Hinterschmiding. Dahoam im Woid, in der Welt zu Hause. Eine Redensart, ein Spruch, der wohl zu einhundert Prozent auf Andreas Seidl zugeschnitten scheint. Denn egal, ob er gerade beim Großen Preis von Kanada auf dem „Circuit Gilles Villeneuve“ durch die Boxengasse schlendert oder beim China-Grand-Prix in Schanghai unmittelbar neben der Rennstrecke seinen Platz einnimmt – beim 44-jährigen Hinterschmidinger, der seit einem Jahr die Leitung des britischen McLaren-Formel-1-Teams innehat, wird die Liebe zum Bayerischen Wald dadurch nicht weniger, wie er im folgenden Interview mit dem Onlinemagazin da Hog’n verrät.
Andreas: Du bist seit Mai dieses Jahres Team-Chef des Formel-1-Rennstalls McLaren. Bist Du am Ziel Deiner Träume angekommen? Und: Musst Du Dich manchmal selbst kneifen, um all das zu realisieren?
Ich war schon als Kind ein großer Motorsport- und Formel-1- Fan und bin mit Michael Schumacher groß geworden. Seit dieser Zeit war es mein klares Ziel, einmal in der Formel 1 zu arbeiten. Ich liebe den Wettbewerb – und auch wenn die Formel 1 ein großes und komplexes Business ist, ist es am Ende immer noch ein Sport, in dem Du nur gemeinsam als Team etwas erreichen kannst. Und genau das fasziniert mich daran.
„Ein bisschen Glück und gutes Timing gehören dazu“
McLaren ist ein super Team mit einer einzigartigen Historie in der Formel 1, extrem talentierten Mitarbeitern und enormer Leidenschaft. Wir wollen mit diesem Team wieder den Anschluss an die Spitze der Formel 1 schaffen. Ich bin zuversichtlich, das wir mit der derzeitigen Mannschaft, mit dem klaren Bekenntnis und der Unterstützung durch die Teambesitzer dies auch schaffen können. Es gibt noch viel zu tun, aber wir haben einen Plan. Diesen umzusetzen ist meine Aufgabe als Teamchef. Und um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: Ja, das ist definitiv mein Traumjob, der mich jeden Morgen aus dem Bett treibt.
Soweit wir wissen, bist Du beim Abitur am Gymnasium Freyung nicht gerade auf den hintersten Plätzen gelandet – und hast vermutlich auch im Studium an der TU München gute Noten gehabt. Wie hattest Du damals den Einstieg in den Motorsport geschafft?
Leider sind auch die besten Noten keine Garantie für einen Job im Motorsport, aber es hilft auf jeden Fall. Wichtig ist es, sich Ziele zu setzen und diese entschieden zu verfolgen. Ich habe mich wirklich hartnäckig am Ende meines Maschinenbau-Studiums um ein Praktikum bei BMW Motorsport zu Beginn des damaligen Formel-1-Projekts beworben – und bekam die Möglichkeit zu zeigen, dass ich einen Beitrag leisten kann. Ich wurde dort direkt in eine Festanstellung nach Beendigung des Studiums übernommen und habe seitdem den Motorsport nicht mehr verlassen.
Wie fühlte es sich für Dich an, als Du von den großen Automobilkonzernen dieser Welt umworben wurdest? Hat das etwas in Dir verändert?
Motorsport ist eine eigene Welt und man kennt sich. Ich habe einfach in den vergangenen 20 Jahren versucht, bei all meinen Stationen immer den absolut besten Job zu machen. Das ist mir scheinbar gelungen, so dass ich mich bei verschiedenen Rennprojekten weiterentwickeln konnte. Ein bisschen Glück und gutes Timing gehören natürlich auch dazu. Ich glaube nicht, dass ich mich großartig verändert habe – das sagen zumindest Freunde und Familie. Dass man mit jeder neuen Aufgabe reift, ist klar.
„Das Feld soll wieder näher zusammenrücken“
Wie beurteilst Du generell die Entwicklung der Formel 1? Seit dem Karriere-Ende von Michael Schumacher scheint – gefühltermaßen – die Luft etwas raus zu sein… Schlagzeilen produziert die Rennserie in letzter Zeit vor allem wegen der gigantischen Summen, die im Formel-1-Zirkus fließen – und auch wegen des immer komplizierter werdenden Regelwerkes. Verabschiedet sich die Formel 1 mehr und mehr von der Basis?
Die Formel 1 ist nach wie vor die Königsklasse im Motorsport mit den schnellsten Autos und den besten Fahrern. Mensch und Material bewegen sich am absoluten Limit. Weltweit ist die Begeisterung für die Formel 1 ungebrochen. In dieser Saison waren viele spannende Rennen dabei und das Ziel für die Zukunft ist klar definiert. Mit den neuen technischen, sportlichen und erstmalig auch finanziellen Regularien ab 2021 gelten für alle Teams neue Spielregeln. Das Feld soll wieder näher zusammenrücken, Fahrer und Fahrzeug stehen im Mittelpunkt mit einem komplett neu entwickelten Auto. Budgets werden limitiert – und auch Nachhaltigkeit spielt eine Rolle. Das bedeutet für alle Teams eine neue Herausforderung. Aber die Änderungen gehen absolut in die richtige Richtung, um unsere Fans auch zukünftig zu begeistern.
Glaubst Du, dass sich der Motorsport angesichts der immer heißer werdenden Klima-Diskussion irgendwann „auflöst“?
Das Thema Nachhaltigkeit ist auch in der Formel 1 angekommen und wurde klar in der für die nächsten Jahre geltenden Strategie verankert. Alle Teams arbeiten eng mit den Veranstaltern der Formel 1 zusammen, um etwa den gesamten CO2-Ausstoß der Formel 1 zu reduzieren. Es geht hier nicht nur um ein gewisses Umweltbewusstsein, sondern betrifft alle Aspekte dieses Sports. Es geht zum Beispiel um die Art und Weise, wie nachhaltig wir unsere Firmen betreiben, wie die Logistik zu den Rennen aussieht bzw. wie die Veranstaltungen durchgeführt werden.
Zusätzlich spielt der Motorsport und im Besonderen die Formel 1 als Königsklasse eine Vorreiterrolle, wenn es darum geht, neue Technologien zu entwickeln, die dann im Anschluss auch für die Allgemeinheit relevant sind. Zum Bespiel war Motorsport schon immer das Prüflabor für Leichtbau oder neue Antriebstechnologien. Unser fast 1.000-PS starker Formel-1-Antrieb arbeitet dank Bremsenergie- und Abgasenergierückgewinnung extrem effizient. Technologien, die in Serienfahrzeugen zum Einsatz kommen.
Hinterschmiding: „Eine sehr schöne und auch behütete Zeit“
Fehlt dem deutschen Motorsport, der ja eine große Tradition hat, aktuell ein Aushängeschild? Sebastian Vettel hat ja, von außen betrachtet, gerade mehr mit sich selbst zu tun…
Aufgrund der Historie sowohl auf Fahrer- als auch Streckenseite ist Deutschland ein wichtiger Bestandteil der Formel 1. Es ist schade, dass Hockenheim als deutscher Austragungsort nächstes Jahr nicht mehr im Rennkalender steht. Ich habe trotzdem die Hoffnung, dass wir es schaffen, in Zukunft wieder ein Rennen hierzulande zu veranstalten.
Auf Fahrerseite ist es normal, dass man Zyklen durchläuft. Mal gibt es Phasen mit vielen bzw. sehr erfolgreichen Fahrern aus dem eigenen Land, mal gibt es weniger dieser Fahrer. Und dementsprechend ist auch das Interesse der Fans im jeweiligen Land geartet. Wichtig ist es, in die Nachwuchsarbeit zu investieren, um den Pool an guten Fahrern hoch zu halten. Dann bin ich mir sicher, dass künftig auch wieder regelmäßig mehr deutsche Talente hier aufschlagen werden.
Wie oft kommst Du eigentlich noch nach Hause in den Bayerischen Wald? Und: Vermisst Du Deine Heimat manchmal? Oder anders gefragt: Wie viel „Woid“ steckt noch in Dir?
Im Moment beschränken sich meine Aufenthalte vor allem auf die Ferienzeiten. Ohne den Woid geht es bei mir und meiner Familie nicht. Es zieht uns einfach immer wieder zurück zu unseren Wurzeln. Unsere Landschaft, die Leute, das Lebensgefühl hier ist schon was Eigenes, Besonderes. Gerade die Ruhe in der Natur schätze ich sehr.
An welche Kindheits- und Jugenderlebnisse im Woid erinnerst Du Dich gerne zurück?
Ich verbrachte meine Kindheit – eingebunden in die Dorfgemeinschaft Hinterschmiding – mit Fußballverein, Ministrantendienst etc. Dank Motorisierung hat sich der Bewegungsradius dann in der Jugend natürlich erweitert. Rückblickend war es eine sehr schöne und auch behütete Zeit. Das Beste war natürlich, dass ich meine heutige Frau im Woid kennengelernt habe – das heißt: Wir ticken gleich und teilen uns die Liebe zum Bayerischen Wald.
„Mein Job lässt kaum Kompromisse zu“
Hättest Du gerne mehr Zeit für Dich und Deine Familie? Und: Glaubst Du, dass Dein derzeitiger Weg im Formel-1-Geschäft der richtige für Dich bzw. Deine Familie ist?
Man muss ganz klar und ehrlich sagen: Mein Job lässt kaum Kompromisse zu. Entweder ganz oder gar nicht. Die freien Zeiten sind seit 20 Jahren rar, damit aber auch umso kostbarer und intensiver. Meine Frau und meine beiden Töchter sind in diese Situation hineingewachsen, wir haben uns als Familie ganz gut damit arrangiert. Ich bin dankbar dafür, dass sie so viel Verständnis für mich aufbringt und mir ermöglicht, meinen beruflichen Traum zu leben.
Welche sportlichen, welche privaten Ziele verfolgst Du in den nächsten Jahren? Und: Was hast Du nach Deiner Motorsport-Karriere geplant? Geht’s zurück nach Freyung-Grafenau?
Sportlich ist das Ziel ganz klar: Wir wollen das Maximum aus unserem Potenzial bei McLaren herausholen und uns gemeinsam als Team zurück an die Spitze kämpfen. Ab 2022/23 wollen wir regelmäßig um Podiumsplätze und hoffentlich Siege mitfahren. Privat habe ich die gleichen Vorsätze für das neue Jahr wie alle anderen Jahre auch: mehr Sport treiben (lacht). Alles andere ist offen. Aber unser Herz schlägt eindeutig für den Woid.
die Fragen stellte: Helmut Weigerstorfer