Grafenau. „Jede Ziege hat ihren eigenen Charakter“, erklärt Nadine Blöchinger, Lebensgefährtin des Biobauern Christoph Röckl, beim Betreten der weitläufigen und wolfssicher eingezäunten Weide am Hof in Schildertschlag bei Grafenau. Dutzende der weißen, aus dem Berner Oberland stammenden Saanenziegen – auch als weiße Edelziegen bekannt – recken die Köpfe. Die Frechen kommen zuerst und machen sich an den Jackenknöpfen zu schaffen. Ein vielstimmiges Mähen und Meckern setzt ein.
„Für mich ist das seelischer Balsam, abends nach der Arbeit einfach bei den Ziegen zu liegen“, sagt Christoph. Man spürt sofort, dass er und seine Partnerin eine enge Beziehung zu den Tieren pflegen. Vielen haben sie einen Namen gegeben. Sie kommen dann auch prompt auf Zuruf herbeigetrabt.
Diesen Traum haben sich die beiden Jungbauern erfüllt
In Deutschland sind die Weißen Edelziegen die dominante Rasse. Daneben ist die Bunte Edelrasse weit verbreitet. Aber auch einige regionale Rassen wie die Thüringer Waldziege, die Tauernschecken, die Walliser Schwarzhalsziegen oder die Toggenburger Ziege haben sich bis heute erhalten. Die Urmutter aller Ziegen ist die heute stark gefährdete Bezoarziege, deren Hauptverbreitung in den felsigen Regionen von der Türkei bis Afghanistan liegt. Auch auf der griechischen Insel Kreta gibt es ein kleineres Vorkommen. Die Alpensteinböcke gehören ebenso wie die Bezoarziege zu den Wildziegen.
Ziegen sind Herdentiere und haben ein komplexes Sozialverhalten. Innerhalb der Herde gibt es eine streng hierarchische, matriarchalisch geprägte Rangordnung. Die weibliche Leitziege führt die Herde zum Fressen auf die Weide und danach zum Ruhen. Zu Rangkämpfen kann es kommen, wenn neue Tiere zur Herde kommen. Christoph Röckl zeigt auf eine Ziege, die bei Rangkämpfen am Bauch verletzt und mit dreißig Stichen genäht werden musste. Junge Böcke verlassen in der Regel die Herde und schließen sich zu Junggesellengruppen zusammen. Zur Paarungszeit kann es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Böcken kommen.
„Ist es kühn, von einer Landwirtschaft zu träumen, die gesunde Lebensmittel erzeugt und unsere Landschaft bereichert? Eine Landwirtschaft, die die Bedürfnisse von Mensch, Tier und Umwelt achtet und im Einklang mit den Wertvorstellungen unserer Gesellschaft steht?“, fragt der Agrarwissenschaftler Ernst Wirthensohn. Diesen Traum haben sich die beiden Jungbauern erfüllt.
Vor fünf Jahren hatte das Paar einen Vortrag über Ziegenhaltung gehört, veranstaltet vom Landwirtschaftsamt Deggendorf. Bis dahin betrieben die Röckls eine Grünlandwirtschaft auf 21 Hektar mit 25 Kühen. „Vor allem die Anbindehaltung bei den Kühen war für mich nicht mehr vereinbar mit dem Tierwohl“, gibt Nadine offen zu. Sie ist hauptberuflich als Gemeindereferentin und Religionspädagogin in Spiegelau tätig, abends hilft sie in der Landwirtschaft mit.
Die Kuh der armen Leute
„In dieser Form der Landwirtschaft und mit unserer geringen Größe sahen wir keine Zukunft mehr“, ergänzt Christoph. Die Idee eines Ziegenhofs war geboren. Heute weiden mehr als einhundert Milchziegen samt 25 Jungtieren um den Hof. Die weitläufige Weide wird fast das ganze Jahr über genutzt. Ein Tunnel unter der Dorfstraße führt von der Weide direkt zum geräumigen Laufstall. Zwischenzeitlich ist der Betrieb von Naturland, einem internationalen Verband für ökologischen Landbau, als Biobetrieb zertifiziert.
Ziegen haben eine hohe Milchleistung: pro Ziege rund 900 Liter pro Jahr. Zusammen mit zwei weiteren Betrieben bilden die Röckls eine Liefergemeinschaft zur bekannten Biomolkerei in Andechs. Dort wird neben Bioziegenmilch delikater Ziegenjoghurt und Ziegenkäse produziert. Viele Allergiker schätzen die Ziegenmilch. Feinschmecker bevorzugen die Joghurt- und Käseprodukte. Der Vertrag mit der Andechser Molkerei gibt den Röckls finanzielle Sicherheit und ist Basis für Investitionen, zum Beispiel in die Planenhalle für die Jungtiere oder den geräumigen Laufstall.
Übrigens: Neben dem Hund sind Ziegen die ältesten domestizierten Nutztiere. Vor rund 10.000 Jahren wurden sie in Mesopotamien zum Haustier. Mit den Völkerwanderungen vor 6.000 bis 8.000 Jahren kamen sie auch in die Region Bayerischer Wald, wie Knochenfunde in Pfahlbauten der Bronzezeit belegen.
In Deutschland gab es vor hundert Jahren noch rund fünf Millionen Ziegen. Sie dienten landlosen armen Arbeitern in den Industrie- und Bergwerksgebieten als Milch- und Fleischquelle sowie als Zugtiere. Die Haltung der Ziegen erfolgte häufig in Hinterhöfen oder an Straßenrändern. Damals gab es in den Städten mehr Ziegen als auf dem Land. Bei den Landwirten waren Ziegen nicht beliebt, galten sie doch als „Arme-Leute-Tiere“. Nach einem Einbruch infolge des Zweiten Weltkriegs ist der Ziegenbestand heute wieder auf 160.000 Tiere angewachsen, davon über 40.000 in anerkannten Ökobetrieben. Meist werden sie zur Milch- und Fleischerzeugung gehalten, aber auch in der Landschaftspflege spielen sie eine wichtige Rolle, da sie – besser als Schafe – Verbuschung verhindern und damit zum Erhalt der Kulturlandschaft sowie zum Arten- und Biotopschutz beitragen.
Sündenböcke und die „Habergeiß“
In der griechischen Mythologie spielen Ziegen eine wichtige Rolle: So ist der Hirtengott Pan ein Mischwesen aus Menschengestalt mit Hufen, Hörnern und Bart eines Ziegenbocks. Die Liebesgöttin Aphrodite wird häufig auf einer Ziege reitend dargestellt. Für die Germanen ist der Ziegenbock ein edles Tier, welches dem Donnergott Thor geopfert wird. In biblischen Texten des frühen Christentums gelten Ziegenböcke als teuflisch – im Gegensatz zu Schafen, die für Begriffe wie „lammfromm“ oder „Lamm Gottes“ stehen.
Mit der Lutherübersetzung der christlichen Bibel wurde der „Sündenbock“ zum geflügelten Wort. Im Alpenraum mutierte die „Habergeiß“, die ursprünglich für Fruchtbarkeit stand, unter dem Einfluss des Christentums zu einem Dämon in Ziegengestalt. Auch in unserer Sprache haben sich viele Redewendungen mit Bezug auf Ziegen und deren Eigenheiten in negativen Zusammenhängen erhalten: „Den Bock zum Gärtner machen“, „einen Bock schießen“, „dumme Ziege“ oder „geiler Bock“ sind Beispiele hierfür.
Nadine Blöchinger liebäugelt immer noch etwas mit einer eigenen kleinen Molkerei samt Vertrieb der Produkte im Hofladen. Aber Christoph Röckl winkt ab: „Wir haben mit unserer Wachsverarbeitung ein zweites, wirtschaftlich intaktes Standbein.“ Er stellt zusammen mit seinem Vater sowie drei weiteren Mitarbeitern Mittelwände für Imker und den Imkereifachhandel her. Mittelwände sind aus Bienenwachs gewalzte Platten, bestehend aus Sechsecken, die die Größe von Arbeiterinnenbrutzellen haben. Mit der heute zunehmenden Imkerei (auch im städtischen Bereich) floriert das Geschäft. Kunden aus ganz Mitteleuropa belegen dies.
Eine kleine, gut realisierbare Nische
Mit diesem Geschäftsmodell fahren die Röckls gut – und der Grafenauer Landwirt betont: „Den Wechsel von der Kuh- zur Ziegenhaltung haben wir keine Sekunde lang bereut. Gerade die ökologische Ziegenhaltung bietet eine kleine, wirtschaftlich interessante Nische innerhalb der Landwirtschaft und ist bei uns im Bayerischen Wald gut zu realisieren.“ Daran gibt’s nichts zu meckern!
Michael Held
Dieser Text erschien erstmals im Magazin „Schöner Bayerischer Wald„, das im zweimonatigen Rhythmus vom Verein der Nationalpark-Freunde e. V. herausgegeben wird.