Passau. Egal, ob Schwangerschaft, Sexualität, Verhütung, HIV, Erziehung, Eheprobleme oder Abtreibung – der Sozialverein „pro familia“ versucht Frauen und Männern, die sich in einer schwierigen Lage befinden, mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Wir haben uns mit Thoralf Fricke, Geschäftsführer und Leiter der Beratungsstellen „pro familia Niederbayern„, u.a. über die Arbeit der „Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung“ unterhalten, darüber, wie er die 40-tägige „Mahnwache“ eines AfD-Anhängers gegen Abtreibung vor der Passauer Geschäftsstelle wahrgenommen hat – und die Frage, wie Menschen heutzutage mit ihrer Sexualität umgehen.
Herr Fricke: Durchschnittlich wie viele Menschen kommen mit welchen Problemstellungen in die pro-familia-Beratungsstelle?
Die pro familia Niederbayern hat derzeit zwei unterschiedliche Beratungsangebote. In die Schwangerschafts-Beratungsstelle kommen jährlich etwa 1.000 Frauen und Männer, um sich über sämtliche Fragen rund um die Themen Familienplanung, Schwangerschaft und Geburt sowie über materielle und finanzielle Hilfen zu informieren. Die Beratungsstellen für Ehe-, Familien – und Lebensfragen suchen vor allem Menschen in schwierigen persönlichen Lebenslagen, bei Paarkonflikten oder aber auch im Zusammenhang mit Fragen rund um ihre sexuelle Identität und Orientierung auf. Außerdem beraten wir Menschen, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind – und würden hierfür gern unser Beratungsangebot ausbauen.
„Wir verzeichnen seit vielen Jahren einen stetigen Anstieg“
Wie viele Beraterinnen und Berater stehen den Ratsuchenden in Passau zur Verfügung?
In der Schwangerschafts-Beratungsstelle arbeiten derzeit vier Diplomsozialpädagoginnen und -pädagogen als Beratungsfachkräfte mit ganz unterschiedlich gearteten Zusatzqualifikationen. In den Ehe-, Familien – und Lebensberatungsstellen werden die Klientinnen und Klienten ebenfalls von erfahrenen Sozialpädagoginnen und -pädagogen beraten, die darüber hinaus eine Zusatzqualifikation als sog. systemische Berater oder systemische Therapeuten mitbringen.
Ist die Bereitschaft der Ratsuchenden, die Dienste von pro familia in Anspruch zu nehmen, in den vergangenen Jahren eher gesunken oder gestiegen?
Wir verzeichnen seit vielen Jahren einen stetigen moderaten Anstieg der Beratungszahlen. Das hat ganz unterschiedliche Gründe: Zum einen sind sicherlich die Herausforderungen, vor denen Menschen in der Phase der Familiengründung stehen, angestiegen und die Problemstellungen komplexer geworden, zum anderen haben wir den Eindruck, dass es grundsätzlich eine höhere Bereitschaft gibt, sich Unterstützung durch fachliche Beratung zu holen. Aber sicher spielen auch noch viele weitere gesellschaftliche Entwicklungen für die Zunahme der Beratungszahlen eine Rolle.
Im Fokus steht u.a. die Schwangerschaftsberatung. Welche Angebote hält pro familia hier für werdende Mütter bereit?
Die Themen der Schwangerschaftsberatung, zu denen wir beraten, sind sehr breit gefächert. Wer zu uns in die Schwangerschafts-Beratungsstelle kommt, kann sich über alle Fragen, die mit der Schwangerschaft und Geburt verbunden sind, bei uns informieren, sofern sie nicht spezielle medizinische Fragen betreffen. Aber auch dann vermitteln wir gern an entsprechende Fachstellen und Ärzte weiter. Die Liste dazu ist lang:
- Familienplanung: individuelle Lebensgestaltung, Partnerschaft, Sexualität, Elternschaft, Methoden der Fruchtbarkeitswahrnehmung, Verhütungsmittel und Methoden der Empfängnisverhütung.
- Schwangerschaft: Schwangerschaftsfeststellung, Schwangerschaftsverlauf, Vorsorge für Mutter und Kind, pränataldiagnostische Verfahren, Vermeidung von sexuell übertragbare Erkrankungen und HIV, Mutterschutz, Entbindung und Wochenbett.
- gesetzliche Leistungen und Hilfen: für Familien und Kinder, soziale und wirtschaftliche Hilfen für Schwangere, für behinderte Menschen und ihre Familien, besondere Rechte im Arbeitsleben, bei der Suche nach Wohnung, Arbeits- und Ausbildungsplatz oder deren Erhalt.
- Ungewollte Schwangerschaft: Schwangerschaftskonfliktberatung gemäß §§ 218/219 StGB und §§ 5/6 SchKG, Methoden und rechtlicher Rahmen von Schwangerschaftsabbruch, Möglichkeiten der Adoption und Pflegschaft, Nachbetreuung nach Schwangerschaftsabbruch.
- Unerfüllter Kinderwunsch: Möglichkeiten der künstlichen Befruchtung, Chancen, Risiken und Grenzen der Reproduktionsmedizin, Alternativen zur leiblichen Elternschaft (Adoption, Pflegschaft), Bewältigungsstrategien für ein Leben ohne Kinder.
- Leben mit Säugling und Kleinkind: Nachbetreuung nach Entbindung, Entwicklung von Elternschaft und Familienleben, Lebenssituation von Alleinerziehenden, finanzielle Absicherung der Familie, Kindschaftsrecht.
„40 Tage Dauerbelagerung ein Eingriff in Persönlichkeitsrechte“
Stichwort Abtreibung: Wie gehen Sie damit um, wenn werdende Mütter dazu bei pro familia um Rat fragen? Welche Problemstellungen sind bei den Müttern vorrangig? Und: Gibt es eine Art Leitfaden, den pro familia hierbei anwendet?
Die Beratung bei ungeplanter und ungewollter Schwangerschaft ist ein Teil unseres gesetzlichen Auftrages als staatlich anerkannte Beratungsstelle. Frauen, die uns in dieser schwierigen Lage aufsuchen, erwarten von uns zunächst, dass wir ihnen mit Verständnis und Respekt begegnen. In vertraulicher und geschützter Atmosphäre können sie ihre aktuelle Situation mit uns besprechen – und wir suchen gemeinsam mit ihnen nach für sie passenden Wegen, die Situation gut zu bewältigen. Dazu gehört, dass wir ihnen alle Informationen zur Verfügung stellen, die sie benötigen, um eine verantwortungsvolle Entscheidung zu treffen.
Das bedeutet, dass wir sowohl mögliche Hilfen und Unterstützungangebote aufzeigen, die für sie und das Kind greifen könnten, wenn sie eine Entscheidung zur Fortführung der Schwangerschaft trifft – als auch alle Informationen über die gesetzlichen Rahmenbedingungen weitergeben, für den Fall, dass sie sich für einen Schwangerschaftsabbruch entscheidet. Die Beratung wird von uns grundsätzlich ergebnisoffen geführt, die Frauen bekommen bei uns eine Bescheinigung, dass sie die Beratung wahrgenommen haben.
Ein Mann aus dem Raum Waldkirchen hielt vor Kurzem eine 40-tägige „Mahnwache gegen das Recht auf Schwangerschaftsabbruch“ vor der pro-familia-Geschäftsstelle in Passau ab, teils flankiert vom AfD-Landtagsabgeordneten Ralf Stadler. Wie blicken Sie darauf zurück?
40 Tage Dauerbelagerung einer Beratungsstelle, in der Menschen aus unterschiedlichsten Gründen Hilfe und Unterstützung suchen, stellen für uns einen massiven Eingriff sowohl in die Persönlichkeitsrechte der Klientinnen und Klienten als auch in die Persönlichkeitsrechte der Mitarbeitenden dar.
Die Tatsache, dass dieser Mann darüber hinaus Mitglied der in Teilen rechtsextremen AfD ist und für diese im Landkreis Passau für den Kreistag kandidiert, und dass sich weitere einschlägige Personen aus dem rechten Spektrum mit ihm solidarisiert haben, ist für uns eine sehr bedenkliche Entwicklung. Wer sich die Wahlprogramme dieser „Partei“ und Äußerungen prominenter AfD-Vertreter zu Frauenrechten, den Rechten von Alleinerziehenden, von Menschen mit anderer sexueller Orientierung aber auch von Menschen mit Fluchterfahrung ansieht, der kann sich denken, dass wir auch zukünftig versuchen werden, unsere Klientinnen und Klienten sowie deren Rechte zu schützen. Es kann nicht sein, dass Einschüchterung, Diffamierung und Observierung von Beratungsstellen durch die Meinungsfreiheit und das Versammlungsrecht geschützt sind.
„Es gibt nicht DIE perfekte Erziehung“
Wie gehen Menschen heutzutage mit ihrer Sexualität um? Welchen Stellenwert hat Sexualität heute?
Sexualität hat im Leben der Menschen schon immer eine wichtige Rolle gespielt. Der Umgang damit hat sich jedoch verändert. Während in früheren Generationen alle Themen rund um die eigene Sexualität noch sehr verhalten angesprochen wurden, gibt es heute viele Möglichkeiten sich Informationen zu holen, sich auszutauschen, aber auch sich Beratung und Unterstützung zu holen. Trotzdem ist es noch immer so, dass gerade sexuelle Orientierung, die vom klassischen Modell Mann/Frau abweicht, mit vielen Tabus und Vorurteilen begegnet wird.
Generell: Zu welchem Zeitpunkt bzw. in welchen Situationen sollten sich Eltern Rat bei pro familia holen?
Je früher desto besser. Oftmals reicht eine frühzeitige Beratung mit zwei Terminen bereits aus, um Schwierigkeiten und Herausforderungen besser zu meistern.
Wie ist Ihre Erfahrung: Sind Eltern aufgrund zunehmender Einflüsse von außen unsicherer geworden in Sachen Kindererziehung?
Es gibt auch hier kein klares Ja und kein klares Nein. Zum einen haben Eltern – gerade aufgrund der vielen Möglichkeiten, sich Unterstützung selbst zu holen, etwa in Ratgebern, im Internet etc. – natürlich auch viel mehr Kompetenzen, die sie sich erwerben können. Andererseits macht es manche Eltern auch unsicherer, was jetzt genau das richtige für sie und ihre Situation ist.
Bei allen Ratgebern, Internettipps und sonstigen Formaten: Letztlich denke ich – aber das ist meine persönliche Meinung – zählt noch immer der direkte persönliche Austausch mit anderen Menschen am meisten. Und vielleicht ein wenig mehr Gelassenheit im Umgang miteinander und mit den eigenen Kindern. Es gibt nicht DIE perfekte Erziehung.
„Klima, in dem sie vorurteilsfreie Unterstützung erfahren“
Abschließend: Was wünschen Sie sich für die Zukunft von pro familia?
Für pro familia wünschen wir uns als Verein natürlich mehr engagierte und motivierte Mitglieder sowie eine bessere Förderung unserer Beratungsangebote. Für unsere Klientinnen und Klienten wünschen wir uns ein gesellschaftliches Klima, in dem sie vorurteilsfreie Unterstützung erfahren und angstfrei ihre eigene Idee eines zufriedenen Lebens führen können. Also leben und lieben können – ohne Bevormundung!
die Fragen stellte: Stephan Hörhammer