Landkreis Freyung-Grafenau/Regen. „Seit August vergangenen Jahres gehören sie nun zur Familie“, sagt Inge Schreiner*, lächelt und blickt freudig zu den drei jungen Burschen, die gerade am Küchentisch ihre Hausaufgaben machen. Mohammed (14) und Abduallah (15) aus Syrien sowie Amir (16) aus Afghanistan sind aus ihren Heimatländern geflüchtet – vor Krieg, Folter und Terror. Mitte 2015 sind sie, nach der lebensbedrohlichen Flucht übers Mittelmeer, in Niederbayern angekommen. „Mein Mann und ich haben beim Landratsamt nachgefragt, wie das funktionieren könnte, jugendliche Flüchtlinge bei uns zu Hause aufzunehmen“, berichtet die 39-Jährige Deggendorferin*. Beim Jugendamt habe sie dann die Auskunft erhalten, dass dies im Rahmen einer sogenannten Pflegschaft möglich sei. „Das heißt: Wir sind jetzt die Pflegeeltern von den drei Jungs.“ (Quick-Link zu: Übernahme einer Pflegschaft für minderjährige Flüchtlinge)
„Wir haben ein großes Haus, mit einigen Zimmern, die leer stehen“
Familie Schreiner hat mit der Aufnahme jugendlicher Asylsuchender somit einen Schritt getan, denn bereits mehrere Bundesbürger vollzogen haben. Prominenteste Beispiele sind etwa Pop-Sängerin Sarah Connor sowie Schauspielerin Veronica Ferres und ihr Mann Carsten Maschmeyer. Danach gefragt, was sie dazu bewegt hatte, Flüchtlinge bei sich daheim einzuquartieren, antwortet Inge Schreiner ohne langes Überlegen: „Die gesamte Flüchtlingsthematik ist uns sehr nahe gegangen. Wir wollten uns engagieren, was unternehmen.“ Sie und ihr Mann hatten sich – wie so viele – mehrmals die Frage gestellt, was sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten machen könnten. „Wir haben selbst ein kleines Kind, um das wir uns kümmern müssen. Ich konnte somit nicht einfach rausgehen und helfen. Ich konnte nicht nach München oder Passau zum Bahnhof fahren, konnte keine Getränke verteilen.“
Deshalb entschieden sich die Schreiners letzten Endes dazu, Flüchtlinge bei sich daheim aufzunehmen. „Wir haben ein großes Haus, mit einigen Zimmern, die leer stehen“, erzählt die Deggendorferin, die aufgrund ihrer eineinhalbjährigen Tochter viel Zeit in den eigenen vier Wänden verbringt. „Ich kann das, das traue ich mir zu“, hat sie zu ihrem berufstätigem Ehemann damals gesagt. Dieser fährt an drei Wochentagen zur Arbeit – die restlichen zwei Tage bewerkstelligt er im Home-Office – und kann somit zur Betreuung von Mohammed, Abdullah und Amir beitragen. Ein weiterer Grund für die Übernahme der Pflegschaft ist eher emotionaler Natur: „Ich bin gerne hilfsbereit – und meine Muttergefühle sind noch extremer geworden, seitdem wir selbst ein Kind haben“, gibt die 39-Jährige offen zu. „Wenn ich heute in den Medien Kinder sehe, die in Not sind, ist dies nochmal um ein Vielfaches extremer als vor der Geburt unserer Tochter.“
Seitdem nun die drei jungen Männer eingezogen sind, hat sich die Welt der Deggendorfer Familie gehörig verändert. „Es ist schon ordentlich was los hier“, kommentiert Hausherr Erwin Schreiner* und schmunzelt. Das Zusammenleben funktioniere bisher überwiegend reibungslos. Seine Frau ergänzt: „Ich kann mich total auf die Jungs verlassen. Aber: Du musst schon ein echter Tausendsassa sein – als Mama sowieso.“ Freilich waren auch bei Schreiners – trotz ihrer offenen, aufgeschlossenen Art – so manche Anfangsbedenken mit im Spiel. Plötzlich Pflegeeltern. Plötzlich mehr Verantwortung. Plötzlich die Sorgen, Nöte und Interessen von Teenagern verstehen lernen.
Abdullah etwa sei sehr auf seinen Style bedacht, wie Inge Schreiner amüsiert berichtet. „Gestern durfte ich ihm die Haare färben, weil er seinen ersten Schultag hatte – und er dafür natürlich gut aussehen wollte.“ Amir, der vor kurzem eine Dachdeckerlehre begonnen hat, bringt sie fünfmal die Woche mit dem Auto zur Arbeit. Viel Aufwand, den die 39-Jährige gerne übernimmt. „Doch noch um einiges größer war der Aufwand, das Bürokratische geregelt zu bekommen, damit der Bub überhaupt erst seine Lehrstelle antreten darf. Wir waren fast zwei Wochen nur damit beschäftigt, die richtigen Papiere für die Arbeit, die Berufsschule und die Handwerkskammer zu besorgen.“
„Milch und Honig fühlt sich anders an“
Die Verständigung musste zunächst in englischer Sprache funktionieren – „doch je länger die Jugendlichen hier sind, sie mit uns gemeinsam und in der Schule lernen, desto besser sprechen sie Deutsch“, sagt Inge Schreiner stolz. Drei bis vier neue Wörter pro Tag – und der Wortschatz wächst stetig. Der entscheidende Faktor dabei: Die Jugendlichen wollen die deutsche Sprache lernen, müssen nicht erst dazu gedrängt, nicht überredet werden. „Sie sind wissbegierig, möchten dazu lernen, sich integrieren. Sie wollen in die Schule, in die Arbeit gehen. Sie möchten hier bleiben, nicht mehr zurückgeschickt werden.“ Die Fortschritte, die sie machen, seien beachtlich, fügt Erwin Schreiner an – „in allen Lebensbereichen“.
Über kulturelle Unterschiede werde häufig gesprochen. Auch über zwischenmenschliche Beziehungen. „Wenn Dir ein Jugendlicher erzählt, dass Frauen, die fremdgehen, in ihrem Land umgebracht werden, bekommt man schon ein mulmiges Gefühl. Ich denk mir dann: Sie kennen’s nicht anders. Deshalb muss ich ihnen immer wieder erklären, wie das bei uns abläuft. Sie lernen so jeden Tag aufs Neue dazu.“ Schreiners vermitteln jedoch nicht nur Sprache, sondern auch, was grundsätzliche Werte wie Demokratie, Freiheit oder das Recht zu wählen bedeuten. „Damit sie nicht denken, hier sei alles selbstverständlich. Es geht um Aufklärungsarbeit, ohne die die Integration nicht klappen kann. Es ist wichtig, ihnen zu erläutern, wie unser System funktioniert.“
Ob Mohammed, Abduallah und Amir in dem Flüchtlingen häufig unterstellten Glauben nach Deutschland gekommen seien, hier würden einem der viel-zitierte Honig und die häufig-bemühte Milch wie von selbst zufließen, verneint Inge Schreiner. „Sie haben zu viel Schreckliches erlebt, haben auf der Flucht Boote kentern und Menschen sterben sehen. Sie waren im Gefängnis eingesperrt, teils über Monate hinweg. Und das in einem so jungen Alter. Deshalb sind sie in erster Linie einfach nur heilfroh, dass hier kein Krieg herrscht. Milch und Honig fühlt sich anders an.“ Von traumatischen Erlebnissen könne jeder der drei berichten. Erlebnisse, über die sie mit ihren neuen Pflegeltern lange Zeit nicht gesprochen haben – und teilweise immer noch nicht sprechen können bzw. wollen.“Ich frage nicht viel nach, wenn sie einmal zu erzählen beginnen. Ich lasse sie einfach reden.“ Portionsweise kommen die Erinnerungen hoch, schildert Inge Schreiner.
„Einer von den Dreien wurde von seinen Eltern, die für ihn mühsam das Geld für die Flucht aufgebracht haben, weggeschickt, damit er sich ein besseres Leben aufbauen kann. Ein Leben in Sicherheit. Fernab vom Krieg. Er hatte das nicht verstanden, weil er noch so jung war. Aber er hat’s gemacht – seinen Eltern zuliebe.“ Erwin Schreiner berichtet weiter: „Der andere ist aus eigenem Antrieb gegangen. Da weint die Mutter heute noch um ihn. Aber die Bedrohung durch die Taliban war zu groß…“ Alle seien aufgrund ihrer Erlebnisse in psychologischer Betreuung gewesen, erzählt der 51-Jährige, in der sogenannten Clearing-Stelle, sprich: der Erstaufnahmeeinrichtung für jugendliche Flüchtlinge. 15 Monate waren sie dort untergebracht, bevor sie zu Familie Schreiner gekommen sind.
„Und wenn auch ein Stück Naivität dabei ist, das ist mir egal“
Wie die Nachbarn reagiert haben, als Mohammed, Abduallah und Amir, die bis zu ihrem 21. Lebensjahr im Rahmen der Pflegschaft als Jugendliche gelten, eingezogen sind? „Die haben ganz cool reagiert“, sagt Inge Schreiner. Bei ihnen seien ohnehin häufiger mal fremdländisch-aussehende Menschen zu Gast. Die Leute auf der Straße reagieren hingegen unterschiedlich. „Manche bleiben stehen und ihnen fällt die Kinnlade runter, wenn sie uns sehen“, erzählt Erwin Schreiner. „Andere grüßen recht freundlich und wohlwollend.“
Dumme Sprüche oder abfällige Bemerkungen habe es bisher keine gegeben. „Im engeren Bekanntenkreis waren jedoch einige Reaktionen von – sagen wir mal – Verblüffung geprägt. ‚Spinnt’s ihr‘ war da noch am harmlosesten…“ Gerade Leute, von denen die Deggendorfer Familie gedacht hatte, sie zu kennen, hätten verwundert Aussagen wie diese getroffen. „Von gewissen Personen hätten wir nie geglaubt, dass sie so denken. Aber das meiste überhören wir – uns ist das, offen gesagt, wurscht!“ Beim Thema Flüchtlinge würden sich nunmal die Geister derzeit scheiden. „Da geht derzeit ein Riss durch die Gesellschaft, das ist leider so.“
Bereut haben Schreiners ihren Schritt zur Aufnahme jugendlicher Flüchtlinge jedenfalls nicht. Ob sie es weiterempfehlen würden an Menschen, die ebenfalls mit dem Gedanken spielen, junge Asylbewerber aufzunehmen? „Grundsätzlich ja. Der Aufwand ist aber tatsächlich größer als erwartet“, gibt die 39-Jährige offen zu. „Es sind nunmal Teenager, die viel Zeit und viel Aufmerksamkeit fordern. Sie lechzen nach allem, was Kontakt angeht – und sind froh, wenn sie Anschluss finden.“ Man müsse ihnen aufgrund der kulturellen Unterschiede sehr Vieles erklären, ihnen etwa im Supermarkt erläutern, was sie kaufen können und was nicht. Auch im schulischen Bereich gebe es freilich sehr viele Nachfragen. „Das wird alles mit der Zeit“, gibt sich Erwin Schreiner zuversichtlich. Auch er beteuert, dass die Betreuung dreier Jugendlicher kein Leichtes ist – und ergänzt: „Aber es gibt einem auch unglaublich viel zurück. Wenn man sieht, welche Fortschritte sie machen, das ist einfach toll.“
Danach gefragt, ob sie und ihr Mann sich selbst als „Gutmensch“ (Unwort des Jahres 2015) bezeichnen würden, antwortet Inge Schreiner unbekümmert: „Ich stehe dem Wort positiv gegenüber – doch es ist leider von gewissen Gruppierungen missbraucht worden. Ich denke, ich bin ein typischer Gutmensch. Und wenn auch ein Stück Naivität dabei ist, das ist mir egal – weil ich daran glaube, dass es funktioniert. Ich mache es einfach.“ Von der derzeit viel diskutierten Obergrenze oder gar der Idee, einen Zaun um Bayern bzw. Deutschland zu errichten, hält sie nichts. „Wir haben hier in Deutschland so viel dafür getan, dass Zäune und Mauern weggeschafft werden – und jetzt fordern manche, sie wieder hochzuziehen. Das ist lächerlich. Da versteh‘ ich die Welt nicht mehr…“
(*tatsächlicher Name, Alter und Wohnort der Pflegeeltern sind der Redaktion bekannt)
Stephan Hörhammer
Zum Thema „Übernahme einer Pflegschaft für minderjährige Flüchtlinge“ informiert das Landratsamt Freyung-Grafenau wie folgt:
„Aus Gründen des Jugendhilferechts kann eine Aufnahme unbegleiteter Minderjähriger in Familien nur unter Vermittlung des Kreisjugendamtes in Form von Vollzeitpflege erfolgen.
Es gilt hier grundsätzlich (wie auch bei inländischen Kindern und Jugendlichen) das Überprüfungsverfahren zur Eignungsfeststellung von Pflegeelternbewerbern. Die Unterbringung bei nicht überprüften Bewerbern wäre unter jugendhilferechtlichen Gesichtspunkten nicht möglich und auch unsachgemäß.
- Es sind bei der Eignungsüberprüfung verschiedene Kriterien zu beachten (auszugsweise):
- Eltern und Pflegekinder sollten einen familienentsprechenden Altersabstand haben
- Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Pflegebewerber sollten gesichert sein
- Pflegekinder brauchen Zeit und Aufmerksamkeit
- Die Pflegeeltern sollten nicht an lebensbedrohlichen oder sonst stark beeinträchtigenden Krankheiten leiden
- Personen mit rechtskräftiger Verurteilung bei schwereren Straftaten, insbesondere im sexuellen Bereich, kommen als Pflegeeltern nicht in Betracht
- Die Pflegeeltern müssen bei der Aufnahme von unbegleiteten Minderjährigen auch mit dem Migrationshintergrund und dem anders gelagerten kulturellen Hintergrund umgehen können
- Die Pflegeeltern sollten auf die speziellen Bedürfnisse des Pflegekindes eingehen können, belastbar, flexibel und konfliktfähig sein können und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem Jugendamt haben
Die Pflegeelterntätigkeit ist generell sehr anspruchsvoll und fordernd, bei unbegleiteten Minderjährigen wird dies aber in aller Regel erst recht der Fall sein: Traumatisierende Ereignisse im Heimatland und auf der Flucht sowie die Herausforderungen von Sprache und Kultur für die Jugendlichen und die Pflegefamilie kommen hinzu.
In verfahrensrechtlicher Hinsicht sind im Eignungsüberprüfungsverfahren an Unterlagen erforderlich: ein Fragebogen für Pflegebeweber, ein Fragebogen zu den Vorstellungen bzgl. des aufzunehmenden Pflegekindes, ein Informationsfragebogen, eine Einverständniserklärung ggü. dem Jugendamt zur Datenerhebung, ein polizeiliches Führungszeugnis (erweitertes Führungszeugnis), eine medizinische Stellungnahme des behandelnden Arztes, Einkommensnachweise, Abstammungsurkunde
Nach Eingang und Prüfung der entsprechenden Unterlagen erfolgen die üblichen Eignungsgespräche des Jugendamts mit den Pflegeelternbewerbern.“
Pflegschaft für junge Flüchtlinge: „Weil ich dran glaube, dass es funktioniert“
Ich finde dieser Bericht ist ganz hervorragend, weil er deutlich macht, dass es bei unsimmer noch Menschlichkeit und Verständnis für die Not anderer gibt.