So schnell kann’s gehen. War Ministerpräsident Markus Söder im Frühjahr noch Corona-Heilsbringer – mit Zufriedenheitswerten jenseits der 90 Prozent –, bewegt sich der CSU-Chef Tag für Tag Richtung Symbolfigur eines vermeintlichen „Corona-Wahnsinns“. Dabei macht Söder heute nicht viel anders als noch im März und April. Das legt die Vermutung nahe, dass der Zorn auf den Ministerpräsidenten außerhalb seiner Person begründet liegt.
In Krisenzeiten schlägt die Stunde der Exekutive, lautet eine vielbemühte Polit-Formel. In Zeiten von Verunsicherung, Angst, würden sich die Menschen jemanden wünschen, der zeigt, wo’s langgeht. Einer, der den Laden beisammenhält, Fixpunkt in undurchsichtigen Zeiten.
Sieben spaßfreie Monate
Die Coronakrise herrscht nun seit sieben Monaten (eine wirtschaftliche Krise schon seit den 1970ern – aber das ist ein anderes Thema). Was die (ungewöhnlich lange) Stunde der Exekutive für die Regierenden auf Dauer etwas ungemütlich macht: Zur Eindämmung einer Pandemie sind Maßnahmen nötig, die in den seltensten Fällen popularitätsfördernd wirken – die Einschränkung sozialer Kontakte, die Vorverlegung der Sperrstunde, die Absage von öffentlichen Veranstaltungen, Fußballspiele ohne Fans, Maskentragen, derzeit steht auch noch das Weihnachtsfest auf dem Spiel. Kurz: vieles, was Spaß macht. Und den „Spaß“ (offensichtlich und längerfristig) zu beschränken, ist aus Regierungsperspektive selten eine bewährte Strategie, um im Amt zu bleiben. Sieben spaßfreie Monate sind eine lange Zeit…
Freilich muss man nicht alles völlig kritikfrei hinnehmen, was Söder und Co. dieser Tage fabrizieren. Dass der Ministerpräsident derzeit an keinem Mikrofon vorbeispazieren kann, ohne mindestens einmal seine „Entschlossenheit“ zu verkünden, und er sich gleichzeitig (berechtigte) Hoffnungen auf eine künftige Kanzlerschaft macht, ist wohl kein Zufall. Dass Söder seine Politik weniger an der eigenen Überzeugung als vielmehr an Umfragewerten und der Stimmung in der Bevölkerung ausrichtet, hat er in der Vergangenheit mehrfach bewiesen. Aber ihn für seine Corona-Politik zu kritisieren, weil Maskentragen halt irgendwie nervt und einer gern mal wieder durch die Disko steppen würde, ist etwas zu kurz gedacht.
Ein Menschenrecht auf Spaß
Erschwerend kommt hinzu, dass gegenwärtig offenbar so etwas wie ein „Menschenrecht auf Spaß“ eingefordert werden kann. Das ist nicht erst seit Corona so. Wer sich werktags acht Stunden abmüht, scheint zum Lohn auch gleich noch das Recht auf Eskalation mit zu verdienen. Das mag in der Selbsteskalation, vulgo Besäufnis, noch relativ harmlos sein, aber das vermeintliche Recht auf Wochenendtrips nach Mallorca, einer Autobahn ohne Tempolimit, ein Haus mit Garten und Garage für den Zweitwagen betreffen nicht nur das Individuum, sondern eine Gesellschaft als Ganzes. Die ökologische Krise und der Spaß (in der eskalativen Form, wie wir ihn bisher kennen) werden künftig wohl auch keine Freunde mehr. Nur mal als Vorwarnung.
Ich denke, also darf ich.
Dass in einer Gesellschaft, die sich zuvorderst als Summe von Individuen begreift, die Einschränkung individueller Freiheit als Zumutung empfunden wird, ist nachvollziehbar – aber wenig hilfreich. Ein Verständnis von Freiheit, tun und lassen zu dürfen, was man gerade will, und einem tunlichst keiner – und schon gar nicht der Staat! – dazwischen pfuschen soll, verträgt sich schwer mit Beschränkungen, im Allgemeinen.
Das fällt Söder gerade auf die Füße, obwohl nicht zuletzt die Unionsparteien es waren, die die Hoheit der individuellen Freiheit in den vergangenen Jahrzehnten fleißig propagierten (übertroffen lediglich von der FDP, die zunächst Partei-, dann Lindner-gewordene Avantgarde hyperindividualistischen Übereifers). Das Motto „Ich denke, also darf ich“ ist seit der Nachkriegszeit ideologischer Unterbau konservativer, wirtschaftsliberaler Parteien; Garant dafür, dass eine ausreichend große Menge an Menschen gegen die eigenen Interessen stimmt.
Man kann nur hoffen…
In erster Linie soll das Individuum frei sein, erst dann kommt das Kollektiv. Alles andere ist entweder „Sozialismus“ oder „China“ – gelegentlich auch beides. Dass sich das mit Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie wenig verträgt, wird nicht zuletzt Söder gerade schmerzlich bewusst. Eine Pandemie lässt sich nicht individuell lösen. Die Bekämpfung einer Pandemie ist eine gesamtgesellschaftliche, grenzübergreifende, auf Solidarität basierende Aufgabe – alles Attribute, die nicht gerade dem Zeitgeist entsprechen.
Die Krise ist nach wie vor die Stunde der Exekutive. Jene Regierungen, die besonders entschlossen gegen die Pandemie vorgingen – etwa Neuseeland, Österreich oder auch Italien – konnten in der Bevölkerung damit punkten. Im Unterschied zu den clownesken Veranstaltungen in den USA, Großbritannien oder Brasilien. Man kann nur hoffen, dass das Bewusstsein dafür auch „nach“ Corona in der Bevölkerung haften bleibt. Denn im Vergleich zur Ökokrise ist eine Pandemie nur eine Aufwärmübung. Leider.
Kommentar: Johannes Greß