München/Freyung. Er ist einer, der klare Kante zeigt, der sich nicht verbiegen lässt. Rainer Maria Schießler, katholischer Pfarrer in München, ist aber nicht nur ein meinungsfreudiger Geistlicher, sondern auch Bedienung auf der Wiesn, dem weltweit bekannten Oktoberfest. Über diese seltene Berufskombination spricht der 55-Jährige, der im BR eine eigene Talkshow hat, im Interview mit dem Onlinemagazin da Hog’n. Die personifizierte PR-Abteilung der katholischen Kirche – er selbst nennt sich „fahrender Vertreter“, die Öffentlichkeit kennt ihn auch unter dem Namen „Pfarrer Klartext“ – äußert sich außerdem unmissverständlich zu kontroversen Kirchen-Themen wie dem Zölibat sowie Ehen gleichgeschlechtlicher Paare.
Herr Schießler, Hand aufs Herz: Sind Religion, Glaube und Kirche uncool?
Nein! Wie kommen Sie darauf? Religion, Glaube, Sinnsuche – das ist aktueller denn je. Die Leute suchen ohne Ende, manchmal suchen sie mir viel zu viel. Der Wunderglaube feiert hier und dort derartig fröhliche Urständ, da kann ich nur wegschauen. Die Vermutung, dass übernatürliche Kräfte unter uns wirken, ist bei manchen Zeitgenossen so aktuell, dass ich mich oft frage: Das sind doch eigentlich gescheite Leute? Wie können die nur solche Ideen haben?
Nur finden diese suchenden Menschen die Antwort nicht immer bei uns, der Kirche. Und wir, die Kirche, sind den Suchenden gegenüber nicht aufgeschlossen genug. Früher haben wir gelernt: Wir sollen die Leute dort abholen, wo sie stehen. Aber wir müssen sie auch fragen, ob sie da hingeführt werden wollen, wo wir sie gerne haben möchten. So entstehen verschiedene Erwartungshaltungen, Differenzen – und die Leute wenden uns den Rücken zu.
„Mit Vorschriften und Bedingungen geht gar nichts mehr“
Wie kann es die Katholische Kirche schaffen, dass wieder mehr Leute die Gottesdienste besuchen? Dass das „verstaubte“ Image verschwindet?
Anders reden, unmittelbar werden, nicht über die Köpfe der Gläubigen hinweg theologische Rundschläge veranstalten. Einfache Bilder, solche die man nacherleben kann, aus dem Alltag, so wie Christus in Gleichnissen und Bildern sprach, die seine Zuhörer sehr gut kannten. Vor allem aber muss gelten: Glaubensverkündigung geht nur als Einladung – und kommt nur als solche an. Mit Vorschriften und Bedingungen geht da gar nichts mehr heute. Wir müssen wieder das Werben lernen.
Hier wird klar, warum Rainer Maria Schießler auch „Pfarrer Klartext“ genannt wird:
Sie gelten als Revolutionär, als „Pfarrer Klartext“. Dann sagen Sie uns doch mal: Was stört Sie an der Katholischen Kirche ganz besonders?
Was heißt „stören“? „Leiden“ passt besser – und an etwas leiden, an einer Marotte seines Partners, zeigt, dass er mir nicht egal ist. Wir sprechen auch von Leiden-schaft. Ich leide, wenn ich eine Kirche erlebe, die sich nur selber im Weg steht. Die hat gar keine Feinde mehr, macht sich selber das Leben schwer. Wie kann ich jemanden von den Sakramenten ausschließen, der sie gerade jetzt, zum Beispiel die Mahlgemeinschaft nach der Trennungserfahrung in einer Ehe, ganz besonders braucht? Wie kann ich einen Priester kompromisslos wegschicken, wenn sein Leben eine Wendung erfahren hat, er seine Berufung zu Ehe und Familie spürt, keinen Hebel findet, um dies abzustellen, als mit ihm neue Wege zu gehen? Da leide ich am meisten, wenn ich das oft nur als Beobachter miterleben darf.
„Als Zölibatärer lebe, fühle, empfinde, denke und liebe ich anders“
Mit Segnungen von Trauringen schwuler Paare sorgen Sie – vor allem kirchenintern – für Aufsehen. Sind das bewusste Provokationen, um wachzurütteln?
Hallo! Ich segne einen religiösen Gegenstand, der den Besitzern sehr viel bedeutet. Ich segne auch eine Madonnenfigur, wenn sie ein schwuler Katholik bei uns vorbeibringt. Der Ring ist Symbol für die Vollkommenheit. Das Leben ist vollkommen gedacht von Gott – wir sorgen für die Brüche. Wir spielen nicht Schwulenhochzeit – wir beten, feiern, singen, segnen und zwei Menschen versprechen sich. Ich fordere sie dazu nicht auf, ich bin nicht dazu ermächtigt. Aber ich segne sie, weil ich alles Lebendige und was dazu gehört und dem Leben positiv dient – also keine Waffen – segne. Wir segnen alles, sagt Papst Franziskus. Ich muss niemanden provozieren. Das tun schon diese Menschen, die zu mir kommen, um gesegnet zu werden. Diese Bitte schlage ich nicht aus.
Ein weiteres Thema, das Ihnen wohl sehr am Herzen liegt, ist das Zölibat. Wie groß sind Ihre Einsamkeit und der Zorn gegenüber diesem kirchlichen Gesetz?
Schon wieder: Bitte kein Zorn! Franziskus hat im Mittelalter die Kirche nicht dadurch verändert, weil er zornig auf sie war. Er hat sie geliebt, hat sich von dieser Kirche, die so darniederlag auch noch erst die Erlaubnis zur Predigt erbeten und durch seine Lebensführung verändern können – bis heute übrigens.
Nie würde ich gegen meine Kirche treten, schon gar nicht in Sachen Zölibat. Der ist ein echtes Abenteuer – für mich seit über 30 Jahren, jeden Tag neu. Als Zölibatärer lebe, fühle, empfinde, denke, spüre und liebe ich anders. Ich brauche keine Pflicht und kein Gesetz für dieses Abenteuer. Der Pflicht-Zölibat ist nicht mehr notwendig, hat sich ausgelebt, die ausbleibenden Kandidaten belegen dies. Das Abenteuer Zölibat bleibt.
Wagen wir das Abenteuer, geben wir die Verkündigung und das Priesteramt wie schon die ersten 1.000 Jahre des Christentums in die Hände verheirateter und unverheirateter Männer gleichermaßen. Hier geht es nicht um unsere Glaubensfundamente, sondern um von Menschen eingeführte Praktiken. Die haben sich im Laufe der Geschichte in der Kirche immer verändert, sind gekommen und wieder gegangen. Auch der Pflichtzölibat kann, soll und muss so gesehen werden. Das wäre ein Signal für eine reife Kirche der Moderne.
„Gibt keinen Grund, dass Pfarrer ohne Nachwuchs bleiben sollten“
„Aber Jesus sprach: Lasset die Kinder und wehret ihnen nicht, zu mir zu kommen; denn solchen gehört das Himmelreich“ – in der Bibel wird immer wieder betont, welch große Rolle Kinder spielen. Warum müssen dann ausgerechnet Pfarrer, die Stellvertreter Gottes auf Erden, ohne Nachwuchs bleiben?
Vorsicht vor jeder Form von Trivial-Exegese. Nur wenn in einem Satz das Wort „Kinder“ vorkommt, darf es nicht sofort in einem ganz eingeschränkten Interesse verwendet werden. Die angegebene Stelle will mein Urvertrauen in Gott wecken, so wie ein Kind ein Urvertrauen in seine Eltern besitzt.
Nun zur Frage: Es gibt keinen Grund, dass die Pfarrer ohne Nachwuchs bleiben sollten. Wenn auch nicht so vorgesehen und erwünscht, haben doch viele Kollegen dies so auch praktiziert. Und noch einmal Zölibat: Er macht nur Sinn, wenn ich ihn darin für mich entdecken kann. Niemand wird einen Sinn darin sehen, weil Gott dies gerne hätte. Damit begründe ich heute gar nichts mehr. Ich muss es wollen, diesen Verzicht so zu leben. Ich sage daher gerne: Selbst wenn Jesus zehn Kinder gehabt hätte – ich glaube, ich würde dieses Abenteuer Zölibat dennoch leben.
Die Wiesn ist vor Kurzem erst zu Ende gegangen. „Nebenberuflich“ sind Sie dort als Bedienung im Einsatz. Wie kann man sich das vorstellen? Gibt’s da dann zu jeder frischen Maß einen frommen Bibelvers?
Was für ein Witz. Was glauben Sie, wie oft ich den in den vergangenen zehn Jahren nun schon gehört habe?! Zum „Fiaß ausreißn“ lustig. Ich arbeite, schufte, schwitze, ackere wie jeder andere auch – und ich feiere mit den Menschen. Viele suchen mich, gerade weil ich der Pfarrer da draußen bin; Gäste und Bedienungen, manchmal kommt ein nettes, kurzes, manchmal ein etwas längeres auch ernstes Gespräch zustande. Aber kein Klamauk. Statt Bibelsprüchen will ich lieber ein g’scheites Trinkgeld (lacht).
„Ich fühle mich sauwohl in dieser Verkündigungsform“
Bedienung und Pfarrer – gibt es bei diesen beiden Berufen Überschneidungen?
Absolut. Wir sind alle Dienstleister. Tisch decken, zum Mahl bedienen. Jedes Festmahl ist ein Zeichen der bevorstehenden himmlischen Herrlichkeit und wir sind die Wasserträger wie bei der Hochzeit von Kana. Ganz wichtig: der Stil muss passen. Eine grantige Bedienung kriegt nichts von mir, keinen Cent. Stimmt der Ton, spüre ich, dass ich gewünscht bin, dann flutscht das Ganze. So könnt’s in der Kirche zugehen: „Ein Pfarrer wird gefragt, woher er die Gedanken für die predigt nimmt. Er antwortet: Gott selber gibt sie mir! Einer anderer erwidert: Wieso unterschlagen sie dann so viel?“. Also seien wir aufrichtig, ehrlich, authentisch und offen, dann kommen die Menschen in Scharen!
Beim BR haben Sie ihre eigene Talkshow. Neben dieser „großen Bühne“ sind Sie aber auch viel „auf dem Land“ unterwegs – am 17. Oktober zum Beispiel in Freyung. Ist das Ihre ganz eigene Art der Missionierungsarbeit?
Exakt, seit 16. März dieses Jahres bin ich viel unterwegs an den unterschiedlichsten Orten. Ich lese nicht einfach aus meinem Buch vor, ich rede, erheitere die Menschen, bringe zum Nachdenken, lade ein, werbe für meine Kirche – bin wie ein fahrender Vertreter. Oder besser wie ein Volksmissionär, also jene herumziehenden Priester aus den Orden, die für einige Zeit in einer Pfarrei mitlebten und predigten und Sakramente spendeten. Ich fühle mich sauwohl in dieser Verkündigungsform und freue mich sehr auf Freyung.
Wie schätzen Sie die Rolle der Kirche im eher konservativen Bayerischen Wald ein?
Ganz, ganz wichtig. Hier vermischen sich noch alte katholische Traditionen und Vorstellungen und die Notwendigkeit, sich zu öffnen und neue Wege zu gehen, um die Menschen nicht zu verlieren. Was wertvoll ist aus dem Überlieferten, das nehmen wir mit; was notwendig ist, um Kirche zu erneuern, muss eingebracht werden. Das geht auch ohne große Differenzen. Das ist nur spannend. Die Kirche kann und wird sich grundlegend verändern und dies geschieht nicht nur im städtischen Bereich, sondern auch und gerade auf dem Land – und dies sehr heilsam, weil die Wurzeln noch stärker sind als anderswo.
Vielen Dank für das Interview – und Gottes Segen.
Interview: Helmut Weigerstorfer