Bad Griesbach. „Talent ist das eine“, sagt Huey Colbinger mit ernstem Blick und überzeugtem Brustton. Er gestikuliert viel mit den Händen, wenn er spricht. „Aber du bist noch lange kein Musiker, wenn du dich bei Instagram als Singer/Songwriter kategorisierst – das funktioniert nicht.“ Der 44-Jährige ist aus eigener Erfahrung zur Erkenntnis gekommen: „Musiker zu sein ist ein Leben, eine Haltung, ein Weg – da gehört mehr dazu als ein paar Likes im Internet.“ Treffen mit einem philosophischen Freigeist in Corona-Zeiten.
Mit richtigem Namen heißt er Uwe Kolbe. „Colbinger“ nannten ihn seine Kumpels in Kindertagen. Geboren und aufgewachsen ist der Mann mit dem blonden Haarschopf, dem wuseligen Vollbart und der kräftig-klangvollen Stimme in Mittweida, einer 15.000-Einwohnerstadt im Landkreis Mittelsachsen, unweit von Chemnitz. „Vor 25 Jahren hätte ich niemals gedacht, dass ich heute in Bayern lebe, in Tübingen ein Album aufnehme und das Foto fürs Cover von einem Konzert in der Nähe von Bremen stammt“, sagt Huey Colbinger und schüttelt verwundert den Kopf. „Verrückte Vernetzung.“
„Von da an hab ich gebrannt“
Er ist viel rumgekommen in den vergangenen zwei Jahrzehnten. Insbesondere seit er alleine auf der Bühne sein eigenes Programm präsentiert. 2018 zählte seine Tour durch Deutschland knapp hundert Auftritte, ein Jahr darauf hatte er die magische Grenze mit über 100 Gigs innerhalb eines Jahres geknackt. Ein Leben auf Tour, das er Mitte der 90er Jahre mit seiner ersten Band bereits in Ansätzen kennengelernt hatte, das sich als Solo-Künstler aber noch um ein Vielfaches intensiver gestaltete. Hamburg, Berlin, Dresden, Nürnberg, Stuttgart – in einer Woche fünf bis sechs Clubs. Mit tausenden Kilometern Wegstrecke dazwischen, die er auf der Fahrt zu seinen Auftritten zurücklegt. Mit etlichen Menschen, denen er auf Tour begegnet ist. Mit unzähligen Eindrücken, die ihn bis heute antreiben.
Im Alter von sieben Jahren kam er erstmals mit einem Instrument in Berührung: Seine Eltern ermöglichten ihm das Klavierspiel. „Das war aber nicht meins“, blickt er heute ernüchtert zurück. Ein Freund bekam ein Keyboard, mit dem sich die ersten Stücke komponieren ließen. Geprägt wurde er in den 80ern von seinem älteren Bruder, der Platten von Duran Duran, OMD, The Cure und Depeche Mode sammelte – „Mainstream mit Anspruch“, wie Colbinger diese Art von Musik heute beschreibt. Dann traten „Die Ärzte“ in sein Leben – und plötzlich war alles anders, „anders als das, was all die anderen gehört hatten“. Doch den Aha-Moment schlechthin gab’s für ihn mit 15: „Should I Stay Or I Should I Go“ von „The Clash„, eine der einflussreichsten britischen Punkbands, festigten den Entschluss in ihm, Gitarre zu lernen, Lieder zu schreiben und eine Band zu gründen. „Bei dem Riff ist irgendwas passiert mit mir, von da an hab ich gebrannt.“ Mehr als 120 Songs hat er seitdem erschaffen. Das Gitarrenspiel hat er sich selbst beigebracht.
1996 hat er schließlich damit angefangen professionell Musik zu machen, in einer Chemnitzer Dark-Rock-Band namens „Trysticia“, mit der er auf Deutschland-Tour ging – samt Manager und „strukturiertem Gefüge“. Dazwischen hatte er den Versuch gestartet BWL zu studieren, dabei jedoch schnell festgestellt, „dass der Betrieb einer Fachhochschule nicht mein Betrieb ist“. Auch das Studium der Politikwissenschaft an der Uni änderte diesen Eindruck nicht.
„Vielleicht waren die eigenen Ent-Täuschungen zu groß“
Nach dem Aus seiner ersten Band ging’s für ihn nach Leipzig zu einer Truppe, die einen Sänger suchte. Damals fing er mit dem Schreiben von Gedichten an, ganz so wie Jim Morrison, Frontmann der Rockband „The Doors„, eines seiner Vorbilder. Nach zwei weiteren Jahren startete er mit einem Keyboarder das Projekt „Solid“ und veröffentlichte ein Album. 2003 folgte dann der emotionale Burnout. Vier Jahre lang ging gar nichts mehr in Sachen Musik. „Ich hatte ein Vakuum – vielleicht waren die eigenen Ent-Täuschungen zu groß“, versucht er sich selbst zu analysieren. Selbstreflexion – eine Eigenschaft, die immer wieder zum Vorschein kommt. Auch in seinen Liedern.
Die Zeit bis zu seiner Rückkehr auf die Bühne überbrückte er am Küchenherd eines Leipziger Restaurants, das ein Freund dort eröffnet hatte. Der Job gab ihm Struktur und Regelmäßigkeit, die er in der Krise so dringend benötigte. Doch das „Virus Musik“, mit dem er sich bereits infiziert hatte, holte ihn wieder ein: „Es gab eine Jubiläumsfeier im Restaurant. Eine Reggae-Band aus Leipzig war da, der Sänger kannte mich von früher, der wollte, dass ich spiele. Er sagte nach meinem Auftritt zu mir: Du hast doch Lieder geschrieben – und wenn du sie rufst, werden sie wieder kommen. Er sollte Recht behalten.“
Was folgte, war die Geburtsstunde der Band „Colbinger“: Noch in der Restaurant-Phase traf er auf Musiker, die Lust hatten, mit ihm ein neues Projekt zu starten, was sieben Jahre lang existierte. Er wollte die Band professionell und unabhängig dorthin führen, wo sie von der Musik leben kann. „Doch das ist nicht gelungen, weil da eben viel mehr dazu gehört.“ Die nächste Ent-Täuschung hatte sich Bahn gebrochen.
2014 dann der erste Solo-Auftritt, ein Benefiz-Konzert in Chemnitz – „mit Songs, die ich nie zuvor alleine gespielt habe“. Hinterher kam einer auf ihn zu und meinte: „Weißt du, dass du alleine viel fetter klingst? Deine Stimme hat Raum!“ Er schien nun endlich das gefunden zu haben, wonach er solange gesucht hatte: Colbinger – solo. Ein langer und lehrreicher Prozess mit Happy End und der Veröffentlichung seines ersten Solo-Albums. „Komplett allein eingespielt, alles nur auf mich reduziert.“
„Ich bin nur mir selbst Rechenschaft schuldig“
Im Herbst soll nun das zweite Studiowerk folgen, der Beginn einer zusammenhängenden Trilogie, 31 Songs verteilt auf drei Alben. Titel: „Sünder, Pilger und Rebell“. Drei Aspekte, die jeder in sich trägt, der sich mit sich selbst auseinandersetzt, wie Huey Colbinger erklärt. „Phasen der Transformation“, wie er sie nennt. „Du musst erstmal Mist bauen, um zu lernen; dann auf Pilgerreise zu dir selbst gehen, um dich kennen zu lernen – um dann irgendwann dem Richtigen die wichtigen Fragen zu stellen: nämlich dir selbst.“ Die Trilogie handle von menschlicher Weiterentwicklung, vom Lernen, von Akzeptanz, von Hinterfragung. „Ich möchte morgen die bessere Version sein als die heutige“, sagt der 44-Jährige über sich selbst.
„Die höchste Instanz“: Single-Auskopplung vom neuen Album „Sünder, Pilger, Rebell“:
Durch die jahrelange Beschäftigung mit sich und seiner Persönlichkeit habe sich Huey Colbinger zu einem wahrhaftigen Künstler entwickelt – „nicht, weil ich den Anspruch habe, sondern weil mein Werk dies zeigt“, sagt er, der sich als Independent-Künstler, also als frei und unabhängig, bezeichnet. Sein Publikum mit seinen Texten und Songs zu indoktrinieren, sich anzubiedern, liege ihm fern. „Ich habe mir eine Struktur erarbeitet, die ich selbst verstehe“, betont er. „Ich bin nur mir selbst Rechenschaft schuldig; ich entscheide selbst, verantworte selbst; ich möchte keinen Markt bedienen, sondern ich stelle mich mit meiner Haltung hin und biete sie den Leuten an – das ist mein Selbstverständnis eines Künstlers, das wohl nicht ganz kompatibel ist mit mainstreamigem Erfolg. Wenn die eigene Haltung der Preis dafür ist, nicht reich und berühmt zu sein, dann ist das ein guter Preis – und den zahl ich gerne.“
Stephan Hörhammer
Huey Colbinger fordert: „Mit der Corona-Situation rational umgehen“
Wenn Du an den Beginn der Corona-Zeit zurückdenkst – wie war Deine erste Reaktion?
Grundsätzlich gilt: Ich vertraue dem, was ich tue. Ich bin ein Hier-und-Jetzt-Mensch. Ich lasse mir als freischaffender Lebenskünstler keine Angst machen. Für mich war’s anfangs sehr abstrakt. Ich habe mich als vernünftiger Mensch informiert und die Situation akzeptiert. Mir war klar, dass Corona für mich eindeutige Auswirkungen haben wird. Mir war klar, dass es mindestens bis Herbst dauern wird. Ich komme aus einer Ärztefamilie, habe mich mit meinen Verwandten sachlich-rational, also emotional gelöst, ausgetauscht.
„Sondern, dass die tatsächlich nichts haben“
Da ich Lebenskünstler bin, bin ich auf solche Krisen vorbereitet, das heißt: Ich kann mit Krisen und Perspektivlosigkeit insofern umgehen, dass ich immer versuche meinen Platz und meinen Weg zu finden. Ohne Hilfe zu erwarten oder in Anspruch nehmen zu müssen, bin ich in der Lage mich um meine Angelegenheiten zu kümmern – stets innerhalb des Systems, sprich: über Geldmittel zu verfügen, die ausreichen, damit ich einen gewissen Zeitraum überleben kann. Es geht mir darum, dass ich eigenverantwortlich das tun kann, was ich mir als Berufsmusiker erarbeitet habe.
Hast Du dann überhaupt Existenzängste?
Jeden Tag, aber die hab ich schon seit 20 Jahren. Die Angst davor, nicht mehr in der Lage zu sein, meinem Anspruch gerecht zu werden und mich hinzusetzen und zweieinhalb Stunden zu spielen. Jeder ernst zu nehmende Künstler hat genau diese Ängste, weil da viel mehr mitschwingt als das Anbieten einer reinen Dienstleistung.
Was Corona betrifft, so hoffe ich, dass die Politik versteht, dass gut zwei Millionen Menschen, meine Kollegen, nicht aus Töpfen gefüttert werden, wie das bei anderen der Fall ist. Sondern, dass die tatsächlich nichts haben. Viele leben von der Hand in den Mund – und wenn dir dann noch diese Hand auf den Rücken gebunden wird, bleibt nicht mehr viel. Das sehe ich gerade mit großer Besorgnis. Das kann Folgen haben, die ich mir nicht wünsche. Die Soforthilfe für Künstler hab auch ich bekommen – auf fünf Monate betrachtet ist das jedoch nicht ausreichend. Die Hälfte meiner Konzerte findet coronabedingt nicht statt in diesem Jahr.
„Muss mich meinen Notwendigkeiten stellen“
Hast Du die Corona-Auszeit kreativ nutzen können?
Absolut, ich war produktiv, habe mein Gedichtband fertig gestellt. Ich hatte Zeit, mich nochmals mit dem inhaltlichen Feinschliff der Trilogie zu beschäftigen, Lieder zu üben, Texte nochmals zu überarbeiten. Aber die kreative Arbeit findet immer statt. Die größte Herausforderung ist es, sie in eine Form zu bringen. Das ist ein Prozess.
Siecht durch Corona die gesamte Kulturszene mehr oder weniger dahin?
Drei Wochen nach dem Lockdown hatte ich bereits die Befürchtung, dass es eine Bereinigung von bis zu 30 Prozent meiner Kontakte geben wird. Bei vielen ohnehin schon gebeutelten Clubs ist Corona sicherlich der letzte, ausschlaggebende Tropfen zum Aufhören. Dass dieses Ende künstlich herbeigeführt wird, ist natürlich dramatisch und für mich nicht hinnehmbar: Dass man es in Kauf nimmt, dass diese Clubs nicht durch Misswirtschaft, sondern durch Corona verschwinden.
Huey Colbinger im März 2020: „Wir werden das alle überstehen“
Hast Du einen Plan B, wenn die sog. zweite Welle kommen sollte? Oder wenn es gar das gesamte nächste Jahr über keine Auftritt gibt?
Dann kann man sich als Musiker wohl aufhängen. Den Plan B gibt’s in dem Sinne nicht, aber wenn ich mir die letzten 20 Jahre ankucke, hab ich’s ja auch irgendwie hingekriegt. Ich scheue mich nicht vorm Anpacken. Ich bin ein Mensch, der sich seinen Notwendigkeiten stellt. Und wenn ich mit der Musik kein Geld verdienen kann – aus welchen Gründen auch immer -, muss ich mich meinen Notwendigkeiten stellen und schauen, wie ich anders Geld verdienen kann. Doch das wäre richtig blöd, weil ich an dieser Misere nicht schuld bin.
„Ich weiß, dass ich nichts weiß“
Was wünschst Du Dir?
Ich wünsche mir, dass wir versuchen mit der Corona-Situation rational umzugehen. Dass wir uns generell nicht von emotionalen Diskussion leiten lassen, von Halbwahrheiten und Unwahrheiten, sondern dass wir uns eine gewisse Ruhe und Distanz bewahren, damit wir tatsächlich sehen, was los ist. Ich kann nur eins sagen: Ich weiß, dass ich nichts weiß.
Ich wünsche mir, dass dieses Jahr alles so vernünftig abläuft, dass ich wenigstens die 70 oder 80 Prozent meiner Konzerte zum Ende des Jahres durchführen kann. Großveranstaltungen wird es nicht geben. Ich wünsche mir, dass in den Kleinkunstbereich wieder etwas mehr Bewegung kommt, sodass die Strick-Situation vermeidbar bleibt.
Ich bin Lebenskünstler – ich habe das Gesetz des Dschungels schon längst verstanden. Wir leben in Europa in einer sehr unnatürlichen Versorgtheit, die nicht mit dem Gesetz des Dschungels übereinstimmt. Mein Prinzip lautet: Du musst ein selbständiger, eigenständiger Mensch sein, der sich um seine Notwendigkeiten nach seinen Möglichkeiten kümmert. Dann fährst du gut.
Vielen Dank für das Gespräch – und alles Gute weiterhin.
Interview: Stephan Hörhammer