Wien. Insgesamt vier Jahre lang hat das Regisseur-Team um Birgit Bergmann, Steffi Franz und Oliver Werani Obdachlose in Wien begleitet – davon ein Jahr mit der Kamera. Entstanden ist daraus der Dokumentarfilm Zu ebener Erde, der den Alltag von Menschen auf der Straße zeigt. Ebendieser Alltag kann hart und grausam sein, vor allem im Winter, hat aber auch seine herzlichen Seiten, wie etwa eine gemeinsame Weihnachtsfeier. Für das Regietrio waren die Dreharbeiten nicht immer einfach, u.a. wurden sie überschattet vom Tod mehrerer Protagonisten. Doch gerade deshalb, so erklärt Werani im Hog’n-Interview, wollte man die Sache bis zum Ende durchziehen, ihnen „ein Denkmal bauen“.
Herr Werani: Wir sitzen hier in der lebenswertesten Stadt der Welt und diskutieren über Obdachlosigkeit – sollte so ein Film wie der Ihrige in Wien nicht vollkommen unmöglich sein?
Genau, aber ich würde das nicht nur auf Wien beziehen. Für mich ist das unbegreiflich, dass es in einer westlichen, neoliberalen und marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaft eine Situation gibt, in der Menschen Milliarden auf die Seite scheffeln – aber man nicht in der Lage ist, Menschen in Not, Menschen die Hilfe brauchen, zu helfen. Ich kann da drauf keine Antwort geben. Ich begreife es selbst nicht…
„Verschiedenste Dinge können dazu führen, dass man abrutscht“
Wie wird man in einem Staat wie Österreich, der sich bekanntlich selbst als „Sozialstaat“ betitelt, überhaupt obdachlos?
Es wird von Rechtsaußen immer propagiert, dass vor allem Migrantinnen und Migranten zu leicht Zugang zur Mindestsicherung haben und dass die viel zu viel Geld bekommen. Wer selbst einmal um Mindestsicherung angesucht hat, weiß, dass man es sich auch verdient, wenn man’s bekommt. Die bürokratischen Hürden sind hier relativ hoch. Das heißt: Viele Menschen sind oftmals gar nicht in der Lage, diese Aufgabe zu meistern – und daher rutschen viele ab und werden obdachlos.
Aber diesen einen Grund, das haben wir im Laufe der Dreharbeiten herausgefunden, den gibt es nicht. Es ist meistens eine Verkettung verschiedenster Umstände, die zu Obdachlosigkeit führt. Seien es familiäre Probleme, Jobverlust – verschiedenste Dinge können dazu führen, dass man abrutscht.
Und es scheitert dann oft am Papierkram für die Mindestsicherung…?
Ich würde das jetzt nicht verallgemeinern, aber man muss erst darum ansuchen. Dann fehlt irgendein Formular. Dann fehlt irgendein Nachweis. Das ist ein Aufwand, der sich über Monate zieht – und in dieser Zeit bekommst du nichts. Du bekommst es zwar dann im Nachhinein, aber in der Zwischenzeit kannst du schon längst delogiert werden.
„Was denken diese Menschen? Was sind ihre Geschichten?“
Was war die Initialzündung zu diesem Film? Warum ausgerechnet das Thema Obdachlosigkeit?
Wenn man sich umschaut: Die Leute auf der Straße werden nicht weniger. Wenn man ins Kino, in die Arbeit, in die Schule oder wo auch immer hingeht, wenn man in der U-Bahn sitzt… man sieht sie. Aber gleichzeitig sieht man sie doch nicht – oder will sie nicht sehen. Man nimmt sie nicht wahr. Uns hat interessiert: Was denken diese Menschen? Was sind ihre Geschichten? Wir wollten ihnen eine Stimme geben, sie wahrnehmbar machen…
Ihr Team hat die Protagonisten über einen relativ langen Zeitraum begleitet. Was war das für ein Prozess?
Es ist ein kleiner Lebensabschnitt. Man hat ein enormes Vertrauen aufgebaut – und man kann nicht von einen auf den anderen Tag sagen: Danke für die Mitarbeit, jetzt ist der Film fertig und Tschüss! Es war eine Zeit lang sehr schwierig mit dem Elend und dem Leid umzugehen. Da wir als Regietrio zu dritt waren, war es einfacher sich auszutauschen und sich gegenseitig zu helfen. Es gab immer wieder mal eine Person, die ziemlich down war – da sind dann meistens die anderen beiden eingesprungen.
Uns war auch bewusst: Wir sind keine Sozialarbeiter – wir sind Filmemacher. Was wir können, ist Ihnen eine Stimme geben. Aber wenn das Wetter kalt war, wenn’s schiach war, wenn’s geregnet hat, ist man nicht ins Bett gegangen und sofort eingeschlafen. Da waren ganz viele Gedanken, die die ganze Zeit im Kopf herumschwirren. Das hat auch sehr viel mit Macht und Ohnmacht zu tun. Da spürt man die eigene Ohnmacht ganz besonders – man kann nicht wirklich was tun. Man kann ihnen einen Schlafsack geben, mit ihnen reden…
„Das war gleich zu Beginn eine Watschn…“
Wie lange haben Sie die Obdachlosen begleitet?
Das waren ungefähr vier Jahre, die effektive Drehzeit war ein Jahr. Aber wir sind bis heute mit ihnen in Kontakt und haben generell sehr, sehr viel Zeit mit ihnen verbracht. Viel mehr Zeit ohne Kamera als mit Kamera.
Wie nahe geht einem das manchmal?
Im Film wird der Tod eines Obdachlosen thematisiert, aber im Laufe des ganzen Prozesses sind mehrere verstorben. Der erste, den ich kennenlernte und der bei diesem Projekt mitmachen wollte, ist bereits bei der Recherche verstorben. Das war gleich zu Beginn eine Watschn, was emotional sehr viel mit uns gemacht hat. Und dann sind während der Dreharbeiten noch drei weitere verstorben. An so einem Punkt steht man an, man weiß in dem Moment einfach nicht mehr weiter.
Aber man hat auch gewusst, man will das im Sinne der Person jetzt zu Ende bringen. Diese Personen haben bei dem Projekt gerne mitgemacht und ich habe mir dann gedacht: Ich will ihnen ein Denkmal bauen. Ich will ihnen ein würdiges Monument schaffen.
Obdachlos ja, aber bitte nicht vor meiner Tür…
Ein Trend, der derzeit nicht nur in Wien, sondern auch in vielen anderen europäischen Städten zu beobachten ist: Öffentliche Plätze werden für „Unerwünschte“ immer unattraktiver gestaltet. Ich denke da etwa an Parkbänke mit Armlehnen in der Mitte, Alkohol- und Bettelverbote, kostenpflichtige öffentliche Toiletten… Wie gehen Ihre Protagonisten mit so etwas um?
Das wird derzeit immer schärfer. Sie werden vertrieben – und gehen dann woanders hin. Das Problem wird im Endeffekt nur verlagert. Die Leute gibt es ja weiterhin, das Problem wird damit nicht gelöst. Wenn ich sage: Der Stadtpark muss sauber sein, da dürfen keine Obdachlosen sein – naja, dann gehen sie halt woanders hin.
Wie sie damit umgehen? Es geht ihnen fürchterlich auf die Nerven. Hinzu kommen unendlich viele Schikanen von Seiten der Polizei. Die dringen teilweise in Tageszentren ein und da werden dann ein paar osteuropäische Obdachlose, die hier keine Aufenthaltsgenehmigung haben, ausgesucht – und die verschwinden dann. Die werden dann in die Slowakei oder nach Ungarn zurückgebracht. Niemand weiß das genau, sie sind dann auf einmal nicht mehr da.
… obwohl das EU-Bürgerinnen und Bürger sind…
Ja, richtig! Aber sie sind hier nicht gemeldet, haben hier keinen Anspruch. Dann gibt’s eine Polizeikontrolle, einer wird mitgenommen – und man sieht ihn nie wieder.
„Es ist eine reine Symptombekämpfung, die dort stattfindet…“
Gibt’s auf der anderen Seite auch Entwicklungen, von denen Sie sagen, es geht in eine positive Richtung…?
Nein. Es werden ständig mehr Obdachlose… Es gibt wahnsinnig viel Organisationen, die wahnsinnig bemüht sind. Da gibt es auch sehr, sehr viel Hilfsbereitschaft. Dadurch, dass es immer mehr werden, braucht es auch immer mehr Hilfsbereitschaft. Die Polizeikontrollen, die ich gerade angesprochen habe, verschlimmern die Situation eher. Es ist eine reine Symptombekämpfung, die dort stattfindet.
Von dem Trio Bergmann/Franz/Werani gibt es bereits mehrere Produktionen. Wird’s das auch in Zukunft noch öfter geben?
Konkret ist noch nichts in Planung. Wir können uns aber wohl durchaus vorstellen, dass es in Zukunft wieder was geben wird…
… es ist ja auch bereits der dritte Film…
Ja, wir haben uns irgendwie gefunden. Das war ein relativ langer Prozess. Zu Beginn hat man so gut wie alles gemacht, auch sehr chaotisch. Mittlerweile gibt es eine klare Aufgabenverteilung von Buch, Kamera und Schnitt – und das zusammen ergibt die Regie.
Vielen Dank fürs Gespräch und weiterhin alles Gute.
Interview: Johannes Gress