Passau. Wie in so vielen Bereichen, hat Corona auch in der Sozialarbeit gewisse Spuren hinterlassen: Aufgrund der Ausgangs- bzw. Kontaktbeschränkungen war es in den vergangenen Wochen und Monaten nicht erlaubt, sich mit mehreren Leuten auf der Straße zu treffen – um zu quatschen, Fußball zu spielen oder sich anderweitig die Zeit zu vertreiben. Veränderungen, die auch Streetworker Ralf Grunow aufgefallen sind und die seinen Arbeitsalltag in der Dreisflüssestadt beeinflusst haben.
Im zweiten Teil unseres Hog’n-Interviews mit dem 48-jährigen Sozialpädagogen, der im Dienste der Stadt Passau insbesondere denjenigen Jugendlichen unterstützend zur Seite steht, die gesellschaftlich abgerutscht sind und den Halt verloren haben, um selbst ein strukturiertes Leben zu führen, geht es unter anderem um die Frage, wie sich die Corona-Beschränkungen auf seine Arbeit auswirken, wie gut oder schlecht es ihm gelingt, sich von persönlichen Einzelschicksalen abzugrenzen und was er den Hog’n-Lesern gerne mitteilen möchte.
„Lockdown ein großes Dilemma“
Stichwort Kontakt: Wie wirken sich die Coronakrise und die damit verbundenen Einschränkungen auf Ihre Arbeit aus?
Die Coronathematik hat alles verändert. So ist etwa die Ausbildungs- oder Jobsuche für meine Klientel viel schwieriger geworden. Auch die Berufswahl an sich ist nicht mehr so einfach für junge Menschen. Auf der Straße spreche ich natürlich nach wie vor junge Leute an – es sind aber viel weniger zu sehen als vor Corona. Deswegen vermute ich hier einen Rückzug ins Private.
Wegen der Kontaktbeschränkungen bietet sich daher nicht mehr oft die Möglichkeit, sie in Kleingruppen anzutreffen. Aus Sicht der Jugendlichen ist der Lockdown ohnehin ein großes Dilemma. Denn indem sich junge Menschen treffen und andere kennenlernen, erweitern sie ihr Repertoire an Rollenverhalten: Sie machen Spaß, albern herum, fordern andere heraus, setzen wiederum Grenzen und korrigieren sich gegenseitig. All das ist von grundlegender Bedeutung in diesem Alter, wird aber durch die Kontaktbeschränkungen extrem eingeschränkt.
Der aktuelle Umgang mit der Coronathematik fordert somit all unsere Geduld heraus. Er zwingt uns, widersprüchliche Inhalte aushalten zu müssen wie selten zuvor. Beispiel: Obwohl Sport machen an der frischen Luft gesund ist und unser Immunsystem stärkt, musste ich meine präventiven Angebote mit dem Lockdown runterfahren oder ganz einstellen, d.h. zum Beispiel kein Straßenfußball mehr.
„Die größte Währung ist das Vertrauen der jungen Menschen“
Aus Sicht der sozial benachteiligten Personen, die auf Hilfen des Sozialsystems angewiesen sind, wurden die staatlichen Hilfen durch den Lockdown höherschwelliger. Denn die Behörden des Sozialsystems sind nur eingeschränkt erreichbar, wenn man dringende Sachen zu klären hätte, wie z. B. einen Ausweis beantragen oder ein Bankkonto eröffnen. Das ist viel schwieriger geworden, wenn man keinen Zugang zum Internet oder ein Telefon hat. Positiv zu erwähnen sind die eingerichteten Telefon-Hotlines der Ämter.
Unterstützt werden Sie von Ihrer Kollegin Nicole. Wie häufig kommt es vor, dass jemand lieber nur mit einem Mann oder nur mit einer Frau sprechen möchte?
Das Geschlecht spielt meist keine große Rolle. Für die Jugendlichen steht vielmehr im Vordergrund, dass Sie überhaupt einen Ansprechpartner haben. Im Einzelfall gibt es aber natürlich Situationen, die man lieber mit einer Frau oder einem Mann bespricht. So gesehen ist die gemischte Streetwork-Besetzung bei der Stadt Passau ein Glücksfall.
Sie haben Schweigepflicht und versichern Menschen somit absolute Diskretion. Kamen Sie schon einmal in eine Situation, in der Sie zum Schutz der Person oder anderer Schwierigkeiten hatten, diese einzuhalten?
Die größte Währung in unserem Geschäft ist das Vertrauen der jungen Menschen, das sie uns entgegenbringen. Deswegen herrscht natürlich Schweigepflicht gegenüber Dritten. Um den Umgang mit brisanten Daten zu erleichtern, lassen wir uns von unseren Klienten und Klientinnen manchmal eine Vollmacht ausstellen, um gegenüber von Behörden und öffentlichen Stellen stellvertretend für sie bestimmte Dinge zu regeln, jeweils in Abstimmung und Einvernehmen mit ihnen. Im Laufe der Zeit wird unsere Hilfe meist überflüssig, weil sie selbst lernen mit Bürokratie umzugehen, sprich: etwa eine Adressenänderung bei der Krankenkasse selbst mitzuteilen oder die neue Kontonummer der Bank anzugeben. Andere begleiten wir jedoch jahrelang.
„Sie begleiten mich – manche mehr, manche weniger“
Wie gut gelingt es Ihnen, sich von Schicksalen abzugrenzen und nicht jede Geschichte mit nach Hause zu nehmen?
Zunächst habe ich über mich gelernt, dass es nicht mein Anspruch ist, all diese Geschichten nach der Arbeit wie einen Stift fallen zu lassen. Sie begleiten mich – manche mehr, manche weniger und das auch nicht ständig und immer. Das gehört zu meinem Beruf und ist ein dauerhafter, interessanter Lernprozess. Ich öffne mich dem realen Leben einer Person mit all den Aspekten ihrer Lebenswirklichkeiten, die sie mir berichtet.
Ich sehe also nicht nur ein Formular oder eine Antragsnummer vor mir, sondern spüre und ahne viele reelle Zusammenhänge, die zu einer bestimmten Lebenslage geführt haben können. Und die Lösungen dafür sind meist vielschichtig. Mir ist bewusst, dass mein Gehirn zirkulär funktioniert und nicht linear – und dass auch vieles auf unbewusster Ebene stattfindet. Wenn ich etwa nach dem Spazieren, Schwimmen oder Musizieren entspannt bin, fällt mir manchmal diese eine konkrete Lösung für einen Menschen ein und ich sehe klar vor mir, was die nächsten Schritte sein könnten – bähm! Dies geschieht manchmal also ganz ohne nachzudenken.
Die Menschen, die ich begleite, tragen häufig offene Wunden mit sich herum, und viele sind ihnen oft selbst nicht bewusst – vor lauter Traumatisierung und Anpassung an äußere Gegebenheiten. Eine Heilung dieser Wunden geschieht durch das Verstehen der Thematik und einer allmählichen Entwickelung von Änderungsmöglichkeiten. Und wenn ich an meine fachlichen Grenzen stoße, vermittele ich diese Menschen selbstverständlich zu Therapeuten oder anderen Fachleuten.
„Entwickelt Mut, zu Euch selbst zu stehen“
Was wünschen Sie sich für die Zukunft Ihrer Arbeit?
Zunächst wünsche ich mir die Mitarbeit Ihrer Leser: Falls jemand gebrauchte, funktionsfähige Handys oder Lap-Tops hat*, würde es mich freuen, wenn er mir diese zukommen lässt. Die meisten Klienten und Klientinnen haben Ausstattungsprobleme und bräuchten solche Dinge.
Gibt es noch etwas, was Sie den Menschen mitteilen möchten?
Liebe Hog’n-Leser: Bleibt tolerant gegenüber anderen und unterstützt Euch gegenseitig. Wir Menschen sind eben alle verschieden – egal, ob arm oder reich, gesund oder behindert, schwach oder stark, männlich oder weiblich. Darin liegt auf lange Sicht gesehen das eigentliche Potenzial von uns. Und als letztes: Entwickelt Mut, zu Euch selbst zu stehen und Euren Weg zu gehen.
die Fragen stellte: Malin Schmidt-Ott
* Bitte per Email bei der Hog’n-Redaktion via info@hogn.de melden – wir vermitteln gerne weiter.
_____________
Mehr dazu: