Donnerstag, 8. April: Wenn meine Oma weint, bricht es mir das Herz. Einerseits, weil derartige Gefühlsausbrüche bei ihr eher selten sind. Nur in Ausnahmesituationen wie Hochzeiten, Geburten oder Trauerfällen fließen bei ihr Tränen. Andererseits, weil ich bei meinen Großeltern, die in der Nachbarschaft wohnen, eine einzigartige, unvergessliche Kindheit erleben durfte – und ich deshalb alles in meiner Macht stehende unternehme, dass sie einen schönen Lebensabend verbringen. Und eben nicht weinen müssen. Besuche bei unseren Familienältesten stellen für mich ein alltägliches Highlight dar, keine lästige Pflicht. Seit Inkrafttreten der Ausgangsbeschränkung jedoch bleiben meine Großeltern meist alleine – und damit kommen sie augenscheinlich so gar nicht klar. Denn als mich meine Oma vor Kurzem auf einer Frischluft-Tour durch ihr Küchenfenster erblickte, ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf.
Keine Frage, das „Großeltern-Verbot“ ist für mich auf den ersten Blick eine Art Strafe. Auf den zweiten Blick jedoch ein völlig verständlicher und logischer Schritt in jenen Corona-Zeiten. Meine Omas und Opas zählen mit ihren jeweils 90 Lebensjahren, ihrer altersbedingten Gebrechlichkeit und ihren unterschiedlichsten Vorerkrankungen zur Risikogruppe schlechthin. Die beste Möglichkeit, sie vor einer Infektion zu bewahren, ist deshalb: Abstandhalten – ohne Wenn und Aber. Auch wenn es für beide Seiten weh tut. Kontakt zu diesen, in meinem Leben sehr wichtigen Menschen findet daher momentan ausschließlich per Telefon statt (WhatsApp, Skype o.Ä. kennt diese Generation nicht). Auch wenn es mich freut, wenn mich Oma oder Opa mal anrufen, vermisse ich die gemütlichen Kaffeekränzchen mit selbstgebackenem Kuchen, garniert mit dem neuesten Dorf-Tratsch, schon sehr.
103 Senioren erhalten demnächst Post von Maria Götz
Während die Einsamkeit für meine Großeltern, die jeweils viele Kinder, Enkel und Urenkel haben, die sie in (hoffentlich) absehbarer Zeit wieder besuchen können, eine eher temporäre Angelegenheit zu sein scheint, gibt es viele Senioren, die in diesen Tagen regelrecht vor sich hinvegetieren. Die vielen Bewohner in den regionalen Seniorenheimen etwa. Sie werden zwar vom Pflegepersonal betreut und umsorgt – menschliche Wärme, wie man sie von einem intakten Familienverbund her kennt, entsteht dabei wohl nur in den seltensten Fällen. Umso mehr erfreute mich jüngst ein Post meiner Facebook-Freundin Maria Götz, der in meiner Timeline aufploppte.
Die 35-jährige Grafenauerin ist stellvertretende Filialleiterin eines Modegeschäfts und befindet sich in der Folge des momentanen wirtschaftlichen „Shutdowns“ in Kurzarbeit. Sie möchte ihre neu gewonnene, unfreiwillige Freizeit jedoch nicht in erster Linie dafür nutzen, um die Frühlingssonne zu genießen oder den Dachboden zu entrümpeln, sondern um ihre Mitmenschen auf irgendeine Art und Weise zu unterstützen. „Ursprünglich hatte ich die Idee, in Discountern beim Regale-Einräumen zu helfen – ich wurde aber nicht gebraucht. Leider kann ich nicht nähen, weshalb auch die Mundschutz-Produktion nichts für mich ist.“ Letztlich erinnerte sich Maria Götz an eine der schwächsten Mitgliedsgruppen unserer Gesellschaft – die Senioren. Und schnell kam ihr die Idee, wie sie diesen Menschen eine Freude machen könnte – mit einem persönlichen, individuell gestalteten Geschenk.
In mühevoller Kleinarbeit fertigte sie in den vergangenen Tagen Grußkarten für 103 Bewohner eines regionalen Seniorenzentrums an. „Ich habe einen Aufruf bei Facebook gestartet, dass ich dabei Hilfe brauche. Leider hat sich niemand gemeldet, weshalb ich das Projekt einfach alleine umgesetzt habe.“ Jeder Bewohner und jede Bewohnerin erhält nun in den kommenden Tagen einen individuell gestalteten Brief, der eines von 13 verschiedenen Kartenmodellen enthält. Dazu gibt es ein paar nette, aufbauende und persönliche Worte. „Zunächst habe ich nach irgendwelchen Sprüchen gesucht. Ich wollte aber keine platten, standardisierten Floskeln, die nicht von Herzen kommen.“ Die Grafenauerin ergänzt: „Während wir Jüngeren heute an eine Zeit nach der Krise denken und uns daran aufrichten können, haben die Ältesten, die oft krank und isoliert sind, diese Perspektive wohl nicht mehr. Doch vielleicht hilft ihnen ja meine Post ein bisschen dabei, in eine etwas positivere Stimmung zu geraten.“
…dann kann nicht nur meine Oma wieder lachen
Eine Privat-Maßnahme, die angekommen ist – hoffentlich nicht nur bei mir, sondern über diesen Tagebuch-Eintrag auch bei vielen weiteren Menschen. In Zeiten des Verzichtes und des Haderns mit der aktuellen Situation, kann man sich immer wieder mal vor Augen führen, dass es da draußen jemanden gibt, dem es in diesem Moment vielleicht noch schlechter geht – unseren älteren Mitbewohnern zum Beispiel. Es ist an der Zeit, den Egoismus hintan zu stellen und die Schwächeren zu unterstützen. Dann bin ich mir sicher, dass nicht nur meine Oma wieder lächeln kann, sondern viele Mitmenschen ihrer Generation…
Helmut Weigerstorfer
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Im Rahmen des Hog’n-Corona-Tagebuches beschreiben die Hog’n-Redakteure Sabine Simon, Helmut Weigerstorfer und Stephan Hörhammer abwechselnd die Auswirkungen der sog. Corona-Krise auf ihr Privatleben, auf ihr Umfeld und die generelle Situation im Bayerischen Wald.