherischen russischen Angriffskriegs in der Ukraine erlassen wurden. Die Politik legt Sanktionen fest. Und an diese Sanktionsvorschriften haben sich Unternehmen ohne Wenn und Aber zu halten.
„Politik tanzt nicht nach der Pfeife der Wirtschaft“
Was entgegnen Sie denjenigen, die behaupten, die Wirtschaft würde der Politik diktieren, was zu machen ist?
Joe Kaeser: Natürlich ist es auch Aufgabe von Unternehmen, in einem Gemeinwesen wie in einem Staat ihre Bedürfnisse zu artikulieren und zu sagen, was sie brauchen, damit sie normal arbeiten können. Etwa Planbarkeit bei der Energieversorgung. Schnellere Genehmigungsverfahren, damit ein Windpark nicht erst in zehn Jahren entsteht, sondern vielleicht in einem oder zwei. Oder Anschubinvestitionen in Zukunftstechnologien, bis diese Innovationen Marktreife haben. Denn sind die Rahmenbedingungen erst einmal falsch gesetzt, können sie die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen gefährden – und das kann schnell Industrien aus dem Land vertreiben und viele Arbeitsplätze kosten.
Unternehmen schauen auf der ganzen Welt nach den besten Bedingungen, denn sie konkurrieren mit Firmen weltweit und müssen mehr gewinnen als die nächste Wahl. Insofern sollte es einen stetigen, respektvollen Austausch zwischen Wirtschaft und Politik geben. Dass die Politik nach der Pfeife der Wirtschaft tanzen würde, kann ich aus meinen Jahrzehnten in der Wirtschaft nicht bestätigen. Idealerweise setzt die Politik die Rahmenbedingungen und die Wirtschaft handelt eigenverantwortlich innerhalb dieses Rahmens. Dazu gehören auch strukturelle Maßnahmen. Staatliche Eingriffe in die Inhalte gehen meistens schief. Verbotskultur und auch – gut gemeinter – Hilfsaktivismus schaden am Ende der Wettbewerbsfähigkeit und der Erneuerung.
„Nicht mehr akzeptiert, nur auf den Gewinn zu schielen“
Jedes Wirtschaftssystem überholt sich irgendwann selbst – ist das beim Kapitalismus, der freien Marktwirtschaft, auch langsam, aber sicher der Fall?
Joe Kaeser: Mich treibt wirklich um, wie man die fortschreitende Spaltung der Gesellschaft eindämmt. Und nicht noch mehr Menschen an die politischen Ränder treibt. Wir brauchen eine Gesellschaft, in der es nicht acht Verlierer und zwei Gewinner gibt und der soziale Ausgleich fehlt. Mit einem ungezügelten Kasino-Kapitalismus bringen wir uns in eine Sackgasse. Heute ist es gesellschaftlich nicht mehr akzeptiert, nur auf den Gewinn zu schielen und die Belange der Gesellschaft zu ignorieren.
Vom Nobelpreisträger Milton Friedman stammt aus den 70er Jahren der Spruch: ‚The business of business is business‘ – also: Der einzige Sinn und Zweck eines Unternehmens ist es, Geld zu verdienen. Das hat den Kasino-Kapitalismus und die Wall Street geprägt, reicht aber heute als Anspruch nicht mehr aus.
„Moderner Kapitalismus muss inklusiver Kapitalismus sein“
Unternehmen sind dann wertvoll für eine Gesellschaft, wenn sie junge Menschen ausbilden und ihre Mitarbeiter ein Leben lang fortbilden, indem sie Menschen beschäftigen und faire Löhne zahlen, lokal Waren und Dienstleistungen von Bäckern, Metzgern oder Handwerkern einkaufen, Innovationen vorantreiben, Steuern zahlen, ihre Lieferanten und Kunden anständig behandeln und Ziele wie die CO2-Neutralität engagiert verfolgen. Ein moderner Kapitalismus muss ein inklusiver Kapitalismus sein. Ich spreche gerne von sozial-ökologischer Marktwirtschaft als Nachfolgerin unserer so erfolgreichen Sozialen Marktwirtschaft.
Wenn Sie auf ihre Karriere als Siemens-Konzernchef zurückblicken – was sind die drei wichtigsten Erkenntnisse, die Sie aus dieser Zeit mitnehmen?
Joe Kaeser: Erstens, man kann nur mit einem guten Team erfolgreich sein. Für diejenigen, die an der Spitze stehen, bedeutet das vor allem: sich vor die Kolleginnen und Kollegen zu stellen, wenn es Gegenwind gibt. Und das Team in den Vordergrund zu rücken, wenn die Sonne scheint. Das darf man aber nicht mit Klüngelei und Selbstgefälligkeit verwechseln. Am Ende muss der Chef oder die Chefin die Prioritäten setzen.
Zweitens: Wer dauerhaft erfolgreich sein will, muss Innovationsführer sein. Und das ist man nur, wenn man Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit hoher Kompetenz hat, eine Unternehmenskultur fördert, die Innovationen zulässt und nicht alles Neue von vornherein infrage stellt. Das hat viel mit Vertrauen und Machen-lassen zu tun, ist aber nicht immer ganz einfach.
Blick auf die Umstrukturierungen bei Siemens
Drittens – und das gilt besonders für ein traditionsreiches Unternehmen wie Siemens oder jetzt Siemens Energy, wo ich den Aufsichtsrat leite: Nur wer rechtzeitig handelt und notwendige Veränderungen vorantreibt, bleibt dauerhaft erfolgreich. Wir haben die größte Transformation in der Geschichte des Konzerns angestoßen, weil wir nicht die Letzten sein wollten, die das Licht ausmachen, sondern aus den unterschiedlichen Siemens-Geschäften langfristig erfolgreiche Geschäfte machen wollten. Deshalb haben wir aus einem durchschnittlich erfolgreichen Konglomerat drei fokussierte Unternehmen entstehen lassen: die neue Siemens AG, Siemens Healthineers und Siemens Energy.
Alle drei Firmen sind unabhängig im DAX40 börsennotiert und haben die Voraussetzungen, in ihren jeweiligen Märkten Weltspitze zu sein – oder sind es schon. Healthineers retten Leben, Siemens Energy sorgt für Strom, Wärme und eine nachhaltigere Welt, und die neue Siemens AG macht das Arbeitsleben produktiver und nachhaltiger. Alle Unternehmen machen also etwas Sinnvolles. Was mich besonders stolz macht: Dieser Umbau ging nicht auf Kosten von Jobs, sondern wir haben im Gegenteil die Mitarbeiterzahl deutlich gesteigert. Damit ist Siemens das Unternehmen mit der höchsten Wertsteigerung – der sogenannte Total Shareholder Return – aller DAX-Unternehmen der letzten Dekade geworden.
„Auch Scheitern gehört zur Persönlichkeitsentwicklung“
Wenn Sie auf Ihr Leben schauen – haben Sie alles richtig gemacht? Würden Sie noch einmal alles genauso machen?
Joe Kaeser: Denjenigen möchte ich sehen, der von sich mit Fug‘ und Recht behaupten kann, er hätte immer alles richtig gemacht. Ich würde rückblickend vieles ähnlich machen, denn auch Scheitern gehört für mich zur Persönlichkeitsentwicklung dazu. Aber sicher ist neben dem Berufsleben, in dem oft eine hohe Schlagzahl herrschte und man viel Verantwortung trug, die Familie zu kurz gekommen. Ich genieße es heute beispielsweise, dass mein Kalender selbstbestimmter ist.
Diese Zeit hatte ich für meine Kinder nicht immer – und da stellt man sich schon die Frage: War jede Sitzung in der Firma oder jede Auslandsreise wirklich immer so wichtig, dass man dafür einen für das Kind wichtigen Termin in der Schule oder gar den ersten Schultag verpassen musste? Es ist gut, dass das heute von der neuen Generation meist entspannter gesehen wird.
die Fragen stellten: Stephan Hörhammer und Helmut Weigerstorfer
Im zweiten Teil des Interviews spricht Joe Kaeser über den Klimawandel, den Wirtschaftsstandort Deutschland, die politische Landschaft, den Ukraine-Krieg – und wie viel „Waidler“ noch in ihm steckt…