Wien/Röhrnbach. Irgendwann einmal kommt im Leben eines Heranwachsenden der Zeitpunkt, in dem man als Küken das heimische Nest verlässt. Verlassen darf. Vielleicht verlassen muss. Dann heißt es: Raus aus dem warmen, gemütlich-muckeligen „Hotel Mama“, hinaus in die große, weite Welt. Für die meisten geht’s dann entweder Richtung neuen Lebenspartner, neue Arbeitsstätte oder – wie in meinen Fall – „zan Studiaan“. Leider finden sich unserorts „zan Studiaan“ nur unzureichend geeignete Institutionen. Die unweigerliche Folge: Raus ausm Woid, rein in die Stadt! Freedom, Rock’n’Roll – und selber Wäsche waschen!
Nun neigt der gemeine Waidler ja ohnehin gerne dazu, seine Heimat als das Nonplusultra unter den Geburtsstätten zu bezeichnen. Praktisch das Land, in dem Milch und Honig fließen. Der Heaven on Earth schlechthin. Überhaupt der Ort, an dem die menschliche Evolution ihre Krönung zu feiern scheint. Ruhe und Gelassenheit sind dem Waidler wahrlich in die Wiege gelegt worden: Ein Spaziergang durch die Wälder, ein kühles Weißbier im Garten – der Waidler weiß halt, was er an seinem Woid hat. Da bin ich keine Ausnahme, keine Frage. Als gebürtiger Röhrnbacher bin ich alles andere als ein geborener Stadtmensch. Ruhe, Gelassenheit und Dorfg’schmatz habe ich in den ersten zwei Jahrzehnten meines Lebens in aller Ausführlichkeit kennen und lieben gelernt.
Nur mit Bananenbäumen statt mit Fichten und Tannen
Einen ersten Versuch, mich als „Stadtmensch“ unter Beweis zu stellen, startete ich bereits im Jahr 2014. Ort des Spektakels: Das ostafrikanische Mbale, welches rund 90.000 Einwohner fasst (da Hog’n berichtete). Nun ist der Durchschnitts-Ostafrikaner bei Gott nicht dafür bekannt, dass er zu den hektischsten Menschen auf diesem Planeten zählt – auf einer rein fiktiven Gelassenheitsskala teilt er sich mit dem Waidler vermutlich den ersten Platz. Trotzdem war mir dieses Stadtleben irgendwie zu aufbrausend, weshalb ich nach zwei Monaten wieder raus aus der Stadt – und rein in ein kleines Dorf gesiedelt bin. Da kannte man seine Nachbarn wieder beim Vornamen. Und spätestens am Frühstückstisch wusste man, warum die junge Dame vom Haus gegenüber gestern Nacht so spät nach Hause gekommen war. Alles recht gewohnt, alles fast wia dahoam – nur halt mit Bananenbäumen statt mit Fichten und Tannen.
Nun ja, so viel kann ich schon mal vorwegnehmen: Meinen jüngsten Umzug in die Großstadt hat mir diese Erfahrung nicht unbedingt erleichtert, aber nett war’s trotzdem. Denn „zan Studiaan“ ging’s für mich schließlich in eine ziemlich große Großstadt. Eine ziemliche Metropole. Mit einer ziemlich großen Anzahl Menschen und einer ziemlich großen Universität. Wien.
Wien hat zum einen den Vorteil, dass die sprachliche Barriere zwischen dem gemeinen Waidler und seinem Gesprächspartner zwar existiert, dieser im Vergleich zu anderen außerbayerischen Städten jedoch verschwindend gering ist. Und ja! Manch‘ Österreicher mag sich nun rühmlich die Hände reiben – die Zugangsbeschränkungen im Vergleich zu deutschen Bildungseinrichtungen sind im Grunde nicht existent. Schnell gewöhnt man sich deshalb auch an Schmährufe à la „NC-Flüchtling“ oder „Intellektueller Bodensatz“. Eigens meiner Wenigkeit geschuldet hat sich mittlerweile auch der Fachterminus des BBF, des „Bayerischen Bildungsflüchtlings„, durchgesetzt. Ebenso formiert sich derzeit – angelehnt an den deutschen Kultur- und Heimatverein „PEGIDA“ – eine Bewegung, die willens ist „gegen die Germanisierung des Alpenlandes“ vorzugehen. Aber das nur am Rande.
Schubert zum Frühstück, Mozart zum Einschlafen
Abgesehen davon ist man allerdings sehr freundlich gesinnt gegenüber den Nachbarn aus dem Bayernlande: Sprachlich und kulturell steht man den Bajuvaren eben doch näher als jenen Menschen, denen das Lebenslos einen Platz nördlich von Nürnberg und jenseits von Aschaffenburg beschert hat.
Apropos Kultur: Im Wiener’schen Sinn umfasst dieses Wort deutlich mehr als bloß Brauchtum und Sitte. War im elterlichen Nestchen Kultur noch etwas, das man entweder tut (Schuahplattln) oder isst (Weißwürste), bezeichnet Kultur in der österreichischen Landeshauptstadt etwas, das man schlichtweg einfach hat – oder eben nicht hat. Der kulturaffine Wiener löffelt Schubert zum Frühstück, kippt etwas Hundertwasser nach und kann ohne Mozart nur schlecht einschlafen. Hitler ist nach wie vor tabu. Man weiß, was man hat, man weiß auch, was man lieber nicht gehabt hätte – und schiebt es dann sanft nach Drüben…
Damit auch ich der Meute der kulturell Gebildeten nicht hintanstehe, besuche ich regelmäßig eine Einrichtung mit der Aufschrift „Universität Wien“. Dort gibt’s Bildung und Kultur zum Nulltarif. Das heißt: Die einen studieren einfach nur gratis, die anderen schlichtweg umsonst. So ist das nun mal. Aber schon das bloße Betreten der heiligen Marmorhallen dieser Wiener Bildungseinrichtung lässt die Synapsen einen Gang höher schalten, bringt die Hirndrähte zum Glühen, den Hirnlappen zum Vibrieren. Hier – so war ich mir von Anfang an sicher – ist Großes möglich. Ganz Großes.
Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen
Nun. Gewiss, aus der Tatsache, dass diese Universität für mehr als 90.000 Studierende Schatten bietet, ergibt sich zwangsweise, dass diese Einrichtung unter Umständen teilweise etwas undurchsichtig, gar verwirrend auf einen wirken mag. Befindet man sich in der stochastisch gesehen höchst unwahrscheinlichen aber glücklichen Lage, die richtige Kombination aus Treppe rauf, Treppe runter, links oder rechts, gewählt zu haben, besteht tatsächlich eine realistische Chance zu gegebener Zeit im exakt richtigen Hörsaal zu erscheinen.
Natürlich klappt das nicht immer gleich auf Anhieb. Hörsaal 27 hat während den ersten beiden Semestern bisher noch so gut wie keiner gefunden. Aber es ist schließlich noch kein Meister vom Himmel gefallen. Unbestätigten Gerüchten zu Folge wurden einige Erstsemestrige, welche auf dem Weg zum Hörsaal 42 falsch abgebogen waren, nie mehr gesehen…
Allgemein zeichnet sich so eine Großstadt eben leider dadurch aus, dass eben auch wirklich alles sehr, sehr groß ist. Zwar sind neben mir noch rund 1,8 Millionen andere Menschen in der Stadt an der Donau beheimatet – mehr als in ganz Niederbayern -, dennoch läuft freilich alles um ein Vielfaches anonymer ab als unserorts. Wie ein Fisch im Fischschwarm strampelt – ja, der Fisch strampelt (!) – jeder vor sich hin. Immer weiter. Immer weiter rauf auf seiner ganz persönlichen Karriereleiter, gen Wohlstand und Ruhm – wobei so manche erst spät begreifen, dass diese Leiter eigentlich ein Hamsterrad ist. Aber welcher Fisch steigt schon gerne auf Leitern?
Der Wiener meint’s ja nicht so
Läuft’s mal nicht ganz nach Plan, dann übt sich der Wiener gern in seiner Paradedisziplin: dem „Sudan“. Nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen zentralafrikanischen Flächenstaat, geht es beim Sudan (oder auch: Sudern, jedenfalls immer mit langem „u“ gesprochen) insbesondere darum, Dinge zu bemängeln, zu kritisieren, zu benörgeln.
Die oberste Devise, auch wenn’s gerade mal richtig gut laufen mag, heißt: Sudan! Das macht Laune, das macht Spaß. Zu jeder Tages- und Nachtzeit, Sommer wie Winter. Und Gott steh mir bei, dauert’s an der Hofer-Kasse wieder mal länger als 40 Sekunden, zuckt in der 41. Sekunde das Sprach- und Aggressionszentrum des hinter mir anstehenden Wieners so dermaßen zusammen, nur um sich in der 42. Sekunde mit einem beschwinglich dezenten, aber doch bestimmten „ZWÄIJTE KASSA!“ die nötige Aufmerksamkeit zu verschaffen. Sitzt in der 43. Sekunde das bedienstete Fachpersonal immer noch nicht an Ort und Stelle, folgt eine Sondervorführung unter dem Motto „Sudan für Supermarktpersonal“, auf die ich aber hier – man möge mir verzeihen – nicht näher eingehen möchte. Der Wiener meint’s ja nicht so…
Der langen Rede kurzer Sinn: Leicht hat man’s nicht hier als Waidler, „urleiwand“ (wienerisch für „fetz’ngeil“) ist’s trotzdem. Man stelle sich nur vor, ich wär nach Dresden gezogen.
Liebe Grüße in die Heimat
Euer Bayerwald-Botschafter
Johannes Greß
Fotografie: Philipp Rirsch
Picture On The Fridge, POTF