Passau. 115.000 Frauen und Mädchen wurden 2019 in Deutschland Opfer von Partnerschaftsgewalt. Es gab mehr als 300 Fälle von versuchtem oder vollendetem Mord und Totschlag. Etwa jede vierte Frau wird mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt durch ihren aktuellen oder früheren Partner. 42 Prozent der Frauen erleben Formen psychischer Gewalt. 24 Prozent werden Opfer von Stalking.
Die Fachstelle „Täterarbeit häusliche Gewalt“ existiert seit Dezember 2020. Sie ist ein Angebot von „pro familia Niederbayern e. V.“ in Passau und richtet sich an Männer und Frauen, die gewaltsam mit Konflikten in Partnerschaft und Trennung umgehen. „Die wesentliche Teilnahmevoraussetzung ist die Bereitschaft zu Verantwortungsübernahme und Verhaltensveränderung“, erklärt Sozialpädagogin Sonja Schmid (52), die seit 1. Dezember 2020 die Fachstelle in Passau federführend aufgebaut hat, und fügt hinzu: „Ebenso ist es notwendig, eigene Gewalthandlungen gegen die (Ex-)Partnerin einzuräumen.“
„Verstehen unsere Arbeit auch als Opferschutz“
Frau Schmid, Stichwort: Istanbulkonvention. Was ist darunter zu verstehen? Wozu verpflichtet sie?
Die Istanbulkonvention ist ein völkerrechtlicher Vertrag, in dem die Mitglieder des Europarats zu der Übereinkunft gekommen sind, Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zu verhüten und zu bekämpfen. Der Vertrag wurde bereits 2011 ausgearbeitet. 2014 trat er in Kraft. Deutschland hat ihn erst Ende 2017 ratifiziert.
Was ist das Ziel des seitens der Fachstelle angebotenen Täterprogramms? An wen wendet es sich konkret?
Das vorrangigste Ziel des Programms ist die nachhaltige Beendigung von Gewalt und das Erlernen und Einüben alternativer Konfliktlösungsstrategien. Die Täter sollen die Verantwortung für ihre Gewalttaten übernehmen. Ihre Verleumdungen, Rechtfertigungen, Entschuldigungen und Schuldzuweisungen sollen aufgedeckt und reflektiert werden. Somit verstehen wir unsere Arbeit auch als Opferschutz. Das Angebot richtet sich an Männer und Frauen ab 18 Jahren, die als sogenannte Selbstmelder Zugang zu unserem Angebot erhalten können. Ebenso Klienten, die durch Polizei, Justiz, das Jugendamt oder andere Einrichtungen vermittelt werden.
Wie läuft das Täterprogramm genau ab?
Täterarbeit soll grundsätzlich im Gruppensetting stattfinden. Interaktionen und Gruppendynamik fördern das soziale Lernen. Es kann aber auch auf Arbeit im Einzelsetting ausgewichen werden. Das Täterprogramm beinhaltet mindestens 25 Sitzungen mit einem Umfang von mindestens 50 Stunden zuzüglich eines Aufnahmeverfahrens von sechs Sitzungen.
Wie wird dabei methodisch vorgegangen?
Durch verschiedene Methoden beinhaltet das Programm die Auseinandersetzung mit dem Gewaltbegriff und den Gewalthandlungen und möchte gewaltfreie Handlungsstrategien vermitteln. Es werden Notfallpläne erstellt, Kommunikationsmuster durchleuchtet, das Männer- und Frauenbild reflektiert. Ebenso werden sich die Männer mit ihrer Rolle als Vater auseinandersetzen sowie auf eigene Opfererfahrungen blicken können.
„Natürlich gibt es auch Gewalt, die von Frauen ausgeht“
Aus welchen Gründen kommt es heutzutage zu häuslicher Gewalt? Welche Formen der häuslichen Gewalt gibt es überhaupt?
Gewalttätiges Verhalten zielt darauf ab, Kontrolle zu sichern und Macht (wieder-)herzustellen. Gewalttätiges Verhalten ist in historische und gesellschaftliche, insbesondere das Genderverhältnis betreffende Kontexte eingebunden und dient überwiegend der Stabilisierung und Erhaltung von Machtverhältnissen. Gewalttätiges Verhalten ist erlernt. Häusliche Gewalt tritt in jeder sozialen Lage (Schicht) auf und ist ein Verstoß gegen das Recht des Menschen auf körperliche und seelische Unversehrtheit.
Häusliche Gewalt umfasst folgende Aspekte:
- Körperliche Gewalt
- Psychische Gewalt, wie z. B. Drohungen, das Äußern von Suizidabsichten, Erpressung, Psychoterror, Nachstellung, Beleidigungen,
- Demütigungen, gerade im Trennungsprozess die Instrumentalisierung von Kindern, usw.
- Sexualisierte Gewalt
- Soziale Gewalt, wie z. B. Isolation, Kontrolle über Außenkontakte, Einsperren, Verbot der Berufstätigkeit, usw.
- Ökonomische Gewalt, wie z. B. Vorenthalten und/oder Kontrolle von Einkommen oder von Unterhalt, Schulden anhäufen und auf andere abwälzen usw.
Gibt es auch häusliche Gewalt, die von Frauen ausgeht? Welche Motive gibt es hierfür?
Natürlich gibt es auch Gewalt, die von Frauen ausgeht. Die Gewaltausübung von Männern und Frauen wird in unserer Gesellschaft unterschiedlich wahrgenommen und völlig unterschiedlich bewertet. Frauen als Täterinnen und Männer als Opfer – dazu gibt es bislang kaum Untersuchungen, allerdings viele Mythen und Vorurteile. Aus meiner Erfahrung heraus geht es auch bei der Gewalt, die Frauen ausüben, um eine Sicherung oder Wiedererlangung von Macht und Kontrolle.
„In der Fachstelle fließen viele Tränen“
Berichten Sie uns aus der Praxis: Welche Erfahrungswerte haben Sie im Laufe der beiden vergangenen Jahre sammeln können, was die Programmarbeit anbelangt? Wie wird das Programm angenommen? Wie hoch ist die Erfolgsquote?
Unser Programm ist gut angenommen worden. Die allermeisten Kolleginnen und Kollegen aus den Netzwerken haben mich freundlich willkommen geheißen und es wird wiederholt geäußert, wie wichtig diese Stelle ist. Die meisten Klienten kamen bislang als sogenannte Selbstmelder hierher. Ich arbeite aber auch mit Männern und Frauen, die vom Gericht oder vom Jugendamt vermittelt worden sind.
Die Erfahrungen in den letzten, nun schon fast anderthalb Jahren sind unterschiedlich: Es kommen Männer, die nach einer Gewalthandlung entsetzt über sich selber sind und Hilfe aufsuchen, damit sich diese Situation nicht mehr wiederholt. Männer, die vom Gericht dazu verurteilt worden sind oder bei denen es Teil einer Bewährungsauflage ist. Männer im Rahmen von sogenannten Kindschaftssachen. Oder Männer, die von ihrer Partnerin „geschickt“ werden. Auch wenn man es auf den ersten Blick vielleicht nicht erwarten würde: in der Fachstelle fließen viele Tränen.
Das Täterprogramm ermöglicht den Teilnehmenden eine intensive Auseinandersetzung mit sich und ihren Beziehungen. Je mehr jemand bereit ist, wirkliche Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen und an einer eigenen Verhaltensveränderung arbeiten zu wollen, desto höher ist die Erfolgsquote. Es kommen aber auch Männer, die keinerlei Verantwortung bei sich selber sehen können oder wollen – und nachhaltig an ihrem Konstrukt der Schuldumkehr festhalten. Diese Klienten sind für das Programm nicht geeignet.
Nicht zulässige Verantwortungs- und Schuldumkehr
Ist Gewalt ein Problem, das man zur Gänze lösen, sprich: wieder loswerden, kann? Oder kann man die eigene Gewalttätigkeit nur zu einem gewissen Grad unter Kontrolle bringen?
Ja, ich glaube tatsächlich, dass man sich für ein gewaltfreies Leben entscheiden kann. Diese Entscheidung dann umzusetzen, kann oft harte und lebenslange Arbeit bedeuten – wie übrigens auch alle anderen Verhaltensveränderungen, die wir uns vornehmen und anpacken wollen. Ich meine, dass jeder und jede damit Erfahrungen gemacht hat…
Wenn jemand seine Gewalt „loswerden“ will, braucht er oder sie dafür ein Gegenkonzept, wie z. B. die Fähigkeit ins Mitgefühl zu gehen, Vertrauen aufzubauen, Angst zu überwinden. Ein friedliches Miteinander fängt in unserem Inneren an.
Der Sozialpsychologe Rolf Pohl behauptet sinngemäß, dass die Idee von der „Frau als Feind“ in patriarchal geprägten Gesellschaften tief verankert ist. Jede Form von sexualisierter Gewalt von Männern gegenüber Frauen sei daher nur die logische Konsequenz daraus. Wie bewerten Sie diese These?
Wie bereits erwähnt, findet häusliche Gewalt im Kontext eines mehrere Jahrtausend alten Patriarchats mit all seinen Macht- und Kontrollstrukturen statt. Diese Draufsicht lässt uns historisch gewachsene Zusammenhänge erkennen und erklären – auch die Tatsache, dass das Geschlechterverhältnis alle Bereiche des Lebens durchdringt.
Gleichzeitig ist die Gewalthandlung eines Einzelnen „keine logische Konsequenz“ aus irgendetwas, denn damit findet ja wieder eine nicht zulässige Verantwortungs- und Schuldumkehr statt. Damit meine ich, dass auch in patriarchal geprägten Gesellschaften Männer die eigenverantwortliche Entscheidung treffen können und letztlich auch müssen, ob sie Gewalt ausüben oder nicht. Dasselbe gilt selbstredend auch für Frauen.
„Ein Thema, das uns als Gesellschaft angeht“
Was wünschen Sie sich persönlich für Ihre Arbeit, das Programm?
Die Etablierung der Fachstelle ist ein weiterer Baustein in den gesellschaftlichen Interventionen gegenüber Partnerschaftsgewalt. Wir nehmen damit eine Gegenposition zu frauenverachtenden Haltungen ein. Damit einhergehend wünsche ich mir eine Sensibilisierung auf das Thema sowohl bei den Menschen als auch in der Fachöffentlichkeit. Häusliche Gewalt ist kein „privates Problem“, sondern ein Thema, das uns als Gesellschaft angeht. Ein weiterer Wunsch ist die immer intensivere Vernetzung und Zusammenarbeit mit unseren Kooperationspartnerinnen und –partnern, wie z. B. den Staatsanwaltschaften, Gerichten, Jugendämtern usw.
Beklagenswert ist die rudimentäre Ausstattung und Finanzierung der Stelle. Hier bedarf es noch Nachbesserungen seitens des Ministeriums, damit die Umsetzung der Istanbul Konvention nicht zu einem Lippenbekenntnis degeneriert, sondern in der Fläche ernsthaft und nachhaltig umgesetzt werden kann.
Vielen Dank für Ihre Zeit und weiterhin alles Gute.
die Fragen stellte: Stephan Hörhammer