Innernzell. Seitdem seine Schwester vermisst wird, haben im Leben von Simon Ninnemann die betrübten Momente deutlich zugenommen. In diesen Phasen der Depression und Verzweiflung ertappt er sich immer wieder bei einem Gedanken, für den er sich dann aber sogleich schämt. „Wenn wir wüssten, dass sie tot ist, hätten wir wenigstens Klarheit. Manchmal wünscht man sich das“, spricht er die düsteren Eingebungen laut aus. Es folgt eine lange Pause, in der deutlich zu spüren ist, wie das eben Gesprochene den 27-Jährigen aufwühlt. Entschuldigend, aber auch sich selbst Hoffnung machend, ergänzt er dann: „Nein, das darf nicht sein. Meine Mama, mein Bruder und ich sind fest davon überzeugt, dass sie lebt.“
Seit April 2021 ist Lisa Ninnemann wie vom Erdboden verschluckt. Eigentlich wollte die damals 28-jährige Innernzellerin an jenem Nachmittag vor gut eineinhalb Jahren nur kurz nach Grafenau fahren, um dort einzukaufen. Sie kehrte allerdings nicht mehr zurück – bis heute. Die in der Folge von der Polizei organisierte Suchaktion samt Öffentlichkeitsfahndung blieb ohne Erfolg. Das Auto der jungen Frau, die von ihrem Bruder als „Familienmensch“ beschrieben wird, wurde auf dem Freibad-Parkplatz der Säumerstadt gefunden.
„Das passt nicht zu Lisa. Das ist nicht sie!“
Dann ein erster Hoffnungsschimmer: Mitte Mai erreichten den damaligen Arbeitgeber der Abgängigen, die Verwaltungsgemeinschaft Schönberg, zwei Faxe. Kurze Zeit später erhielten die Angehörigen zwei Briefe aus Spanien und Portugal. Der jeweilige Absender laut Unterschrift: Lisa Ninnemann. Während die Polizei diese Mitteilung als eindeutiges Lebenszeichen einstufte und die Vermisstensuche deshalb einstellte, stand für die Familienmitglieder sofort fest, dass diese Botschaften unglaubwürdig sind. „Das passt nicht zu Lisa. Das ist nicht sie. Lisa, so wie wir sie kennen, würde anrufen – keine unpersönlichen Briefe schicken“, machte der Bruder deutlich.
Die Ungewissheit, wo die Tochter bzw. Schwester abgeblieben ist und ob sie überhaupt noch lebt, gehört seit inzwischen 20 Monaten zum Alltag von Martina, Felix und Simon. Die vielen unbeantworteten Fragen liegen bleiern wie ein dunkler Schleier über dem Alltag der Angehörigen, der verzweifelten Zurückgebliebenen. Ein unbeschwertes Lachen ist eine Seltenheit und wenn überhaupt nur für wenige Sekunden möglich, ehe einen die traurige Gegenwart wieder einholt. „Man lernt, damit umzugehen“, verdeutlicht Simon Ninnemann, bevor er seine eigenen Worte verbessert. „Nein. Es ist vielmehr so, dass man lernen muss, damit umzugehen. So hart das klingen mag – und auch ist.“
Bücher gelesen, Fachstellen kontaktiert, Videos geschaut
Das rätselhafte Wegbleiben der inzwischen 30-Jährigen ist nicht nur ein psychischer Schmerz für die Familie. Gerade an ihrem Geburtstag im Sommer oder in der Vorweihnachtszeit wird das seelische Leid regelrecht spürbar. „In diesem Jahr sind auch Oma und Opa gestorben, bei denen wir praktisch aufgewachsen sind. Als wir deren Wohnung ausgeräumt haben, sind viele Erinnerungen an Lisa zutage gekommen“, berichtet Simon Ninnemann und bricht ab – ehe er noch das Wort „hart“ folgen lässt.
Unzählige Stunden hat er seit April 2021 damit verbracht, sich mit Vermisstenfällen aller Art auseinander zu setzen. Er hat Bücher gelesen, mit Fachstellen gesprochen und YouTube-Videos regelrecht aufgesaugt. Hoffnungen wurden geschürt, aber auch sogleich wieder zerstört. Jedes positive Beispiel sorgte für Mut. Traurige Schicksale hingegen wurden ausgeklammert. Wobei die Grenzen hier nach und nach verschwammen. So hat der 27-Jährige natürlich auch den jüngst sich zugetragenen Schönbrunner Vermisstenfall verfolgt. Als der Abgängige tot aufgefunden wurde, stellte sich bei ihm ein Gefühl ein, das – so makaber es klingen mag – dem Neid nicht unähnlich ist. Eine Art Eifersucht auf die Klarheit, die die Hinterbliebenen des Schönbrunners nun haben. Und er nicht.
„Es könnte ja jeden Moment Lisa vor der Türe stehen“
Simon Ninnemann vermisst seine Schwester – mit Haut und Haar. Gleichzeitig ist ihm bewusst, dass sein Seelenschmerz nicht vergleichbar ist mit dem seiner Mutter, die um ihr Kind trauert, sich die Schuld für das alles gibt. „Meine Mama hat schon länger MS. Seitdem Lisa weg ist, hat sich ihr Zustand deutlich verschlechtert“, berichtet ihr ältester Sohn. „Das Haus zu verlassen fällt ihr inzwischen körperlich schwer. Sie will auch gar nicht weg. Denn es könnte ja jeden Moment Lisa vor der Türe stehen.“ Der gelernte KfZ-Mechaniker hat mittlerweile die Rolle des Familien-Oberhauptes eingenommen. Er kümmert sich um den jüngeren Bruder Felix und um die Mama, wobei auch seine Kräfte allmählich schwinden.
„Obwohl wir nicht mehr so viel über Lisa reden, ist sie allgegenwärtig. Die Gedanken sind mit den Händen zu greifen“, sagt der junge Mann. Kurz nach dem Verschwinden hätte die Familie mehrmals die vorausgegangenen Minuten, Stunden und Tage durchgekaut. Jeder Moment vor ihrem Abschied wurde zigmal vor dem inneren Auge durchgegangen. Indizien wurden gesammelt. Manche gesichert, manche zur Seite geschoben. Dabei immer im Vordergrund: nicht die Hoffnung zu verlieren. Simon Ninnemann betont noch einmal: „Hätte sie geplant abzuhauen, hätten wir das gemerkt. Oder sie hat es verdammt gut gemacht. Wir sind aber nach wie vor zu 100 Prozent davon überzeugt, dass sie ungewollt verschwunden ist.“
„Einfach abschließen geht nicht“
Kontakt zu den einst ermittelnden Beamten hatten die Ninnemanns seit der Einstellung der aktiven Suche nicht mehr. Es gibt auch keinen Grund dazu, wie beide Seiten wissen. „Es wird von keinem Unglücksfall mehr ausgegangen“, erklärt dazu Günther Tomaschko, Sprecher der Polizei Niederbayern. „Liegt ein selbstbestimmtes Verlassen des gewohnten Lebensbereiches vor, ist die Polizei außen vor.“
Es gibt auch für die beiden Brüder keinen Ansatzpunkt mehr für weitere, eigenständige Recherchen. „Natürlich haben wir an einen Privatdetektiv gedacht. Doch der ist zu teuer – und auch nicht unbedingt erfolgsversprechend.“ Martina, Simon und Felix sind die Hände gebunden. Sie müssen warten – und auf das Schicksal hoffen. Das Nichtstun ist das schwierige überhaupt. Denn dann kreisen die Gedanken.
„Einfach abschließen geht nicht. Es bleiben immer berechtigte Zweifel“, weiß Marion Waade. Sie ist Sprecherin des Bundesverbandes ANUAS e.V.. Dabei handelt es sich um eine rein ehrenamtlich organisierte Anlaufstelle für Angehörige von Vermisstenfällen. Dass die Familie nach dem Ende der polizeilichen Arbeit weiter hofft, ist der Expertin zufolge völlig nachvollziehbar. „Nun stellt sich die Frage, wie viel Kraft zur Verfügung steht. Deshalb wäre eine professionelle Entlastung und Stabilisierung der Psyche sehr wichtig. Dann ist es auch einfacher, die Energie strukturiert einzusetzen.“
„Lisa, bitte melde Dich!“
Denn es wäre, sollten berechtigte Zweifel bestehen, dass Lisa freiwillig weggegangen ist, möglich, weitere Instanzen zu durchlaufen und somit zu erzwingen, dass von öffentlicher Hand wieder gesucht wird. Dafür sei allerdings ein Anwalt Grundvoraussetzung. Wiederum ein nicht unerheblicher Aufwand – finanziell wie nervlich. Simon Ninnemann hat sich – natürlich – auch mit diesen Möglichkeiten bereits beschäftigt. Noch allerdings konnte er sich nicht dazu durchringen, entsprechende Schritte einzuleiten.
Der 27-Jährige nimmt noch einmal alle Kraft zusammen. Er spricht Worte aus, die er seit April 2021 schon oft gesagt und noch einmal deutlich öfter gedacht hat: „Lisa, wenn Du irgendwo da draußen bist und noch lebst, bitte melde Dich! Uns geht es nur um ein Lebenszeichen! Wir möchten wissen, dass es Dir gut geht!“
Helmut Weigerstorfer
Liebes Redaktionsteam,
vielen Dank erstmal für Ihre sehr sorgfältige und einfühlsame Berichterstattung im Fall Lisa Ninnemann. Damit – sowie nicht zuletzt auch in sprachstilistischer Hinsicht – stechen Ihre Artikel aus dem meist schlampig hingeschmierten Einheitsbrei des Mainstream-Journalismus aufs angenehmste hervor.
Sorry – aber das mußte auch mal gesagt sein dürfen!
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Ihr obiger Artikel zum Vermißtenfall Lisa Ninnemann vom 09.12.22 enthält eine „Neben“-Information, zu der ich trotz ausführlicher Suche nirgends Material finden konnte: nämlich, daß der seit 13. November vermißte Michael Attenbrunner, 44, inzwischen tot aufgefunden worden sei. Meine Frage an Sie: Gibt es hierzu beim „Hog´n“ irgendwelche Artikel, bzw. haben Sie Kenntnis von anderen Quellen? Im Internet konnte ich wie gesagt rein gar nichts dazu finden.
Für entsprechende Informationen wäre ich Ihnen überaus dankbar!
Nebenbei möchte ich noch erwähnen, daß der Fall Ninnemann zu einer sehr großen Zahl an Vermißtenfällen gehört, die sich durch bestimmte, wiederkehrende Anomalien (sic) auszeichnen. Ich recherchiere und dokumentiere solche Fälle seit mittlerweile sieben Jahren und habe auch eine Menge Hintergrundliteratur zu dieser Thematik studiert.
Leider setzt mich das nicht instand, betroffenen Menschen wie der Familie Ninnemann irgendwie zu helfen – es sei denn, Hinterbliebene würden etwa gemeinsam eine Website erstellen, um die Öffentlichkeit auf derartige Fälle samt dem ihnen innewohnenden Muster aufmerksam zu machen (etwa nach dem Vorbild der englischsprachigen Website „Footprints at the River´s Edge“ (Link: https://footprintsattheriversedge.blogspot.com/). Bei so einem Projekt könnte mein umfassendes Recherchematerial vermutlich von Nutzen sein…
In Erwartung Ihrer Rückantwort verbleibe ich
mit allerbesten Grüßen
Ivy Anger (München)