Bayerischer Wald. Viele haben das typisch bayerische Dorf vor ihrem geistigen Auge: Eine kleine Ansammlung von Häusern, der ein oder andere Bauernhof samt Misthaufen, ein Wirtshaus und eine Kirche – idyllisch gelegen am Fuße eines Berges wie Lusen oder Rachel, umgeben von Wiesen und Wäldern. Zwar kein Gemäuer, aber dennoch eine „Einrichtung“, die in keiner Ortschaft fehlen darf, ist die „Dorfratschn“, in Fachkreisen auch „Ratschweih“ oder „Ratschkaddl“ genannt. Irgendwie eine Person, die ob der schnellen und teils unrichtigen Weitergabe von Infos gefürchtet ist. Irgendwie aber auch eine Person, die aufgrund ihres (Halb-)Wissens zur Unterhaltung beiträgt und für ordentlich Stimmung sorgt. Kurz gesagt: Die Dorfratschn ist sowas wie regionale Ausgabe der Bild-Zeitung im Bayerischen Wald. Es folgt ein ironisch-lustiger, teils politisch unkorrekter Blick auf die mächtigste Persönlichkeit in jeder Ortschaft – noch vor dem Bürgermeister, dem Lehrer und dem Wirt.
Wahrheitsgehalt spielt eine leicht untergeordnete Rolle
In den Tagen des modernen Informationszeitalters kämpfen Medien weltweit um ihre Vormachtstellung im großen Rennen um die Verbreitung von (Des-)Informationen. Die Angebote reichen von Radiosendern, Talkshows über Onlinemagazine (Da Hogn, der is kuhl!) bis hin zu den klassischen Printmedien. Krise hier, Skandal da, Drogen, geheime Machenschaften, Peter Gauweiler als linker Kaberettist enttarnt. Egal wie die Schlagzeile lautet, für ein Medium geht es oft nur darum, die Information möglichst zeitlich vor dem Konkurrenzunternehmen zu publizieren. Vor allem für einschlägige Boulevardmagazine spielt dabei der Wahrheitsgehalt stellenweise eine leicht untergeordnete Rolle.
Dabei kämpfen all diese Medien mit ihren unterschiedlichen Wegen der Informationsverbreitung gegen einen schier übermächtigen Gegner: Die Dorfratschn – Informationsschleuder des Grauens. Wird der örtliche Spitzenpolitiker „in flagranti“ mit einer anderen Frau erwischt, hat dieser noch nicht einmal die volle Blutmenge im üblichen Zirkulationskreislauf wieder, beginnt das ortsansässige Ratschweih schon damit die Story unter die Nachbarn zu bringen. Dabei glänzt sie mit ausführlichen Details, äußerst durchdachten Hintergrundanalysen und szenischen Ausführungen. Die unglaubliche Geschwindigkeit der Informationsverbreitung ist wohl auf unzureichende Recherche – und daraus resultierenden gehäuften Fluktuationen im Wahrheitsgehalt – zurückzuführen.
Der Axel-Springer-Dorfratschn-Clan
Die mit gefährlichem Halbwissen um sich schleudernden Informationsdienstleister beginnen ihre Sensationsmeldungen überwiegend mit den Worten „Mei, stell da vor…“ oder „Mei, woaßtas scho…“. Außerdem fällt auf, dass die Dorfratschn meist weiblichen Geschlechts ist und nicht selten eine leichte Behaarung auf den Zähnen vorweisen kann, weiß unser Dorfratschn-Korrespondent, Kreisheimatpfleger Gerhard Ruhland.
Der Dorfratschens engster Verbündeter? Richtig, die Bild! Dem aufmerksamen Leser wird wohl kaum entgangen sein, dass die Unterschiede zur landesweiten Dorfratschn-Printausgabe vom Axel Springer-Verlag nicht allzu groß sind. Böse Zungen und Verschwörungstheoretiker behaupten, jede Dorfratschn im Bayerischen Wald sei „weitgschichdig“ mit Axel Springer verwandt. Einige gehen sogar noch weiter und behaupten die US-amerikanische NSA und der Axel-Springer-Dorfratschn-Clan stecken unter einer Decke, streben unter Umständen die Weltherrschaft an – Skandal! Edward, wo bist du?
Aus „Nix“ wird „zumindest Iagandwos“
Die Gemeinsamkeiten zwischen Bild und Ratschweih sind kaum zu übersehen. Das Titelthema beinhaltet im Kern meist den Liebesakt zweier sich (nicht immer) liebenden „Möchtegern-Wird-Aber-Wahrscheinlich-Nix-Promis“ oder eine andere nichts-sagende Neuigkeit. Daraufhin folgen Schlagwörter wie „Skandal“, „Sauerei“ oder „Verarsche“. Im Kern der Erzählung befinden sich dann meist ausschweifende Erklärungen, dramatisch ausufernde Szenen, die im Inhalt jedoch sehr gegen Null tangieren. Alles in allem zielt das ganze Unterfangen darauf ab, aus „Nix“ zumindest „Iagandwos“ zu machen. Ob die Story auch tatsächlich der Wahrheit entspricht ist dann direkt scho wieda a ganz gloans bissal wuaschd. Das Printmedium wählt diesen Weg aus Gründen der Profitmaximierung, bei der Dorfratschn liegen wohl andere Beweggründe vor.
Beim heimischen Ratschkaddl liegt höchstwahrscheinlich ein chronisch erhöhtes Mitteilungsbedürfnis vor, was mehrere Gründe haben kann. Unter Umständen ist dies auf die Intervallabstände im Koitus-Zyklus zurückzuführen, die bei den meisten Dorfratschn wohl im Laufe des (langen!) Lebens auf ein Vielfaches angeschwollen sind. Des Weiteren dürfte wohl das vergrößerte Zeitkontingent bedingt durch die Pensionierung einen Einfluss auf den gesteigerten Kommunikationsdrang haben. Genauere Studien zur Thematik gibt es derzeit aber leider nicht – wird es wohl in Zukunft auch nicht geben.
Trotzdem: Verzichten wollen wir in Zukunft alle nicht auf unsere berühmt berüchtigte, bayerische (Halb-)Wissens-Schleuder. Sie füllt so manches Dorfbewohnerherz mit der nötigen Wärme und sorgt für reichlich Zuneigung. Außerdem gehört so eine Dorfratschn einfach zum Inventar. A Dorf ohne Dorfratschn is hoid einfach wia Weißwiaschd ohne Senf – z’doudfad!
Johannes Gress