Regen. Josef „Sepp“ Probst ist neuerdings auf den Wolf gekommen: Bayerwaldmythen, Waizg’schichten, Schauermärchen über dunkle Gestalten und unheimliche Geister, die in den Häusern, Wäldern und Fluren ihr Unwesen getrieben haben, als der Bayerwald noch sehr schauderhaft war – das ist die Welt, in die sich der Regener Heimatforscher seit seiner Jugend gerne begibt. Und mit ihm eine enorme Fangemeinde, die weit über den Woid hinausreicht. Inzwischen ist Josef Probsts neunter Band über Bayerwaldmythen erschienen, seine Wanderungen (inklusive düsterer Gesellen) und Vorträge erfreuen sich großer Beliebtheit. Sein neuestes Forschungsobjekt: der Wolf und seine vermenschlichte Version – der Werwolf.
Doch: Wie ist er dem Wolf überhaupt auf die Spur gekommen? „Mein bester Freund, der Woid Woife, und ich verbringen viel Zeit in seinem Bauwagen im Wald. Wir haben uns über den Wolf unterhalten, seine Rückkehr in den Bayerwald und die Problematik, die damit zusammenhängt. Ich hab mir dann gedacht: Vielleicht gibt es ja auch Legenden und Mythen über den Wolf und den Werwolf“, erinnert er sich in seiner gemütlichen Schreib- und Recherchestube sitzend, umrahmt von gruseligen Perchtenmasken und Hunderten von Büchern.
Der Wolf im Wald
Der Wolf – auch als Holzhund, Waldläufer oder Meister Isegrim bezeichnet – ist ein Hetzjäger, der freie Flächen braucht, weshalb der Bayerische Wald nie ein ideales Terrain für ihn darstellte. Laut Überlieferung nahmen die Vierbeiner im ausgehenden 17. Jahrhundert derart überhand, dass so genannte Wolfsgruben ausgehoben wurden, um die Wildhunde zu fangen. Fiel der Wolf in die abgedeckte Grube und blieb darin gefangen, wurde er erschossen. Noch heute sind einige dieser Gruben im Wald zu sehen. Man geht davon aus, dass die fortschreitende Rodung der Wälder den Wolf dazu zwang, sein Revier zu verlassen.
In der Folge wurde er in die Nähe der Menschen gedrängt, um Kühe, Schafe oder Ziegen zu reißen. 1827 wurde das bis dato letzte Exemplar auf dem Wolfsriegel nahe der böhmischen Grenze erlegt. Immer wieder durchstreiften seitdem einzelne Wölfe aus dem benachbarten Böhmen den Bayerwald. Seit 1996 gibt es nun wieder freilebende Wölfe in Deutschland, eingewandert aus Tschechien und Polen. Aktuell sollen zwei Rudel im Bayerischen Wald leben.
Mythos Wolf
Bereits in der keltischen, römischen und germanischen Mythologie waren Wölfe bekannt. Unter den Kelten gab es die sog. Wolfskrieger. Wie Wölfe Rudeltiere sind und gemeinschaftlich jagen, so sollten sich auch die Menschen zusammenscharen und ein Rudel von Kriegern bilden. Die Römer kannten Werwölfe, nannten sie Pelzwechsler. Aus der Haut eines Gehängten sollte man sich einen Gürtel schneidern, womit man zum Werwolf mutierte. Bei den Alten Römern war der Wolf sehr positiv besetzt: Wurde man zum Pelzwechsler, bekam man tierische Kräfte, kannte weder Angst noch Schmerz. Auch den germanischen Wolfskriegern wurden übermenschliche Kräfte zugeschrieben. Vor der Schlacht berauschten sich die Kämpfer mit Pilzen oder Sporen, gewandeten sich in Wolfspelze und verwandelten sich so in einen Werwolf, einen Menschenwolf – unverwundbar und unbesiegbar.
Auch die Todesgottheit Anubis der Alten Ägypter war sehr bedeutend und so war es nicht unüblich, dass verschiedene Kulturen den Wolf als Todesgott verehrten. Als die Menschen noch ‚wild‘ lebten, bestatteten sie ihre Toten nicht, sondern überließen sie der Natur und so konnten sie oft beobachten, dass sich der Wolf der Leiche annahm und so stellte man eine Verbindung zwischen Wolf und Tod her.
Ebenso war dem Christentum der Wolf nicht fremd. Der Teufel wollte es dem lieben Gott gleichtun und ein menschliches Wesen erschaffen, doch dazu war er außer Stande – und so erschuf er stattdessen „nur“ den Wolf. Er musste Gott noch um Hilfe bitten, dem Tier Leben einzuhauchen. Der Wolf wurde nicht als Untier angesehen, sondern eher als Werkzeug Gottes. So zerrissen sie Ketzer, bestraften Kirchenräuber oder beschützten die Reliquien der Märtyrer.
Let’s get loud: die Wolfauslasser
Nicht nur die Waidler wissen um den Brauch des Wolfauslassens, der heutzutage in vielen Bayerwaldgemeinden als große Party gefeiert wird. Der Ursprung des Ritus geht auf die Hirten zurück, die das Vieh um Martini am 11. November von den Schachten zurück in die Dörfer brachten. Sie gingen in Gruppen mit schweren Glocken behängt von Hof zu Hof, um ihren Lohn einzufordern. Man nannte diese Hirtengruppen den „Wolf des Dorfes“. Dirigiert wurden sie von einem weiteren Hirten, häufig ekstatisch anmutend. Oft traten auch mehrere Hirtengruppen gegeneinander an und es ertönte ein regelrechtes Glockengewitter, das die 20 bis 30 Kilogramm schweren Exemplare verursachten. Der Begriff „Wolfauslasser“ rührt daher, dass sich der Wolf, nachdem das Vieh wieder im Dorf war, auf den Schachten wieder frei bewegen konnte, er also abermals ausgelassen war.
Wahrheit oder Märchen?
Wie Josef Probst bei seinen Recherchen herausgefunden hat, herrschte viel Aberglauben rund um den Wolf. So schützten etwa Wolfshaare angeblich vor Dieben und dem Verhexen – oder das Wolfsauge vor dem bösen Blick und anderem Unheil. Außerdem verfolgten Wölfe angeblich Wiedergänger (Tote, die zurückkehren) und zerrissen sie. Und wenn sich ein Mensch in einen Werwolf verwandelte, konnte man dies an den zusammengewachsenen Augenbrauen erkennen…
Auch die volkstümliche Medizin bediente sich des Wolfes. Aß man beispielsweise Wolfsohren, so verbesserte sich das Gehör; bei Halsschmerzen sollte man durch die Luftröhre eines Wolfes trinken oder Gehirn und Haut eines Wolfes – nicht älter als einen Tag alt – auf gebrochene Arme und Beine legen, um den Heilungsprozess zu beschleunigen. Ob die Menschen diese „Wolfsmedizin“ wirklich so praktizierten und in welchem Ausmaß, lässt sich schwer nachprüfen.
Heute würden viele diese Geschichten wohl belächeln oder sich darüber wundern. Doch es gab Zeiten, in denen die Menschen – obwohl tief katholisch geprägt – von diesen Annahmen überzeugt waren und den Wölfen großen Respekt, um nicht zu sagen, große Angst entgegenbrachten.
Wolfssagen aus dem Woid
1815 soll ein Mann den Böhmweg Richtung Deggendorf gegangen sein. In seinem Rucksack befand sich ein Stück Fleisch. Auf Höhe des Sauloches (eine Schlucht im Landkreis Deggendorf zwischen den Ortschaften Rohrmünzmühle und Zwieselerbruck) bemerkte er, dass er einen vierbeinigen Begleiter hatte. Der Wanderer warf dem Wolf in seiner Not das Stück Fleisch vor die Füße, was den angsteinflößenden Gesellen jedoch herzlich wenig interessierte und er nicht von dem Mann abließ. Mittlerweile in Todesangst versetzt, gelobte dieser, sollte er heil zu Hause ankommen, an dieser Stelle ein Kreuz zu errichten. Kaum hatte er die Bitte zum Allmächtigen geschickt, machte sich Meister Isegrim aus dem Staub. Noch heute ist das eiserne Kreuz zu sehen, das der Mann später aufgestellt hatte.
Der Kesselflicker aus Bischofsmais
Anno 1680 war der Kesselflicker im Wirtshaus von Greising, Landkreis Deggendorf, beim Kartenspielen hängen geblieben und wollte zu sehr vorgerückter Stunde den Nachhauseweg nach Bischofsmais antreten. Seine Kumpels warnten ihn jedoch, lieber bis in die Morgenstunden zu warten, da Wölfe unterwegs waren. Dem Kesselflicker war’s gleich – und er ging hinaus in die dunkle Nacht. Am nächsten Tag dann der grausige Fund: Im rot getränkten Schnee fand man die Stiefel des Kesselflickers mit den abgebissenen Unterschenkeln, die noch darin steckten.
Der Wolf und die Weiße Frau
Auf der Burg Runding im Landkreis Cham sollen Zwillingsschwestern gelebt haben. Eine tat nur Gutes, die andere das Gegenteil. Sie war abgrundtief böse. Beide Frauen sollen noch heute als Weiße Frauen auf der Burgruine umherwandeln. Die Gute von einem harmlosen Wolf mit blauen Augen begleitet, die Böse von einem Wolf mit glühend roten Augen. Es sei nicht ratsam, Letzterem zu begegnen.
Von der Plage zur Ausrottung
Während des 30-jährigen Krieges (1618-1648) herrschte in Bayern eine schiere Wolfsplage. Die Wölfe sollen sich stark vermehrt und die natürliche Scheu vor den Menschen abgelegt haben. So kamen sie in die Dörfer, wo einige Leute ihnen auch zum Opfer fielen. Schuld an dieser Tatsache war jedoch der Mensch selbst: Die Pest, die parallel zum Krieg wütete, forderte viele Tote, die nur noch notdürftig begraben werden konnten. Die Leichen lockten Wölfe an, die sie ausscharrten und sich an ihnen satt fraßen. Somit gewöhnten sich die Wölfe an den Geschmack von Menschenfleisch, das fortan zum Beuteschema gehörte. Viele Frauen, Kinder und alte Menschen befanden sich allein im Dorf – die Männer kämpften an der Front kämpften – und waren so den Wölfen weitestgehend schutzlos ausgeliefert. Erst ab dieser Zeit wurde der Wolf nachhaltig gejagt – bis hin zu seiner Ausrottung…
Gibt es Werwölfe nur in Hollywood oder auch im Woid?
Was genau ist nun ein Werwolf? Man kennt dieses erschreckende Menschentier aus Filmen – und wahrscheinlich möchte fast niemand einem Werwolf begegnen. So wurde der blutrünstige Geselle vor allem in der cineastischen Welt gezeichnet. Nicht nur in Hollywood ist er bekannt, auch im Bayerischen Wald gibt es etliche Sagen und Mythen rund um den furchteinflößenden Wolfsmenschen. Der Werwolf vom Kindlstein etwa war sicherlich ein solcher. Nahe Röhrnbach im Landkreis Freyung-Grafenau soll eine junge Frau ihr frisch geborenes Baby im Wald ausgesetzt haben, da der Ehemann verstorben war und sie das Kind nicht alleine durchbringen konnte. Jahre später, in einer Rauhnacht, sprang plötzlich die Stubentür auf und eine Wölfin erschien in Begleitung eines Werwolfs. Der Werwolf sprang förmlich auf die Frau zu und zerriss sie in Stücke. Die Menschen ihrer Umgebung waren davon überzeugt, dass sich eine Wölfin dem Baby annahm, was dieses zu einem Werwolf werden ließ, der sich dann später an der Mutter rächte.
Der starke, grobe Woidhaus Mich zog im Auftrag der Grafenauer Bauern im Frühjahr mit den Stieren auf die Lusenhänge und blieb mit ihnen bis zum Herbst dort. Wenn er ins Tal kam, erzählte er, dass immer wieder ein Stier von Wölfen gerissen wurde, indem seine ganze Seite aufgeschlitzt worden war und er, der Mich, dem Ganzen machtlos gegenüber stand. Langsam wurden die Bauern misstrauisch und sahen sich den nächsten Wolfsriss etwas genauer an. Das Tier war furchtbar zugerichtet und sie waren überzeugt, dass das kein Wolf sein konnte – sie hatten eher den Mich in Verdacht. So schickten sie einen heimlichen Beobachter auf den Lusen. Tatsächlich bemerkte der Knecht, wie der Woidhaus Mich zu einem Stier ging, diesen seitlich aufschlitzte und große Fleischteile davon verzehrte. Der Knecht glaubte, dass er hierzu eine riesige, eiserne Kralle benutzt haben muss, angefertigt von einem Schmid. Alsbald machten sich die Bauern auf den Weg, um den Dieb und Lügner zu stellen – nur dass er sie entdeckte, sich mit großen Schritten und übernatürlicher Geschwindigkeit davon machte und nie mehr aufzuspüren war. Einiges an dieser Geschichte deutet auf eine Werwolfsage hin. Der Name „Eisenkrein“ wird im Bayerischen Wörterbuch als Isegrim, also als Wolf übersetzt…
Der Mythos lebt weiter
Ob nun all diese Geschichten rund um den Wolf der Wahrheit entsprechen oder nur einer lebhaften Fantasie entsprungen sind, sei dahingestellt. Beweisen oder überprüfen kann man es nicht mehr, was auch nicht nötig ist. Es ist trotzdem interessant und spannend in Erfahrung zu bringen, was die Menschen vor vielen Jahren für Erfahrungen mit dem Wolf und seinem Alter Ego, dem Werwolf, gemacht haben…
Der Wolf ist schon ein außergewöhnliches Tier, das den Einfallsreichtum seiner Zeitgenossen stets beflügelte und sie zum einen in größte Todesangst versetzte, ihnen zum anderen jedoch auch höchste Ehrerbietung abrang. Der Wolf ist definitiv mehr als eine Figur in dem Märchen „Rotkäppchen und der böse Wolf“, mehr als eine Gefahr für den Menschen – und stets wert, sich eingehender mit ihm zu beschäftigen…
Melanie Zitzelsberger
- Infos zu Wanderungen und Vorträgen von Josef Probst: www.mystischer-bayerischer-wald.de