„Hast Du Dich heute schon geärgert, war es heute wieder schlimm
Hast Du Dich wieder gefragt, warum kein Mensch was unternimmt
Du musst nicht akzeptieren, was Dir überhaupt nicht passt
Wenn Du Deinen Kopf nicht nur zum Tragen einer Mütze hast,
Es ist nicht Deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist
Es wär‘ nur Deine Schuld, wenn sie so bleibt!“
Wien. Als dieser Ärzte-Song 2004 veröffentlicht wurde, erblickten die meisten der hier Anwesenden wohl gerade das Licht der Welt. Hier, das ist der Wiener Karlsplatz. Und die einstigen Sprösslinge haben sich hier versammelt, um genau diese Schuld abzuwenden. Wie in mehr als 100 weiteren Ländern der Welt, pfiffen viele Wiener Jugendliche am vergangenen Freitag auf die Schulpflicht und fanden sich um 10 Uhr vormittags an fünf verschiedenen Sammelpunkten in Österreichs Hauptstadt ein – zum weltweiten Fridays-For-Future-Klimaprotest. Sternförmig sollte von hier aus zum Heldenplatz in die Innenstadt marschiert werden.
Bei der Anmeldung der Protestkundgebung vor wenigen Wochen habe man gegenüber der Polizei angegeben, dass insgesamt wohl mit „1.000 bis 1.500“ Demonstranten zu rechnen sei, wie Hannja Pieser, eine der Mit-Initiatorinnen, erklärt. Dass die Aktion dann doch etwas massiver ausfallen könnte, zeichnete sich schnell ab. 50 Schulen hatten drei Tage zuvor bereits ihre Teilnahme zugesagt: „Ich glaube, es wird groß“, kommentierte Initiatorin Katharina Rogenhofer auf einer eigens anberaumten Pressekonferenz. Als die Stadt Wien einen Tag vor den Protesten verkündete, dass eine Unterschrift der Eltern genüge, um von der Schule befreit zu werden und am Fridays-for-Future-Zug teilnehmen zu dürfen, öffnete dies sämtliche Schleusen. Eine Reportage von Johannes Gress.
„Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut!“
Es ist kurz nach 10 Uhr, vor der Karlskirche versammeln sich die ersten Demonstrierenden. Erst einige wenige kleinere Grüppchen. Dann immer mehr – und mehr. Bis 11 Uhr trifft Schulklasse um Schulklasse ein, auch einige Erwachsene mischen sich unters Volk. Mit einem Megafon in der Hand stimmt Hannja Pieser die Menge ein, es werden Protestsongs eingeübt. Bereits jetzt ist klar: Alleine am Karlsplatz, einem von fünf Treffpunkten, werden es mehr als die zuvor angemeldeten 1.500 Menschen sein. „Die Jugend, die nur noch aufs Handy schaut“, wie die Initiatoren etwas ironisch-spöttelnd meint, ist anscheinend doch nicht so unpolitisch, wie vielfach beschrieben.
Bio-Produkte allein werden’s auch nicht richten
Das verrät auch ein Blick in die Menge: „Wäre die Welt eine Bank, hättet ihr sie schon gerettet“ ist da auf einem der zahlreichen Schilder zu lesen. „I just want to turn older than 28“ auf einem anderen. Und manche wiederum scheinen weit weniger existenzielle Sorgen zu haben: Frei nach Wolfgang Ambros skandieren sie „Weil i wü Schifoan“…
Neben den tausenden Schülerinnen und Schülern, die sich nun Richtung Heldenplatz aufmachen, finden sich auch einige Studierende. Alica Wallendorfer ist eine von ihnen. Eine, die nicht gerade „das Gefühl hat, dass die Älteren sich um das Thema Klimawandel kümmern“. Bio-Produkte allein, so kritisiert die 24-Jährige, werden es wohl auch nicht richten können. Die Englisch-Studentin fordert „mehr in die Forschung zu investieren“, um den drohenden Kollaps abzuwenden.
Einer der „Älteren“ spaziert weiter vorne im Zug mit: Mit seinen 35 Jahren gehört Stefan Hauber zumindest bei einem Schülerprotest schon zur betagteren Generation. Den Grund, warum er heute hier ist, schiebt er vor sich in einem Kinderwagen her: „Weil ich eine Tochter habe, die das nochmal betreffen wird.“ Deshalb wolle er sich hier „solidarisch“ mit der jüngeren Generation zeigen. Der Regierungswechsel bringe seiner Meinung nach für die österreichische Klimapolitik nicht unbedingt Positives mit sich. Ganz im Gegenteil. Alleine deshalb sei es „ein wichtiges Zeichen, wenn sich auch Leute aus anderen Altersgruppen solidarisieren“, findet Hauber.
Erde, Wald, Bier – und irritierte Touristen
Am Heldenplatz angekommen, zeigt sich schnell: Auch die anderen Demo-Sprengel führen weit mehr Menschen mit sich als zuvor angenommen. Auf einer Bühne wechseln sich Rednerinnen mit Musikern ab, Studierende mit Schülerinnen, die ihr Verlangen nach dem ausdrücken, was sie hier alle eint: Mehr Klimaschutz! Mehr Umweltschutz! Unsere Zukunft! JETZT! Doch vom „Ernst der Lage“ ist hier dann doch nur wenig zu spüren. Die Stimmung ist gut. Unterbrochen werden die Ansprachen immer wieder von frenetischem Jubel. Während die einen unsere Konsumgewohnheiten bekritteln, fordern die anderen weit umfangreichere Maßnahmen: Ein „System Change“ müsse her. Ein Systemwandel. Unsere Erde, unser Wald, unsere Tierwelt stehe auf dem Spiel. Und nicht zuletzt – so plakatiert einer der Anwesenden – solle das Bier auch in Zukunft kalt serviert werden. Auch das ist wichtig.
An den Rändern des Protestmarschs sind immer wieder etwas fragende Gesichter zu beobachten: Touristinnen und Touristen, meist mit Selfie-Stick und überdimensionaler Spiegelreflex-Kamera ausgestattet, versuchen auf Englisch zu erfragen, was denn hier los sei. Der Heldenplatz, so versprechen es zumindest gängige Reiseführer, biete Gelegenheit, um die Nationalbibliothek, das Parlament oder die Bleibe des Präsidenten zu bestaunen. Von tausenden grölenden, singenden und klatschenden Protestierenden findet sich darin kein Wort. Auch von den „Opas for Future“ nicht, die in Anlehnung an den Schülerprotest „Fridays For Future“ ebenfalls Flagge zeigten.
„Der Heldenplatz ist echt voll!“
Allgemein betrachtet, erinnert die Szenerie eher an ein Musik-Festival: Mittlerweile gönnen sich einige Teilnehmer eine Verschnaufpause. Sie setzen sich ins Gras, kippen das ein oder andere Dosenbier, hüllen sich in Zigarettenqualm. Es ist 12.30 Uhr, noch immer strömen mehr und mehr Menschen auf den Platz. Während andere ihn bereits wieder verlassen. Wie viele es nun mittlerweile sind, kann so wirklich keiner sagen. „Wir haben wirklich gedacht, dass vier, fünf Schulen kommen. Aber der Heldenplatz ist echt voll“, zeigt sich Lilo, einer der anwesenden Schüler begeistert. Klassenkamerad Julian stimmt mit ein. Man habe das Ganze eben „gut vermarktet“, analysiert er.
Eigentlich, so erklären sie, seien sie nicht so die großen Redner. Journalistische Fragen würden nur ungern beantworten. Aber beim Thema Klimawandel sprudelt es aus den beiden nur so heraus. Kein Wunder, besuchen der 13-jährige Lilo und der 14-jährige Julian auch eine Umweltschule in der Wiener Innenstadt, Unterstufe der AHS Rahlgasse. Alle Klassenkameraden sind heute hier – bis auf zwei, denen die Unterschrift ihrer Eltern verweigert wurde. Und deshalb müsse auch der Lehrer heute im Klassenzimmer zurückbleiben.
I’m having a ball
Don’t stop me now
If you wanna have a good time, just give me a call
Don’t stop me now (‚cause I’m having a good time)
Don’t stop…“
Mit Queen im Ohr geht es um 13 Uhr weiter vors nahe gelegene Bundeskanzleramt. Während die Spitze des Demozugs bereits vor dessen Türen weilt, befindet sich der hintere Teil nach wie vor am Heldenplatz. Da Bundeskanzler Sebastian Kurz in den Augen der Demonstrierenden zwar viel für die Wirtschaft und das eigene Klientel übrig habe, für Umwelt und Klima aber maximal ein paar warme Worte, wolle man ihn jetzt aufwecken: „Bruder Basti, Bruder Basti, schläfst du noch, schläfst du noch? Hörst du uns nicht streiken, hörst du uns nicht streiken?“, trällert die Menge – frei nach dem bekannten französischen Kanon – im Chor. Immerhin Regierungssprecher Peter Launsky-Tieffenthal kommt vor die Tür, wechselt Worte mit Initiatorin Katharina Rogenhofer. Über was sie sprechen, lässt sich selbst aus nächster Nähe nicht vernehmen. Zu laut. „Basti“ soll schließlich aufwachen.
Die Surrealität des Ganzen wird dabei besonders deutlich: Hier eine grölende Menge junger Menschen, die nichts weiter fordert, als den Erhalt ihrer eigenen Zukunft. Dort, hinter dicken Mauern, ein Bundeskanzler, der mit seinen 32 Jahren zwar nicht viel älter ist als das Gros der Demonstranten, dessen Prioritäten jedoch unterschiedlicher nicht sein könnten. Regierungssprecher Launsky-Tieffenthal, begleitet von ein paar Mitte 20ern in Anzug und Gelfrisur, bahnt sich dann auch wieder seinen Weg zurück ins Innere des Gemäuers. Genug Klimaschutz für heute.
Und es dann wahre Freundschaft gibt
Und der Planet der Liebe wird die Erde sein
Und die Sonne wird sich um uns drehen
In der das Wünschen wieder hilft“
Jene Hoffnung, ursprünglich formuliert von den Toten Hosen, teilt auch Bundespräsident Alexander van der Bellen. Als bekannt wird, dass zumindest der (Ex-Grüne) Bundespräsident öffentlich seine Zustimmung bekundet, bricht erneut Jubel aus. Angesichts des Protests habe er „Hoffnung, dass wir diese große Herausforderung meistern können“:
#FridaysForFuture: Wir als Weltgemeinschaft stehen angesichts der Klimakatastrophe vor der größten Herausforderung i.d. Geschichte d. Menschheit. Ihr jungen Leute, Schülerinnen & Schüler & Studierende, gebt mir Hoffnung, dass wir diese große Herausforderung meistern können. (1/2)
— A. Van der Bellen (@vanderbellen) March 15, 2019
Nur unweit des Kanzleramts befindet sich das Bildungsministerium. Auch hier startet man einen Weckruf, fordert ÖVP-Minister Heinz Faßmann auf, auch in der Schule vermehrt ein Augenmerk auf den Klimawandel zu legen. Was er von den Demos hält, machte er schon zuvor klar: „Macht doch die Demos nach Schulschluss um 13 oder 14 Uhr“. Schulbildung gehe vor. Was seinen Wunsch angeht, schenkten offenbar nicht alle Wiener Schulpflichtigen dem Minister ihr Gehör.
Did you ever think
That we could be so close, like brothers
The future’s in the air
I can feel it everywhere
Blowing with the wind of change“
Wie viele diese Meinung an diesem Tag nicht teilen, wird auf dem Weg über den Wiener „Ring“ in Richtung Umweltministerium erstmals überdeutlich. Katharina Rogenhofer, die in den Stunden zuvor telefonierend und organisierend von A nach B marschiert ist, bekommt nun das erste Mal Gelegenheit zum Durchschnaufen. Wie zufrieden sie denn mit dem bisherigen Verlauf sei? „Wahnsinn! 25.000!“ Viel mehr Worte braucht sie nicht. Am liebsten, so hat man das Gefühl, würde sie die ganze Welt umarmen. Kurze Zeit später heißt es dann offiziell sogar: 30.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer!
Hurra, diese Welt geht unter
Hurra, diese Welt geht unter
Auf den Trümmern das Paradies“
Mit K.I.Z. geht es über den Ring bis vor die Umweltbehörde. Und ganz gemäß der Berliner Hip-Hop-Formation heißt es hier: „Wir haben keine Zeit für schöne Worte.“ Mit dem derzeitigen Kurs werde man weder das 1,5- noch das 2-Grad-Ziel erreichen können. Für Österreich, in dem der Temperaturanstieg seit dem vorindustriellen Zeitalter bereits heute 2 Grad beträgt, wäre das eine Katastrophe. Ähnlich wie Basel solle auch Wien den Klima-Notstand ausrufen. Eine Mitarbeiterin des Ministeriums öffnet in einer der oberen Etagen das Fenster – winkt und winkt und winkt. Ob aus Freude oder aus Verzweiflung, weiß man nicht.
Grund zur Freude gibt es an diesem Tag – trotz des ernsten Themas – allemal. Doch die Stimmung während dieses Protests lässt sich nur schwer in Worte fassen. Es ist wohl eine Mischung aus Enttäuschung, Melancholie, Aufbruchsstimmung, Revolution und Protest. 30.000 junge Menschen, die für den Erhalt der Zukunft – ihrer, unser aller Zukunft – protestieren. Inmitten eines Landes, dessen politische und ökonomische Eliten diesem Wunsch bisher nur äußerst wenig Rechnung tragen. Die sich weniger um den Erhalt der Erde als um um den Fortbestand des „Wirtschaftsstandorts Österreich“ sorgen.
Pretending day-by-day
That someone, somewhere soon make a change
We’re all a part of God’s great big family
And the truth, you know, love is all we need
We are the children“
Dass dieses Thema bewegend sein kann, wurde bereits wenige Tage vor der Demo offensichtlich. Die Pressekonferenz im Vorfeld des weltweiten Klimastreiks war eine, wie man sie eher selten erlebt: geprägt von Ernsthaftigkeit, Emotionen und eindringlichen Appellen, dieses Thema auch medial endlich für wichtig zu nehmen. Was man denn gegen diese „Scheisse“ tun könne, fragt einer der Anwesenden. Er wisse es nicht. Aber man müsse doch etwas tun. Er sorge sich um die Zukunft seiner Kinder, bringt er noch heraus – unter Tränen. Dann versagt seine Stimme. Eine unangenehme Stille füllt den Raum. Ein ungewöhnlicher Auftakt für einen außergewöhnlichen Protest.
An diesem Freitag geht eine Demo zu Ende, die wohl noch einige Zeit lang in Erinnerung bleiben wird. Ob der weltweite Widerhall letztendlich politische Konsequenzen haben wird, bleibt offen. Der Verfasser dieser Zeilen verlässt den Ring, biegt nach links in die Straße ein und taucht ab Richtung U-Bahn. Er durchquert ein Einkaufszentrum, vorbei an Menschen, die genüsslich Cola aus Plastikbechern schlürfen, links und rechts je zwei Einkaufstaschen. Zu beiden Seiten leuchten Reklameschilder: Sale! U-Bahntür auf. U-Bahntür zu. Bis zur nächsten Demo.
Johannes Gress