Frankfurt/Röhrnbach. Er ist eines der Gesichter des Ersten – als einer von drei Moderatoren der ARD-Sendung „Börse vor acht“. Markus Gürne hat aber weit mehr als nur eine schöne Stimme, die regelmäßig vor der Tagesschau einen Blick auf die Entwicklung des Aktienmarktes wirft. Der 51-jährige Journalist hat sich durch seine Tätigkeit eine beachtenswerte Expertise, was den deutschen Finanz- und Wirtschaftssektor betrifft, erarbeitet. Als ehemaliger Kriegsreporter (u.a. im Irak) weiß er zudem, wie militärische Konflikte einzuordnen sind.
Der inzwischen in Frankfurt lebende Schwabe (Geburtsort: Stuttgart) weiß die aktuell besorgniserregende Lage Deutschlands und Europas trefflich einzuordnen. Energiekrise, Preisexplosionen, Ukraine-Krieg – über all diese Themen hat sich Markus Gürne mit dem Onlinemagazin da Hog’n in Röhrnbach unterhalten. Dort hat er dazu im HAIDL-Atrium einen Vortrag gehalten, in dessen Vorfeld dieses Gespräch stattgefunden hat.
Herr Gürne: Mit welchem Adjektiv würden Sie die derzeitige Lage der deutschen Wirtschaft beschreiben?
Schlecht (mit Nachdruck).
„Wir sind ein Land, das viel Geld hat“
Und nun etwas ausführlicher bitte.
Wir sind schon im Krisenmodus. Und wir bleiben es auch noch eine Weile. Wenn wir es allerdings gut machen, kommen wir gut und zügiger als wir alle denken wieder aus dem Krisenmodus heraus.
Was konkret muss gut gemacht werden?
Es müssen entscheidende Weichen gestellt und Abhängigkeiten in vielen Bereichen reduziert werden. Das wird bereits in Angriff genommen. Dazu gehört die Energiewende, die Transformation der Wirtschaft sowie mehr Finanzbildung. Genau das ist mein Steckenpferd. Die Leute in Deutschland haben eine deutlich (besonders betonend) ausbaufähige Finanzbildung.
Drehen wir an an all diesen Schrauben ein kleines bisschen, werden wir die Krise ziemlich schnell meistern. Weil wir ein Land sind, das – entgegen der allgemeinen Meinung – viel Geld hat. Wir haben noch nie so viel Kohle auf privaten Konten rumliegen gehabt wie im vergangenen Jahr. Zudem ist die Staatsverschuldung für ein Land mit unserer Wirtschaftskraft relativ gering.
Was denken Sie: Bekommen wir es hin, an den von Ihnen genannten Schrauben zu drehen?
Auf jeden Fall. Mit dem „Wir schaffen das“ muss man generell etwas vorsichtig sein (schmunzelt) – aber es steht fest: Die Welt geht auch dieses Mal nicht unter.
„Die Talsohle ist noch nicht erreicht“
Sie sind trotz der schlechten Lage also insgesamt positiv gestimmt?
Auf jeden Fall. Schlecht bedeutet ja nicht Endzeit. Jetzt gerade ist es schlecht. Ich denke, es wird auch noch schlechter werden. Die Talsohle ist noch nicht erreicht.
Von welchen Zeitraum sprechen wir, bis es wieder besser wird?
Innerhalb von drei bis fünf Jahren sollten wir es hinbekommen.
Also doch relativ lang für Menschen, die bereits jetzt am Existenzminimum leben.
Ja, das stimmt. Im Krisenmodus befinden wir uns ja auch nicht erst seit Corona oder dem Ukraine-Konflikt. Eigentlich befinden wir uns schon seit 2001, dem 11. September, im Krisenmodus. Dann kam die Finanzkrise, dann Corona, dann Ukraine. So richtig kommen wir aus den Krisenzyklen nicht mehr raus. Führt man sich vor Augen, wie lange wir schon Krise machen, stehen wir eigentlich noch gut da. Und wenn nicht noch eine Krise kommt, ist das ein im Vergleich zu früheren Schwächephasen ordentlicher Zeitraum. (überlegt) Aber schön ist das Ganze natürlich nicht.
Wie konnte es soweit kommen? Welchen Anteil daran hat Corona und welchen der Ukraine-Krieg?
Bereits vor Corona war unsere Wirtschaft krank. Mit diesem Problem kämpfen wir nach wie vor. Corona hat das Ganze dann noch einmal verstärkt – also vor allem Lieferengpässe und Inflation. Ukraine ist nun ein weiterer Brandbeschleuniger. Auf der anderen Seite hat Putin etwas hinbekommen, was Obama, Trump und auch wir Europäer nicht geschafft haben (macht eine Pause)
„Deutschland hat eine sehr widerstandsfähige Volkswirtschaft“
Nämlich zu erkennen, dass Freiheit und Sicherheit keine Selbstverständlichkeit ist. Nun müssen wir eben den Preis dafür zahlen, dass wir frei Leben dürfen. Der Unterschied zu anderen Ländern: Wir können diesen Preis bezahlen.
Wäre die Krise so schlimm, wenn „nur“ die Corona-Misere oder „nur“ der Ukraine-Krieg gekommen wäre?
Jede Krise für sich würde reichen. Vermischen sie sich, bekommt man irgendwann jede noch so vernünftige Volkswirtschaft platt. Deutschland hat eine sehr widerstandsfähige Volkswirtschaft. Aber auch die bekommt man irgendwann kaputt, wenn es mit den Krisen immer so weitergeht. Genau deshalb müssen vernünftige und sehr wichtige Entscheidungen getroffen werden.
Ist die derzeitige Politik, die immer mehr im Kreuzfeuer der Kritik steht, fähig, diese Entscheidungen zu treffen?
Ja. Erst hatten wir 80 Millionen Virologen, nun 80 Millionen Wirtschaftsminister. Regelmäßig haben wir ohnehin schon 80 Millionen Bundestrainer. Ich möchte wirklich mal die Person sehen, die alles besser kann. Ich würde mit keinem Vertreter der Bundes-, Landes- oder auch Kommunalpolitik tauschen wollen. Das ist kein Spaß. Die stochern alle im Nebel. Jeder macht Fehler, wirklich jeder. Aber wir müssen aus Fehlern, die wir gemacht haben, lernen – und sie nicht wiederholen.
„Das viele Geld ist nicht gut verteilt“
Sind denn unsere Politiker lernfähig?
Es gibt einige, die das nicht geschafft haben. In Bayern erinnere ich immer gerne an die Maut, die man mal einführen wollte. Das war handwerklich grottig gemacht. Der Tankrabatt – ebenso. Und jetzt kam die Gasumlage, die nicht kommt. (überlegt) Im Nebel die richtige Richtung zu finden und auch immer mal wieder in den Rückspiegel zu schauen, ist nicht einfach. Die Bundesregierung macht viel, versucht vieles. Die Frage ist: Wie oft kann man daneben treten? Die Schwierigkeit ist, den Fehler als Fehler zu erkennen und ihn dann nicht noch einmal zu machen.
Wie schafft man es, an die vorher von Ihnen erwähnten privaten Gelder zu kommen und somit die wirtschaftliche Lage in Deutschland zu entspannen?
Das viele Geld, das wir haben, ist nicht gut verteilt. Extrem viele Menschen in Deutschland sind in einer Situation, dass Mitte des Monats das Konto leer ist. Und das wird sich noch einmal verschlimmern. Hier muss der starke Staat eingreifen. Vielleicht sagt man dem Finanzamt mal, wer überhaupt keine oder nur sehr wenige Steuern zahlt in diesem Land.
„Es war klar, was passiert“
Von hier muss die Kohle kommen. Denn der größte Hebel, den Putin hat, ist unsere Angst – und dass die Gesellschaft auseinanderfliegt. Am Geld soll es nicht scheitern – und wird es auch nicht. Davon bin ich überzeugt.
Klare Worte.
Das, was an den Finanzmärkten passiert, folgt einem Plan, der in einem kapitalistischen System verfolgt wird. Sogenannte Zyklen kehren immer wieder zurück. Die Notenbanken schrauben nun daran rum – und die Wirtschaft bewegt sich hoch und runter. Aktuell befinden wir uns auf dem absteigenden Ast. Noch einmal: Das ist alles nicht schön. Aber es kommt nicht unerwartet. Es war klar, was passiert. Wir wissen nur nicht, wie stark es ausfällt. Und wenn man weiß, was passiert, muss man entgegensteuern – wie vorher erwähnt.
„Situation bei dein Inflationstreibern wird sich entspannen“
Die Inflationsrate hat mit zehn Prozent einen langjährigen Höchststand erreicht. Sind wir am Ende der Fahnenstange angelangt?
Dass es zweistellig wird, wussten wir schon im April. Jetzt steuern die Notenbanken entgegen – die USA sind ganz weit vorne, die Europäer hinken etwas hinterher, weil wir kein geschlossenes System, sondern unterschiedliche Volkswirtschaften haben. Aber alle gehen in dieselbe Richtung, die da lautet: Zinsen anziehen. Das macht man eigentlich dann, wenn eine Wirtschaft überhitzt und die Inflation hoch ist. (überlegt)
Man kann ja viel behaupten, aber nicht, dass die Wirtschaft überhitzt sei. Wir haben es also mit einem Phänomen zu tun, dass die Notenbanken ihre Werkzeuge auspacken und in die Hand nehmen, um eine Inflation zu bekämpfen. Das ist richtig. Aber die Ursachen der Inflation passen nicht zum Lehrbuch – und damit nicht zum Werkzeug.
Klingt logisch.
Dennoch kann man davon ausgehen, dass sich die Situation bei den großen Inflationstreibern – Stichwort: Energie – entspannen wird. Spätestens dann, wenn die Heizsaison rum ist. Also irgendwann im Frühjahr. Auch kann man mit großer Wahrscheinlichkeit sagen, dass sich die Inflation wieder abschwächen wird. Abschwächen bedeutet: Sie geht von zehn Prozent runter auf sechs oder sieben. Die Inflation wird somit immer noch hoch bleiben – uns sicher noch bis 2024 beschäftigen.
Ein ähnliches Szenario wie vor genau 100 Jahren mit Hyperinflation und neuer Währung droht uns also nicht?
Nein (mit Nachdruck).
„Politische Situation in Russland wird angespannter“
„Nichts hat das deutsche Volk so erbittert, so hasswütig und so hitlerreif gemacht wie die Inflation“ – trifft dieses Zitat von Stefan Zweig auf die aktuelle Zeit zu? Ist das derzeitige Deutschland der ideale Nährboden für Extremisten?
Nein. Die Gruppen, die seit Jahren auf die Straße gehen, finden immer Themen. Ich denke da nur an die Maskenpflicht als Beispiel. Nörgler, Besserwisser und Kritiker aus Prinzip hat es immer gegeben und wird es immer geben. Aber ich traue es meinen Landsleuten zu, dass sie es hinbekommen, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Erstens ist die politische Situation eine deutlich andere und auch bessere. Zweitens ist, wie schon erwähnt, genügend Geld vorhanden.
Apropos Krieg: Als erfahrener Kriegs- und Krisenreporter sowie ARD-Korrespondent im Irak können Sie uns gewiss auch folgende Frage beantworten: Wie wird sich aus Ihrer Sicht die Situation in der Ukraine entwickeln?
Ha! (schmunzelt) Sehr gute Frage (lacht – wird dann ernst)! Ich bin kein Militär. Aber es gibt ein paar Sachen, die auffallen. Erstens: Die riesengroße russische Armee ist offenbar nicht ganz so schlagkräftig wie die Russen selbst immer behauptet haben. Für uns eine extrem wichtige Erkenntnis. Zweitens: Geländegewinne gehen aktuell in die andere Richtung. In der Folge wird die politische Situation in Russland angespannter. Es ist immer lautere Kritik zu hören. Das alles sind Vorzeichen. Bei Dingen, die in Bewegung sind – egal ob in der Wirtschaft oder in der Geopolitik – ist es schwierig, in die Zukunft zu blicken.
Aber?
Die Geschichte zeigt, irgendwann geht jeder militärische Konflikt zu Ende.
Ja, irgendwann…
Das klingt lapidar, ist aber ein wichtiger Punkt. Denn was passiert, wenn dieser Krieg zu Ende geht?
„Putins Geschäftsmodell bricht zusammen“
Sagen Sie es uns.
Stand heute ist es unvorstellbar, dass sich irgendwer weiter mit Herrn Putin an einen Tisch setzen will. Da fallen mir nicht viele ein. Kim Jong-Un vielleicht. Irgendwann aber wird dieser militärische Konflikt in einen politisch-diplomatischen übergehen. Und dann ist ein Blick auf die Weltkarte nicht schlecht: Denn, ob es einem gefällt oder nicht: Russland ist ein Nachbar von Europa.
Irgendwann nehmen wir Putin seinen wichtigsten Trumpf aus der Hand: die Abhängigkeit von seinen Rohstoffen. Die Wirtschaftskraft Russlands basiert auf dem Verkaufsgewinn von Gas, Öl und Kohle. Auch wenn Indien vielleicht was abnimmt, dann sicher nicht zu dem Preis, wie wir das tun. Also bricht Putins Geschäftsmodell zusammen. Und dann haben es er und seine Nachfolger richtig schwer.
WM 2022: „Ich schaue – trotz aller Kritikpunkte“
Das bedeutet?
Die finanzielle Situation Russlands wird sich mittel- und langfristig durch die Sanktionen dramatisch zuspitzen. In Verbindung mit den militärischen Niederlagen auf dem Feld eine ziemlich üble Mischung für einen, der im Kreml sitzt.
Ein etwas leichteres Thema: Schauen Sie WM 2022 in Katar?
Klar, auf jeden Fall. Ich bin sehr überzeugter Nationalmannschafts-Fan und sitze in vollem Ornat zuhause, wenn gespielt wird. Es macht keinen Spaß mit mir solche Spiele anzuschauen, weil ich negative Kritik nicht dulde. Ansonsten bin ich krisenfest, weil mein Heimatverein die Stuttgarter Kickers sind, die einmal gut waren – und jetzt in Liga 5 dahinvegetieren.
WM, Olympia: „Vergabe hat nichts mehr mit Sport zu tun“
Sie schauen also trotz aller medial breit getretener Kritikpunkte?
Ich war im Nahen Osten Korrespondent, da gehören die Golfstaaten mit dazu. Zudem war ich in Indien. Mir ist so ziemlich jedes Leid bekannt. Und ja, klar: Rund um diese WM ist viel Mist gelaufen. Aber wenn wir über Fußball sprechen, ist bei dieser WM mein größtes Problem, dass ich sie irgendwie auf dem Weihnachtsmarkt anschauen muss. Und das geht mir nicht in den Kopf, dass man einen derartigen Sch*** machen kann.
Aber wie lässt sich so eine Geldverschlingungsmaschine – die Winterspiele 2029 in Saudi-Arabien gehören auch dazu – eben jenen Menschen vermitteln, die zur Mitte des Monats nichts mehr auf dem Konto haben?
Es gibt keine anderen Länder mehr, die solche Großveranstaltungen austragen wollen. Findet man keinen Ort mehr, der eine WM oder Winterspiele adäquat durchführen kann, muss man sich überlegen, ob man es nicht ganz bleiben lässt. So eine Vergabe hat ja nichts mehr mit Sport zu tun. Das ist Politik.
Abschließend der Blick in die Glaskugel. Deutschland im Jahr 2030…
…wir zahlen in Euro. Aber nicht mehr bar. Uns geht es gut, sehr gut sogar. Wir sind aus der Krise raus, haben Mordsaufschwung, riesige Wettbewerbsvorteile durch Energie-Autarkie, vernetzte Mobilität, Transformationen in nahezu allen Bereich der Wirtschaft und hoffentlich auch mal im Technologie-Bereich mehr zu bieten als SAP. Aber was wir uns bitte bewahren: Unsere Kultur – und dazu zählt auch der schöne Bayerwald-Dialekt.
Versöhnliche Worte zum Abschluss. In diesem Sinne. Dangschee – und ois Guade!
Interview: Helmut Weigerstorfer