Samstag, 18. April. „Love myself/ Better than you/ I know it’s wrong/ So what should I do?“ Während ich diese Zeilen schreibe, läuft im Hintergrund „On a Plain“ von Nirvana, der legendären 90er-Jahre-US-Grunge-Band um Sänger und Frontmann Kurt Cobain. „Unplugged in New York“ lautet der Titel des Albums aus dem Jahr 1994, das in meinem CD-Player seine Runden dreht und eine ganz besondere Stimmung erzeugt. Ich kann mich noch gut daran erinnern, als vor ziemlich genau 26 Jahren Cobains Selbstmord in den Nachrichten verkündet wurde. Ich lag in meinem Zimmer auf dem Bett, starrte an die Decke – und Kurt blickte mich vom Bravo-Poster an der Wand aus an. Ich war 13 – und (generell) verwirrt. Mit Musik verbundene Emotionen, die sich einprägen.

Die Corona-Krise hat nicht nur ihr Schlechtes, sondern ermöglicht einem etwa einen intensiven, mit vielen Erinnerungen garnierten Blick in die musikalische Mottenkiste.
Die Corona-Krise mit ihrer Ausgangsbeschränkung, die noch mindestens bis 3. Mai gilt, ermöglicht mir musikalische Rückblicke, ja Flashbacks, wie diese. Sie ermöglicht mir aufgrund der äußeren Umstände innere Einkehr zu halten. Sie öffnet mir Zeitfenster, die ich im „Normalbetrieb“ zuletzt nur sehr selten genießen konnte. Richtig gelesen: „genießen“. Denn es ist tatsächlich etwas Kostbares, sich (ohne schlechtes Gewissen) endlich einmal Zeit für diejenigen Dinge nehmen zu können, die man sich schon seit Ewigkeiten vorgenommen hat, wie zum Beispiel das intensive Hören alter Platten – und dabei in Erinnerungen zu schwelgen. Grundsätzlich bin ich immer schon der Überzeugung, dass mit Musik vieles leichter geht im Leben.
Es war die Zeit der Veränderung
Ich greife wahlweise ins CD-Regal nach weiteren Alben und spiele sie nacheinander ab. Platte eins: „Gö du bleibst“ von STS, das Best-of-Album der Austro-Pop-Ikonen Steinbäcker, Timischl und Schiffkowitz aus dem Jahr 1992. Es geht los mit „Fürstenfeld“ und „Großvater“, geht weiter mit „I hab de leben g’sehn“ und „Irgendwann bleib i dann dort“ – und endet schließlich bei „Mach die Aug’n zu“ und „Überdosis G’fühl“. Und ja, es ist tatsächlich eine kleine Überdosis an Gefühlen, die mich überkommt, während die drei Österreicher meine Boxen beschallen. Ich denke an meine Opas, die beide nicht mehr leben. Daran, was von ihnen in meinem Gedächtnis übrig geblieben ist. Ich denke zurück an Urlaube in meiner Kindheit, auf Almhütten und am ungarischen Plattensee, an die Schulzeit im Freyunger Gymnasium und meine Freunde von früher. Denke an Momente von Verliebtheit und Unsicherheit, Überschwang und Enttäuschung.
Platte zwei: „Framed“ von der „Sensational Alex Harvey Band„, ursprünglich aus dem Jahr 1973, „digitally remastered“ 1992. Bei der vierten Nummer, „Isobel Goudie“, tauchen Fragmente von Besuchen in der sagenumwobenen Wirtshaus-Disco „Büchl„, zwischen Hutthurm und Neukirchen vorm Wald gelegen, vor meinem inneren Auge auf: ein finsterer, verrauchter Keller, eine Bar, laute Musik, viele Leute, die um eine Betonsäule tanzen wie einst die Israeliten um das goldene Kalb, die viel Alkohol trinken, die miteinander reden, gestikulieren, sich küssen. Ich mittendrin – knappe 20, staunend, schwitzend, schwankend. Einige Jahre später wurde mir die Ehre zuteil, für einen Abend lang meine CDs dort aufzulegen – und die Besucher tanzen zu lassen.
Platte drei: „Morrisson Hotel“ von den „Doors„. „Roadhouse Blues“, „Waiting for the Sun“, „Indian Summer“. Frontmann Jim Morrison hatte es mir mit seinem Charisma schon sehr früh angetan, die erste Doors-„Infektion“ erhielt ich von meinem zwei Jahre älteren Cousin, der ein Doppel-Best-of-Album besaß. Schwerst pubertär verabreichte ich mir im Sommer ’93 meine tägliche Doors-Dosis. Welche psychedelischen Nachwirkungen dieses Prozedere bis heute hat, lässt sich nur schwer beurteilen. Doch es war eine Zeit, die ich auf keinen Fall missen möchte. Es war die Zeit der Veränderung.
Wird sie noch dieselbe sein wie zuvor?
Eine Zeit der Veränderung, wie sie vielleicht auch jetzt in diesen Tagen und Wochen im Gange ist. Wie wird sich die Welt durch Corona verändern? Wird sie, wenn alles „vorbei“ ist, noch dieselbe sein wie zuvor? Werden wir noch dieselben sein? Ausgang ungewiss. Doch ich hoffe nach wie vor, dass wir als Menschen in unserer Gesamtheit daraus die richtigen Schlüsse ziehen werden. „It is now time/ To make it unclear/ To write off lines/ That don’t make a sense“, singt Cobain seine letzten Zeilen von „On a Plain„. Ich bin gespannt, auf welchen persönlichen Flashback-Corona-Soundtrack ich in zehn, zwanzig Jahren zurückblicken darf…
Stephan Hörhammer