Wien. So wie bisher kann es nicht weitergehen! Eine Gesellschaft, dessen oberstes Credo „immer mehr und mehr“ lautet, die pro Minute 35 Fußballfelder Waldfläche abholzt und alles und jeden dem Wachstumsimperativ unterjocht, beraubt sich seiner eigenen Lebensgrundlage, findet Florian Opitz. Mit seinem Dokumentarfilm „System Error“ liefert der mehrfach ausgezeichnete Filmemacher „schmerzhaft und in aller Kälte“ eine messerscharfe Kritik am Kapitalismus und am bestehenden Wachstumsfetischismus. Im Hog’n-Interview erklärt er, wieso Wachstum niemals unendliches Wachstum sein kann und warum er trotz all‘ den Katastrophen und Krisen, ein glühender Optimist bleibt…
In Neubau, dem 7. Wiener Gemeindebezirk, feiert „System Error“ Kinopremiere in Österreich. Hip sieht es aus hier. Rund um das Kino reiht sich eine Bar, ein Café an das nächste. Dazwischen, in den schmalen Gassen, ein paar Häuser im Biedermeier-Stil. Zahlreiche junge Menschen, meist Studenten, schlürfen an ihrem „G’Spritztn“ und genießen die Sonne. Lifestyle und Flair mögen einen etwas an Berlin erinnern – schöne heile Welt. Doch während die Oberfläche schimmernd glänzt, stockt es im Innern der Maschinerie. Links abbiegen, eine kleine dunkle Treppe hinunter. Gerade spricht Opitz noch in eine Fernsehkamera, zwei Minuten Pause – und der zweifache Grimme-Preisträger erklärt im Foyer des Kinos am Spittelberg, welch‘ perfide Ausmaße unser Wirtschaften mittlerweile angenommen hat.
„Wir sind in der Lage uns wunderbar in die Tasche zu lügen“
Nicht altbekannte Wachstumskritiker oder Alternativprojekte stehen im Mittelpunkt des Dokumentarfilms, sondern die Macher und Gestalter dieser wachstumsgetriebenen Maschinerie selbst: Donald Trumps Ex-Berater und Hedgefonds-Manager Anthony Scaramucci zum Beispiel. Oder etwa „das deutsche Börsengesicht“ Markus Koch. Anhand von ihnen versucht Opitz die Widersprüchlichkeit und die Perversität eines Systems aufzeigen, das sich schon längst von Wohlstandsversprechen und den Bedürfnissen der Menschen verabschiedet hat. Ob wir noch „Kontrolle“ über all‘ das haben? Das vermögen auch vermeintliche Experten nicht zu bejahen…
Herr Opitz, wir sitzen hier am Spittelberg, einer der schönsten Ecken Wiens und gleichzeitig eines der Paradebeispiele für Luxussanierungen und Gentrifizierung – 700 Meter von hier befindet sich mit der „Gruft“ das größte Tageszentrum für Obdachlose in Wien. Wie kann es sein, dass es trotz 250 Jahren wirtschaftlichem Wachstums und Wohlstandsversprechen immer noch so viele Menschen gibt, die von diesem System nicht profitieren, ja nicht einmal daran teilhaben dürfen?
Ich glaube sogar, dass es immer mehr Menschen werden, die nicht von diesem System profitieren und auch nicht teilnehmen dürfen. Es hat Zeiten gegeben, da waren die „Segnungen des Kapitalismus“ gerechter verteilt. Wir sehen gerade eine Zuspitzung des Kapitalismus, die eben auch Karl Marx vorhergesehen hat: dass sich mit Fortschreiten dieses Systems das Kapital immer mehr konzentriert und eine immer größere Masse an „Proletariern“ – Menschen die kein Vermögen haben – hervorbringt und diese dann in Armut versinken. Genau diese sich vergrößernde Schere zwischen „Arm“ und „Reich“ sehen wir weltweit – auch in Österreich und in Deutschland.
Einer der Vordenker der Anti-Globalisierungsbewegung, Mark Fisher, meinte einst: Wir können uns heute eher das Ende der Welt vorstellen als das Ende des Kapitalismus“ – wieso?
Genau das finde ich interessant. Deswegen lautet auch der Untertitel meines Films „Wie endet der Kapitalismus?“ Ich wollte zeigen: Wir sind in der Lage uns wunderbar in die Tasche zu lügen. Wir sehen die Symptome, die Abholzung des Regenwaldes, den Klimawandel, die Spaltung der Gesellschaft – doch wir bringen es nicht in Einklang mit dem System, in dem wir leben. Wir halten es für unantastbar. Aber genau diese genannten Symptome hängen eben mit den Grundmechanismen unseres Wirtschaftssystems zusammen. Das blenden wir auf wundersame Weise aus. Wie kommt das, dass wir eigentlich alle wissen, dass wir nicht ewig weiterwachsen können und gleichzeitig ständig Wachstum propagieren – und das alles als in Stein gemeißelt sehen?
„Was ist eigentlich an dieser Religion dran?“
Genau das war die Frage, der ich nachgehen wollte. Und ich wollte nicht diejenigen interviewen, die mir das sowieso immer sagen, also nicht ausschließlich die Wachstumskritiker, die das seit 40 Jahren immer wieder eindrücklich belegen können. Ich wollte wissen: Was ist eigentlich an dieser Religion dran? Was sind die Glaubenssätze? Wie können mir das die Leute, die genau das vorantreiben, erklären? Im Film bin ich zur Erkenntnis gekommen, dass es sich tatsächlich um eine Art Religion handelt: Es wird nicht hinterfragt, oder zumindest nicht konsequent hinterfragt, inwiefern die Grundmechanismen unseres Wirtschaftens diesen Grenzen zuwider laufen.
Spätestens mit dem Bericht des Club of Rome sollten wir doch eigentlich wissen, dass Wachstum – wie jedes andere System – gewissen Grenzen unterliegt. Warum tun wir uns so schwer damit das Offensichtliche anzuerkennen und zu sagen „Stopp – bis hierhin und nicht weiter“? Damit untergraben wir doch eigentlich die Basis unseres eigenen Lebens?
Vor allem untergraben wir die Basis zukünftigen Wachstums – das ist das Interessante! Das wissen wir eigentlich schon sehr lange und das sehen wir heute auch sehr deutlich durch immer häufigere Naturkatastrophen, die mit dem Klimawandel einhergehen. Aber wir sehen jetzt auch die Häufung von Krisen, durch die Lehman-Brothers-Krise von vor zehn Jahren – und vielleicht durch eine baldige neue Finanzkrise -, dass eben auch das System selbst an seine Grenzen stößt. Ich denke, dass wir zutiefst irrational handeln – und Menschen, die zutiefst irrational handeln, sind häufig ideologisch oder religiös verblendet.
„Wir haben Produktion mit Wohlstand gleichgesetzt“
Das ist bei uns ähnlich: Wir leiden in mehr oder minder starker Ausprägung an einer religiösen Verblendung, weil wir in unseren „nationalen Narrativen“, wie das einige meiner Interviewpartner genannt haben, dieses Wachstum als eine Art Gründungsmythos verstehen. In Deutschland gibt es die große Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Danach haben wir uns, wie Phönix aus der Asche, durch Wachstum aus der Not befreit und dadurch Wohlstand für sehr viele Menschen erzeugt. Und das ist auch tatsächlich so passiert – aber basierend auf diesem Gründungsmythos haben wir das Gefühl, das muss ewig so weiter gehen. Dieses Wachstum, welches nach dem Krieg entstanden ist, konnte nur durch die unheimliche Zerstörung entstehen.
Wir haben dann versucht, das alles zu institutionalisieren: Wir haben ein statistisches Maß ersonnen. Wir haben Produktion mit Wohlstand gleichgesetzt. Nicht das Einkommen der Menschen ist zentral, sondern Produktion ist zentral. Je mehr wir produzieren, desto mehr Wohlstand wird erzeugt. Dadurch ist das BIP gleichgesetzt worden mit Wohlstand – und das greift natürlich viel zu kurz.
Kapitalismus ist nicht nur ein Wirtschaftssystem, sondern etwas, das tief in unsere Gesellschaft, in unsere Institutionen, vor allem in unser Bildungssystem und in unseren „Alltagsverstand“ eingedrungen – und dort verankert ist. Haben wir deshalb einfach Angst vor gesellschaftlichem Wandel, vor einem Sprung ins Ungewisse?
Ja, wir haben große Angst. Der Mensch hatte immer schon Angst vor dem Unbekannten. Ich würde sagen, das ist so etwas wie eine menschliche Konstante, dass man nicht gerne aus einem fahrenden Zug springt. Das Ungewisse kann ja erstmal auch negative Konsequenzen haben. Und das einzige „Konkurrenzsystem“, das es in den letzten paar hundert Jahren zum Kapitalismus gab, war der „real existierende Kommunismus“. Und den haben wir krachend scheitern sehen.
Man kann sich jetzt darüber streiten, ob das ein wirklicher Kommunismus oder wirklicher Sozialismus gewesen ist. Aber das, was wir da gesehen haben in den Ostblockstaaten, war massenhafte Not und Armut – und dass Menschen massenhaft weglaufen. Dadurch haben sie natürlich Angst und die Vorstellung, dass alles, was nicht Kapitalismus ist, gleich Not und Elend, also gleich dem „real existierendem Kommunismus“, ist.
„Willst du den Kommunismus, oder was? Der ist doch gescheitert…!“
Diese Angst muss man ihnen nehmen. Das ist ein Totschlagargument, ein Argument, mit dem ich auch aufgewachsen bin, bei jeder Art von Kapitalismuskritik zu sagen: „Willst du den Kommunismus, oder was? Der ist doch gescheitert…!“ Na klar ist er gescheitert – so wie er umgesetzt worden ist. Aber wir sehen eben den Kapitalismus auch gerade scheitern.
Die große Message des Films ist: Wachstum ist kein Naturgesetz, Kapitalismus ist ein menschgemachtes System, von menschlichen Interessen geleitet. Wie weit haben wir bzw. herrschende Eliten dieses System noch unter Kontrolle?
Ich glaube tatsächlich, dass das System mehr uns unter Kontrolle hat als dass wir das System unter Kontrolle haben. Ich denke, es gibt diese Vorstellung, je wirtschaftsliberaler die Funktionsträger sind, desto mehr kann dieses gottgegebene System, welches man möglichst wenig regulieren soll, schalten und walten – und dann wird alles gut. Es ist diese Vorstellung, dass wenn sie ohne Rücksicht auf Verluste nach ihrem eigenen Glück streben, der Wohlstand für alle gemehrt wird. Aber diese Glaubenssätze funktionieren nicht.
In einer Welt mit sieben Milliarden Menschen braucht es Regeln
Das liegt auch daran, dass wir uns diesem System ganz lange hingegeben haben und in gewissen Zyklen Funktionsträger die Oberhand hatten, die gemeint haben: „Lasst das bitte möglichst unreguliert! Ändert bestmöglich nichts. Alle Regulierungen schaden dem System, denn dann kann es sich nicht frei entfalten“. Das ist natürlich Quatsch. Wir müssen uns in einer Welt mit sieben oder mehr Milliarden Menschen Regeln geben und eben auch das Wirtschaftssystem regulieren. Wir können doch nicht davon ausgehen, dass dieses System sich selbst Regeln schafft.
Aber das ist auch Teil einer Verblendung. Denn die Leute, die in den Finanzmärkten sitzen, geben sich sehr wohl Regeln – aber natürlich tun sie so, als ob da keine Regeln sind. Sie tun so, als ob alles ein freier, fairer Markt wäre. Natürlich gibt es Regeln, die aber dann zu Gunsten derer ausfallen, die sich auskennen – und zu Ungunsten eines Großteils der Bevölkerung.
Wenn wir nun davon ausgehen, dass es ein System ist, das uns kontrolliert – was sagt uns das bezüglich der Handlungsalternativen?
Es heißt ja nicht, dass es immer so bleiben muss! Das höchste, was ich mit meinem Film erreichen kann, ist der Erkenntnisgewinn, dass es nicht um das Fehlverhalten, die Gier einzelner Manager geht, sondern das System an sich so angelegt ist. Das hat Karl Marx vor über 150 Jahren alles schon wunderbar durchdekliniert – ohne das selbst gesehen zu haben. Das heißt aber nicht, dass dieses System allmächtig ist: Wir können uns natürlich andere Regeln schaffen! Und wenn mein Film es schafft, die Erkenntnis zu generieren, dass dieses System für vieles verantwortlich ist, was da passiert – nicht die Gier oder einzelne Menschen, die es da vielleicht etwas übertrieben haben -, dann ist schon einiges gewonnen! Dann können wir auch erkennen, dass wir dieses System verändern können.
Ich wäre jetzt nicht so vermessen zu sagen, dass wir von heute auf morgen ein Alternativsystem auf die Beine stellen können. Aber wir können natürlich versuchen, eine Finanztransaktionssteuer durchzusetzen. Genau wie wir die Energiewende in Deutschland hinbekommen haben, können wir es über das Bohren dicker Bretter, über stete Tropfen, die den Stein gehöhlt haben, schaffen, die Regularien des wirtschaftlichen Zusammenlebens zu ändern. Da gibt es durchaus viele Ideen, wie beispielsweise Christian Felbers Gemeinwohlökonomie, die nicht – wie es momentan der Fall ist – asoziales Verhalten belohnt, sondern Verhalten belohnet, das positiv für das Gemeinwohl und für das soziale Zusammenleben ist. So etwas könnte man beispielsweise steuerlich begünstigen. Wir bräuchten ein Belohnungssystem für soziales Verhalten und ein Benachteiligungssystem für asoziales Verhalten.
„Das System stößt an eigene, ökonomische Grenzen“
Besonders seit der Krise 2007/2008 und den Folgejahren werden Stimmen nach einem Systemwandel, nach einer Alternative zum Kapitalismus wieder lauter. Glauben Sie, Ihr Film wäre vor 15 Jahren einfach als „utopische Spinnerei“ abgetan worden?
Ich glaube, der Film ist natürlich ein Produkt der Zeit. Vor 15 Jahren hätte man sich mit Sicherheit über die ökologischen Folgen Gedanken machen können. Wir wissen ja seit 1972 (seit „Die Grenzen des Wachstums“ – Anm. d. Red.), dass das Wachstumsstreben ökologisch verheerende Folgen für den Planeten hat. Und seitdem ist es ja immer so weiter gegangen – und nicht irgendwann gestoppt worden. Wir haben einfach irgendwann verlernt, uns darüber Gedanken zu machen. Seit der Lehman Brothers-Pleite (einer der maßgeblichen Auslöser der Wirtschaftskrise von 2007/2008 – Anm. d. Red.), wissen wir, dass das System an eigene Grenzen stößt, an ökonomische Grenzen. Und das ist immer mehr Leuten bewusst geworden. Aber das Wachstumsnarrativ ist trotzdem so stark, dass wir das nur kurz gewusst und dann aber wieder verdrängt haben. Tim Jackson formuliert es in meinem Film so: „We learned the lesson – and then forgot it again“. Nach einer Weile geriet das Gelernte wieder in Vergessenheit.
„Diese Welt ist eine andere geworden“
Aber ich glaube, das ist nicht bei allen in Vergessenheit geraten. Es gibt sehr viele, die haben das sehr wohl noch in Erinnerung – und seitdem ein gewisses Unwohlsein, weil man merkt, diese Welt ist eine andere geworden. Aber bei politischen Funktionsträgern gerät das anscheinend sehr leicht wieder in Vergessenheit. Das Ganze läuft immer zyklisch ab. Deswegen kann man auch sagen: So ein Film wie meiner hat natürlich auch zyklisch eine Bedeutung, weil es immer wieder in Vergessenheit gerät.
Ist es Zufall, dass die Interviewpartner im Film ausschließlich männlich sind?
Nein, das ist kein Zufall! Wir hätten ursprünglich gedacht, wir bekommen eine 50:50-Quote. Ich habe vier weibliche Redakteurinnen, ein Großteil meines Teams sind Frauen – alleine deswegen und weil ich das immer so mache, war ich daran interessiert, Frauen da drin zu haben. Natürlich auch weil es die Perspektive vergrößern würde. Aber erstaunlicherweiße haben wir keine gefunden. Das liegt natürlich daran, dass sich der Frauenanteil unter hochkarätigen Hedgefonds-Managern und Börsenmaklern im Promillebereich bewegt.
Es sind sehr wenige, aber es gibt welche. Auch in den großen Agrarunternehmen sind einige wenige. Aber das Erstaunliche war, dass keine von denen, die wir angefragt haben, mitmachen wollte. Da kann man jetzt spekulieren, warum das so ist – ob das irgendwie „weibliche Intuition“ oder „Intelligenz“ ist. Oder ob die Männer einfach eitler sind. Aber irgendwann haben wir gedacht: Wenn das wirklich konsequent so ist, dann zeigen wir das auch so. Dann zeigen wir diese Welt so, wie sie ist: Es ist eine Welt weißer, alter Männer! Das find ich einen interessanten Fakt. Und wir haben uns dann eben entschlossen nicht – zwecks Frauenquote – anzufangen, eine weibliche Wachstumskritikerin mit rein zu nehmen.
„Der Film sollte ursprünglich ein anderer werden“
Ganz im marx’schen Sinn ist der Film eine Analyse des Bestehenden und macht keine großen Überlegungen wie so ein post-kapitalistisches Zeitalter aussehen könnte. Eine der großen Lehren nach (!) Marx jedoch ist, dass es Menschen braucht, die diesen Wandel gestalten, dass sich das System Kapitalismus nicht einfach selbst abschafft. Wie könnte so etwas aussehen?
Der Film sollte ursprünglich ein anderer werden. Es war immer schon klar, dass ich diese Marx-Analysen mitreinhaben möchte, um zu zeigen, dass jemand, der vor 150 Jahren das System konsequent durchgedacht hatte, in der Lage war, die Fallstricke dieses Systems aufzuzeigen. Aber ich wollte dann eigentlich nicht – so, wie ich es jetzt gemacht habe – die Perspektive der Täter oder der Akteure des Kapitalismus zeigen, sondern Alternativen. Dann bin ich auf die Suche gegangen. Als ich anfing, habe ich bemerkt, dass es bereits einen Boom an Berichterstattung über diese Alternativmodelle gab. Und mir fiel auf: Es sind fast immer dieselben, die gezeigt werden. Als ich bei denen anrief, hieß es „Nicht schon wieder ein Kamerateam!“
Irgendwann habe ich gedacht, diese Projekte sind toll und ehrenwert – ich bin selbst ab und an Teil von ihnen, aber sie sind nicht die Lösung für diesen Moloch, den ich da zeigen will. Ich habe mich deshalb dazu entschieden, die Perspektive zu wechseln und das zu machen, was einen Dokumentarfilmer eigentlich antreibt: In Welten vordringen, die man so nicht kennt. Die Dokumentarfilm-Macher kommen immer aus demselben Milieu, die Dokumentarfilm-Zuschauer immer aus demselben Milieu – was bringt es uns, wenn wir uns immer wieder dasselbe vorspielen ohne zu realisieren, wie der Gegner aussieht? Letztlich war diese Erkenntnis für mich ganz wichtig.
„Möchte meinen Kindern mit aller Macht eine Welt hinterlassen, die lebenswert ist“
Also war ein Anspruch an den Film auch der, die „Blase“ etwas zu verlassen und ihn an ein Publikum zu bringen, das nicht zum typischen Dokumentarfilm-Publikum gehört?
Genau – ich wollte besser verstehen, wie der Gegner aussieht. Wie sieht dieses System aus, wie funktioniert es, wie sind die Zusammenhänge? Dies wollten wir den Zuschauern schmerzhaft und auch in aller Kälte zeigen. Wir haben uns absichtlich emotional sehr zurückgehalten, haben nicht die Opferperspektive gezeigt, um nicht das Herz, sondern den Grips anzusprechen. Das ist immer mein Ziel. Ich bin links-alternativ sozialisiert, aus der Punkbewegung kommend, aber ich halte nicht viel von „preaching to the converted“. Ich mache Dinge, mit denen ich mehr Leute erreichen kann.
Mit Blick in die Zukunft: Sind sie Optimist?
(überlegt kurz) Es fällt manchmal schwer – wenn du dich reinarbeitest und mehr verstehst – optimistisch zu sein. Ich glaube, dass die Welt derzeit tatsächlich relativ schnell aufeinanderfolgende Eskalationsstufen dieses Systems erlebt – zuletzt mit Trump. Aber ich muss optimistisch sein und ich will es auch sein. Ich habe drei kleine Kinder. So trivial und abgedroschen das klingt: Ich möchte meinen Kindern mit aller Kraft und aller Macht und allem, was ich hab‘, eine Welt hinterlassen, die lebenswert ist. Und ich glaube, dass dieses System das nicht ermöglicht. Deswegen suche ich nach Möglichkeiten, dieses System in irgendeiner Weise im positiven Sinne zu verändern.
Vielen Dank für das Gespräch!
Interview: Johannes Greß