Bayerischer Wald. Niemand redet gerne darüber. Am wenigstens diejenigen, die es betrifft. Häusliche Gewalt ist ein Tabuthema. Doch aktuelle Zahlen zu Übergriffen, Psychoterror und anderen Misshandlungen in Partnerschaft und Familie (da Hogn berichtete) haben eine neue Bewusstseinswelle dafür ausgelöst: Momentan reden viele darüber, was sie durchmachen müssen bzw. mussten.
Auch Marion möchte ihre Geschichte erzählen – exklusiv im Onlinemagazin „da Hogn“. Sie sagt: „Ich will anderen Mut machen und ihnen zeigen: Man ist nicht hilflos.“ Marion selbst hat lange gebraucht, um sich aus ihrer scheinbar ausweglosen Situation zu befreien. Die 34-Jährige hat zwei kleine Kinder. Wie sie in ein Leben mit Gewalt und vor allem psychischem Terror hineingeraten ist, darüber berichtet sie im ersten Teil unserer Themen-Serie.
„Ich hatte aufgrund meiner Erziehung kein großes Selbstwertgefühl“
Dreieinhalb Jahre liegt die Trennung von ihrem Mann nun zurück. Vor dreieinhalb Jahren hat Marion den Schlussstrich gezogen und bei null wieder angefangen. Seither arbeitet sie ihr Leben auf, analysiert für sich selbst, warum alles so gekommen ist, wie es gekommen ist. „Die Trennung war ein absoluter Wandel in meinem Leben“, sagt sie. Sie hat ihr Lächeln wiedergefunden.
Die Geschichte, die sie erzählen will, beginnt nicht mit Schlägen in ihrer Ehe. Sie beginnt bereits in ihrer Kindheit. Wenn Marion ihre Erinnerungen hervorholt, muss sie zwischendurch immer wieder kurz Pause machen. Luft holen. Sich die Tränen aus den Augen wischen.
Marion hat einiges durchgemacht. Aber sie ist nun an einem Punkt angekommen, an dem sie vieles auf ganz klare Art und Weise realisiert. Früher hat sie lieber verdrängt: „Ich habe viele Erinnerungslücken. Das kommt in der Therapie erst nach und nach raus.“ Worüber sie sich jetzt ebenso klar wird: Sie hatte die Schuld immer bei sich gesucht, wenn sie viel auszuhalten hatte.
Ein Verhalten, das sie bereits als junges Mädchen erlernte. Ihre Mutter war wochentags mit den drei Kindern alleine zu Hause, der Vater arbeitete auf der Baustelle. Nebenbei hatte die Mutter einen Hof zu bewirtschaften. „Sie war überfordert“, urteilt Marion aus heutiger Sicht. Deshalb kam sie ihr auch nicht zu Hilfe, als sie in der Schule bedroht wurde. Mitschüler machten Marion Angst, lauerten ihr auf. Ein perfektes Opfer. „Ich hatte aufgrund meiner Erziehung kein großes Selbstwertgefühl und war oft weinerlich. Andererseits aber auch eigensinnig und bockig“, erzählt sie. Wenn andere Kinder sie ärgerten, wehrte sie sich nicht, lief lieber davon. Bis zum Ende ihrer Schulzeit futterte Marion sich aus Frust über das immer wiederkehrende Mobbing 120 Kilo Körpergewicht an – was zu weiteren Hänseleien führte. Ein Teufelskreis.
„Er wollte mich manipulieren und hat mich klein gehalten“
Britische Wissenschaftler haben diverse Studien zum Thema Mobbing ausgewertet – und erkannt: Eltern haben mit ihrer Erziehung Einfluss darauf, wie hoch das Risiko für ihr Kind ist, in der Schule gemobbt zu werden. Wenn Eltern ihr Söhne und Töchter besonders streng erziehen oder sie zu Hause oft negatives Feedback erhalten, steigt das Risiko, von Mitschülern gemobbt zu werden. Aber auch Kindern, die überbehütet aufwachsen, wird ein erhöhtes Mobbing-Risiko attestiert.
Gemeinsam mit einer psychologisch ausgebildeten Heilpraktikerin spricht Marion momentan über all diese Dinge. Dabei hat sich herauskristallisiert: Marion ist hochsensibel. Sie sagt: „Ich sehe, fühle, spüre mehr als andere.“ Eine Eigenschaft, die sie schon immer zur Einzelgängerin gemacht hat, so das Ergebnis ihrer Reflexion.
Vor allem in ihrer hochsensiblen Art sieht Marion die tatsächliche Entwicklung ihres bisherigen Daseins begründet. Ein Leben, in dem sie irgendwann die Reißleine ziehen musste, um nicht kaputt zu gehen, wie sie sagt. Der andere Grund habe mit gesellschaftlichen Konventionen zu tun: „Verliebt, verlobt, verheiratet – das war bei uns ganz normal.“
Eine Biografie im Bayerischen Wald habe einfach so abzulaufen, wie Marion lange dachte. Oder vielmehr: Sie dachte eben nicht darüber nach, was sie aus ihrem Leben machen wollte. Alles passierte so, wie es eben „normal“ für ein Mädchen bzw. eine junge Frau wie sie zu sein schien: Mit 17 lernte sie in der Disko ihren zukünftigen Mann kennen. Er ist drei Jahre älter. „Wir waren sofort sehr fest zusammen“, erinnert sie sich. Schon nach einem Jahr zog sie zu ihm in sein Elternhaus. Und das, obwohl es zuvor bereits mehrmals zu teils heftigen Streitigkeiten zwischen ihnen gekommen war.
Der erste große Streit ereignete sich nach etwa einem halben Jahr. Bei der Essenszubereitung konnte sie es ihm nicht Recht machen: „Er schimpfte und bockte, weil ich nicht haargenau so kochte wie seine Mutter.“ Sie gab klein bei, suchte auch diesmal – getreu dem kleinen Mädchen von damals – die Schuld bei sich und wollte alles wieder gut machen: „Ich war harmoniesüchtig“, sagt Marion im Rückblick. Die Machtverteilung in der Beziehung war somit klar: Er bestimmte, wo’s langgeht. „Er wollte mich manipulieren und hat mich klein gehalten“, sagt Marion heute. Das begann bereits beim Autofahren: Immer dann, wenn sie einen Fehler machte, etwa den Blinker falsch gesetzt hatte, sprach er sie schwach von der Seite an und begann sie zu demütigen. Oder im Alltag, etwa wenn sie die Klopapierrolle seiner Ansicht nach falsch herum aufgehängt hatte: „Da konnte er tagelang schweigen oder beleidigt sein.“
„Heute würde ich in so einer Situation einfach gehen“
Und dann wurde aus psychischer Gewalt irgendwann auch körperliche: Nach etwa drei Jahren Beziehung schlug er sie zum ersten Mal. In einer Phase, in der er frustriert war. Aufgrund einer Krankheit verlor er seinen Führerschein – und dadurch auch seinen Job. Er war ständig gereizt und fing noch schneller zu streiten an als sonst – diesmal mit Handgreiflichkeiten. Marion wehrte sich nicht. Sie verließ ihn auch nicht. Und sie sprach nicht über die Schläge: „Ich konnte nicht mal mit meiner Mama drüber reden.“ Stattdessen verdrängte sie. „Heute frage ich mich oft selbst: Warum hast du dir das gefallen lassen?“
Im Rückblick ist sie zu dem Schluss gekommen: „Mein Selbsterhaltungstrieb reichte nicht aus.“ Sie habe nie gelernt, an sich selbst zu denken und zu glauben. Stattdessen war es für sie normal, seine Launen auszuhalten. Nichts zu tun, was ihn reizen könnte. Es war normal, ihn nach Rückschlägen sogar wieder aufzubauen. „Heute würde ich in so einer Situation einfach gehen“, ist sich Marion sicher. Sie hat viel an sich selbst gearbeitet und weiß jetzt, wann sie sich wehren muss. Warum war das damals nicht so? „Vielleicht war es meine Erziehung“, überlegt sie. Sie habe von ihrer Mutter gelernt: „Als Frau musst du dein Ding leisten – hast das auszuhalten.“
Da Marion damals die Beziehung nicht beendete, ging jedoch alles seinen „normalen“ Gang – wie vorbestimmt: Gemeinsam renovierte das Paar eine große Wohnung im Elternhaus ihres Lebensgefährten. Beide investierten viel Geld, was wiederum Marion auch finanziell von ihm abhängig machte. „Hätte ich mich getrennt, wäre ich mit nichts dagestanden.“ Das Haus gehörte den Schwiegereltern. Für Marion war es damals völlig plausibel, sich dort einzurichten und auf dem Hof mitzuarbeiten: „Als Bauernkind macht man das so. Welche Auswirkungen das auf mich hatte, war mir zu dem Zeitpunkt nicht klar.“
„Ich wusste eigentlich gar nicht, was ich wirklich will“
Nach vier Jahren Beziehung heiratete sie schließlich ihren Freund. Aus großer Liebe zwischen beiden? „Man macht das so“, sagt Marion dazu ganz nüchtern. An einen Heiratsantrag könne sie sich nicht erinnern. Irgendwann war eben klar, dass es soweit kommen würde. „Als junges Mädel will man das so“, sagt Marion heute. „Ich hatte mich selbst noch gar nicht richtig entwickelt, wusste eigentlich gar nicht, was ich wirklich will.“
Sabine Simon
Wie es nach der Hochzeit in Marions Ehe weiterging – mit Kindern, psychischem Druck durch Ehemann und Schwiegermutter – und die Frage, wann die Situation eskalierte, darüber erzählt sie im zweiten Teil unserer Hog’n-Serie.