Bayerischer Wald. Geschichten über häusliche Gewalt handeln meist von Frauen, die von ihren Männern geschlagen werden – und die ihre blauen Flecken im Anschluss mit Unfällen im Haushalt erklären. Viel häufiger passieren mit großer Wahrscheinlichkeit jedoch Geschichten wie die von Marion: Eine Frau aus dem Bayerischen Wald, die sich selbst sehr lange nicht eingestanden hatte, dass ihr Mann zu weit gegangen ist. Auch wenn er sie nie krankenhausreif geprügelt hat.
Fast zehn Jahre lang war Marion mit ihrem Mann verheiratet. Obwohl sie berichtet, dass er bereits zu Beginn der Beziehung seinen Zorn an ihr auslässt und auch das ein oder andere Mal zuschlägt, hat sie ihn lange nicht verlassen (können). Die 34-Jährige hat zwei Kinder mit ihm. Wann für sie die Situation unerträglich wurde und sie die Reißleine ziehen musste, erzählt Marion im zweiten Teil ihrer Geschichte.
„Ich habe immer zu ihm gehalten – auch in der Öffentlichkeit“
Als sie ihn heiratet, ist Marion Anfang zwanzig. „Ich hatte mich eigentlich selbst noch nicht richtig entwickelt und wusste noch gar nicht, was ich wirklich will“, sagt sie rückblickend. „Und ich hatte nicht die Kraft, an meiner Situation etwas zu ändern.“ Sie sei von ihm abhängig gewesen, sagt sie. Schon früh zieht sie zu ihm. Mit der Folge: Eine Trennung hieße ab jetzt auch, das ganze Leben neu ordnen zu müssen. „Ich dachte, alleine schaffe ich es nicht“, erzählt Marion.
„Er war immer alles für mich“, sagt sie über ihren Ex. „Ich habe immer zu ihm gehalten – auch in der Öffentlichkeit.“ In der Beziehung hat sie jedoch das Gefühl, immer alles zu einhundert Prozent richtig machen zu müssen, um für ihn als Mensch etwas wert zu sein, wahrgenommen zu werden. Wenn es zum Streit kommt, fühlt Marion sich im Nachhinein immer schuldig. Schuldig, etwas nicht perfekt gemacht zu haben. Schuldig, ihn gereizt zu haben. Schuldig, dass er seine Wut an ihr auslässt und zuschlägt.
„Es ist immer aus dem Affekt heraus passiert“, berichtet Marion. Er habe sie beispielsweise auf den Hinterkopf geschlagen, so dass sie mit der Stirn gegen die Wand geknallt sei. Oder habe sie in eine Ecke gedrängt und ihr dann mit der Faust in den Bauch geboxt. „Er hat sich nie entschuldigt“, sagt Marion. Stattdessen habe sie alles getan, um ihn aus depressiven Stimmungen wieder heraus zu ziehen, habe sich dafür entschuldigt, ihn gereizt zu haben.
Diese Situationen ereignen sich in Intervallen, erinnert sich Marion: „Mal war ein halbes Jahr Pause dazwischen, mal ein Jahr. Es ist nicht tagtäglich so abgelaufen.“ Es sei vor allem dann passiert, wenn ihre Schwiegermutter viel Druck auf ihn ausgeübt habe, sagt sie im Rückblick. „Da ist so eine Disharmonie entstanden im Haus. Dann gab es immer öfter Streit zwischen uns.“ Auch sie selbst fühlt sich von ihrer Schwiegermutter beobachtet und kontrolliert, will auch wegen ihr alles immer perfekt machen, um keine Angriffsfläche zu bieten.
„Ich hatte einfach nicht die Kraft, etwas zu ändern“
Zwischendrin läuft dann wieder alles gut. Ihre zwei Kinder seien absolute Wunschkinder, betont Marion. Die schlechten Tage verdrängt sie. Während ihrer Ehe redet sie nie mit anderen über die Auseinandersetzungen in ihrer Beziehung. „Ich hatte nur oberflächliche Freundschaften, weil ich selbst oberflächlich geblieben bin“, realisiert sie heute. Im Alltag merkt ihr keiner an, dass es Phasen in ihrer Beziehung gibt, in denen andere sich sofort trennen würden.
Nach der Geburt des zweiten Kindes sei ihr Leben dann aber völlig an ihr vorbei gelaufen, sie habe „nur noch funktioniert“, erzählt Marion: „Das war kein Leben, das war nur überleben.“ Schon bald geht sie wieder zur Arbeit. Trotzdem habe er von ihr verlangt, dass sie nachts dafür sorgt, dass die Kinder still sind. Sie habe immer alles gemacht, damit nicht wieder diese Missstimmung in der Ehe entsteht, sagt sie. „Du weinst dich in den Schlaf und am nächsten Tag stehst du auf und funktionierst wieder“, erinnert sie sich heute. „Ich hatte einfach nicht die Kraft, etwas zu ändern. Du tust und machst und schaust einfach nur, dass es keinen Grund für Streit gibt.“
Es sind keine großen Ausraster oder schlimme Schläge, die Marion zu verkraften hat. Es ist das Leben mit einem Mann, der ihr das Gefühl gibt, dass sie ihm alles recht machen muss. Dass sie ihm nie einen Anlass für Streit liefern darf. Ein Leben, das Marion immer mehr zu schaffen macht. „Es geht bestimmt vielen so wie mir“, ist sie sich sicher. „Ich habe mich immer bemüht, dass das Bild nach außen hin stimmt, dass man keine Schwäche zeigt.“
„Das letzte Mal, als er mich angelangt hat, habe ich mich gewehrt“
Irgendwann realisiert sie aber: So kann sie nicht weiter machen. Sie will sich all das nicht mehr gefallen lassen. „Das letzte Mal, als er mich angelangt hat, habe ich mich gewehrt“, sagt Marion. Sie berichtet von einem Streit, bei dem er ihren Kopf gegen die Wand geschlagen habe. Sie stand am Bügelbrett und habe ihm dann mit dem Bügeleisen gedroht. Das Schlimmste an diesem Streit: Der ältere Sohn bekommt alles mit. Für Marion war nun klar: Wenn er sein Verhalten nicht ändert, geht sie. Seine Antwort darauf sei gewesen: „Dann geh – aber du gehst mit nichts.“
Dass sie es trotzdem wagen muss ihn zu verlassen, auch wenn sie danach bei Null anfangen und ohne Haus und Geld für zwei Kinder Sorge zu tragen hat, weiß Marion kurze Zeit später. Denn da wird ihr Mann auch dem ältesten Sohn gegenüber laut: „Er hat mich nicht mehr angefasst, es allerdings an dem Größeren ausgelassen und ihn angeschrien“, berichtet sie. „In dem Moment war er für mich gestorben.“ Sie habe ihn wochenlang links liegen gelassen und innerlich den Entschluss gefasst, sich von ihm zu trennen. Für Marion war nun klar: „Entweder ich gehe und die Familie geht kaputt – oder ich gehe kaputt.“ Wegen ihrer Kinder sei ihr jedoch klar geworden, dass sie nicht kaputt gehen darf, dass sie für sie da sein und stark sein muss. Und stark sein – das wurde ihr nun bewusst – bedeutet nicht, Schläge und Zorn über sich ergehen zu lassen, sondern den Mut zu fassen, die Beziehung zu beenden.
„Nicht darüber zu reden, das frisst einen selbst auf“
Wenn Marion heute über ihre Ehe, die psychische und körperliche Gewalt ihres Mannes spricht, fallen die Reaktionen oft verhalten aus. „Wenn man so lange zusammen war, dann glaubt keiner, dass man geht, weil er schlägt“, sagt sie. Es gibt auch Menschen, die ihr Verleumdung vorwerfen. Trotzdem will sie jetzt darüber reden, will ihr Schicksal teilen: „Nicht darüber zu reden, das frisst einen selbst auf.“ Sie will anderen Frauen in ähnlichen Situationen Mut machen, sich möglichst früh Hilfe zu suchen. Früh mit jemandem über die eigene Situation zu sprechen: mit einem Psychologen, Heilpraktiker, Arzt oder dem Jugendamt. Sie alle können helfen. Marion will zeigen, dass es einen Ausweg gibt. Dass man Mut und Kraft braucht, aber dann einen Neuanfang schaffen kann.
Sabine Simon
Wie dieser Neuanfang aussah und warum Marion heute versucht, ihren Kindern Zeit mit ihrem Vater zu ermöglichen – trotz allem – erzählt sie im letzten Teil unserer Serie.