Neureichenau. Sowas gibt es im Landkreis Freyung-Grafenau nur äußerst selten. Neureichenaus Bürgermeister Walter Bermann (CWG/FW) war bei den Kommunalwahlen im März dieses Jahres auf keiner Liste zu finden. „Wäre ich nicht Bürgermeister geworden, wäre ich nicht mal im Gemeindrat.“ Wenn auch nur knapp, aber: Sein Vorhaben gelang – nach seinem Sieg gegen Alois Gell (UWG) bestreitet der 58-Jährige aus dem Ortsteil Lackenhäuser seine dritte Amtsperiode als Rathaus-Chef. 2002 hatte er Urgestein Alfons Hellauer abgelöst. Im Interview mit dem Onlinemagazin „da Hog’n“ spricht der gelernte Bankkaufmann über seine politische Anfangszeit, den vergangenen Wahlsieg, das Verhältnis der Neureichenauer Gemeindeteile zueinander – und die auch schon bald im Dreiländereck Einzug haltenden Asylbewerber. Außerdem erklärt er, warum die Gemeinde nicht Teil der neugegründeten Tourismus GmbH sein wird und warum man in Neureichenau noch immer der früheren Zollstation nachtrauert.
Herr Bermann: Anfang des Jahres sind die Kommunalwahlen über die Bühne gegangen. Sie haben sich relativ knapp gegen Ihren Kontrahenten Alois Gell durchgesetzt. War das so zu erwarten?
Nicht wirklich, mich hat der Ausgang selbst ein bisschen überrascht. Vielleicht ist das Ganze auf meine Philosophie zurückzuführen: Ich stehe auf keiner Liste, gehöre keiner Partei an – und habe auch keinen Cent für Werbung ausgegeben. Dort, wo ich seit meiner Geburt lebe, braucht keiner ein Plakat mit meinem Gesicht, um mich kennenzulernen. Zugegeben: Das war ein Risiko.
Warum wurde Ihnen, immerhin sind Sie Amtsinhaber, Alois Gell so gefährlich?
Er hat den Kirchenanhang hinter sich, er ist in vielen kirchlichen Organisationen engagiert. Eine massive Kraft in einer dörflichen Struktur, die man keinesfalls unterschätzen darf.
„Die Gebietsreform ist weiter in den Köpfen der Bürger“
Bereuen Sie im Nachhinein Ihre Zurückhaltung in Sachen Eigen-Werbung?
Nein. Wenn mich mehr als die Hälfte der Neureichenauer Bevölkerung wählt, kann ich so viel nicht falsch gemacht haben…
Wäre es vielleicht doch besser gewesen, einer Liste anzugehören – und somit im Gemeinderat eine Mehrheit zu haben?
Nein. Ich stelle mich in jeder Sitzung der offenen Diskussion. Das Urprinzip der Demokratie ist es ja ohnehin, sich jedes Mal eine Mehrheit erkämpfen zu müssen. Es wäre sicher einfacher, wenn meine Themen ohne größere Diskussionen von einer Mehrheit durchgewunken werden. Aber dann müsste ich im Gegenzug auch Vorschläge dieser Mehrheit tragen, wozu ich eigentlich nicht bereit wäre. Ich müsste mich verbiegen – und das möchte ich nicht.
Alois Gell ist Altreichenauer, sie aus Lackenhäuser – war die Wahl nicht nur Bermann gegen Gell, sondern auch Lackenhäuser gegen Altreichenau?
Ja. Die Gebietsreform ist weiter in den Köpfen der Bürger. Dass sich das Problem biologisch löst, war ein Irrtum. Denn auch die junge Generation hält an dem Denken derer fest, die diese Reform miterlebt haben.
Warum sind die Gräber zwischen den einzelnen Ortsteilen wieder tiefer geworden?
Beim ersten Teil der Umstrukturierung, als kleinere Ortschaften wie Gsenget und Klafferstraß eingemeindet worden sind, hat es keine Probleme gegeben. Bei Altreichenau mit seinen Hochhäusern als touristisch-wirtschaftliches Zugpferd und Lackenhäuser mit dem Campingplatz war das ein bisschen anders. Diese beiden Orte hatten Geld, eine super Infrastruktur, viele Touristen. Und das wollten sie einfach nicht ohne Weiteres hergeben. Irgendwie logisch.
… aber auch längst Vergangenheit.
Da gibt es auch aktuelle Beispiele. Die Fußballer aus Lackenhäuser und Neureichenau bilden gemeinsam den FC Dreisessel. Altreichenau wollte da nicht mitmachen. Man merkt die Rivalität auch bei den Bürgerversammlungen. In Altreichenau laufen diese Termine viel kritischer ab als in den anderen Ortsteilen. Wird in Lackenhäuser ein Stifter-Museum gebaut, beklagen sich Einzelne, warum es sowas nicht in Altreichenau gibt. Adalbert Stifter war aber nun mal Gast im Rosenberger Gut – und das steht in Lackenhäuser.
Internetplattform schneeeck.de: „Ich kann mit Kritik gut umgehen“
Wie kann man da als Bürgermeister vermitteln?
Das geht nicht von jetzt auf gleich. Das ist ein stetiger Prozess. Als Bürgermeister darf man einfach keinen Ortsteil bevorzugen – Präsenz, vor allem in Altreichenau, ist sehr wichtig. Dass meine Arbeit vor allem dort kritisch gesehen wird, wird allein durch die Internetpräsenz schneeeck.de (die es mittlerweile nicht mehr gibt – Anmerk. d. Red.) deutlich. Dort werden Probleme der Gemeinde durchleuchtet, kritisch diskutiert und publiziert.
Die Berichte von schneeeck.de gehen aber nicht unter die Gürtellinie, oder?
Nein. Ich kann mit konstruktiver Kritik gut umgehen. Werden die Artikel nicht polemisch, finde ich das Ganze sogar positiv. Denn wie soll ich Probleme lösen, wenn man mich nicht mal darauf aufmerksam macht.
2002 haben Sie mit Alfons Hellauer eine wahre Politik-Legende nach 33 Jahren Amtszeit vom Bürgermeister-Thron gestoßen. Ein alles andere als leichter Schritt, oder?
Kann man so sagen, ja. Ich war vorher sechs Jahre sein zweiter Stellvertreter. Er war es, der mich im Gemeinderat haben wollte – und auch als seinen Nachfolger aufgebaut hat. Je näher jedoch die Wahl heranrückte, desto unsicherer wurde er, ob er wirklich aufhören soll. Macht ist ein Instrument, das man nicht so gerne hergibt. Wider erwarten hat er dann doch noch einmal kandidiert – und ich wurde sein Kontrahent. Nachdem er mit nur 25 Stimmen Unterschied die Stichwahl verloren hatte, ist er in ein Loch gefallen. Später ist er dann aber mein Stellvertreter geworden – mittlerweile haben wir ein sehr gutes Verhältnis.
Was ja nicht ganz selbstverständlich ist.
Stimmt. Oftmals können Verlierer nicht verlieren und Gewinner werden überheblich. Das war bei uns damals – Gott sei Dank – nicht der Fall. Darauf sind wir beide sehr stolz.
Asylbewerber: „Es gibt ja doch die ein oder anderen Bedenken“
Und davon profitiert dann die komplette Gemeinde?
Ja, genau. Hinter den drei Städten konkurrieren wir mit dem Markt Röhrnbach um den vierten Platz im Landkreis, wenn es um Einwohner und Fläche geht. In Sachen Finanzen sind wir gut aufgestellt, wir haben einen eher geringen Verschuldungsgrad. Ein großer Verdienst meines Vorgängers Alfons Hellauer – ich durfte ein gut bestelltes Feld übernehmen.
Zum 1. Oktober hat auch die Gemeinde Neureichenau Asylbewerber zugeteilt bekommen. Wie hat man sich darauf vorbereitet?
Das ging sehr schnell. Eine Woche zuvor wurde uns vom Landratsamt mitgeteilt, dass wir 10 bis 20 Asylbewerber bekommen – ein Privatvermieter in Lackerau ist bereit, diese zu beherbergen. Uns war es wichtig, die Bevölkerung nicht vor vollendete Tatsachen zu stellen, sondern die Bürger darauf vorzubereiten. Offene Fragen sollen schon im Vorhinein beantwortet werden. Es gibt ja doch die ein oder anderen Bedenken. Ich stehe der Sache hingegen vollkommen wertneutral gegenüber. Es ist für uns alle eine Herausforderung der besonderen Art, der wir uns auch guten Mutes stellen.
(überlegt)
Wir haben kürzlich das Auffanglager in Grafenau besichtigt. Es ist ein feiner Unterschied, ob beispielsweise eine Familie aus Afghanistan oder Syrien, in der der Vater die Mutter als Frau achtet und versucht Deutsch zu lernen, zu uns kommt – oder ein Asylbewerber, der eventuell als Asylnormade durch Europa zieht.
Haben Sie in dieser Hinsicht schon Erfahrungen gesammelt?
Vor einiger Zeit hatten wir ein Heim in Lackenhäuser, in dem sieben Nationen und fünf verschiedene Religionen untergebracht waren. Negative Erfahrungen haben wir nicht gemacht, die Bewohner waren bestens in den Gemeinde-Alltag integriert. Nochmal: Es ist ein Unterschied, ob ich eine Horde junger Männer bekomme, die sich langweilt – oder eine Familie, die vor einer Krise geflohen ist.
Ihnen sind also Asylbewerber lieber, die sofort integriert werden können und gleich arbeiten – als diejenigen, die gelangweilt rumsitzen?
Richtig. Eine komplette Familie, die zu uns kommt, hat ja praktisch mit ihrem Heimatland abgeschlossen und sucht eine neue Bleibe. Kommt ein junger Mann, der eventuell Frau und Kinder zurücklässt, muss man das differenzierter sehen.
„Es ist nicht Aufgabe der Gemeinde, ein Wirtshaus zu betreiben“
Themawechsel: Kürzlich hat in der Gemeinde Neureichenau eine Abstimmung innerhalb der Bevölkerung stattgefunden, was aus dem früheren Gasthaus „Zum Dreisesselblick“ werden soll. Warum hat man hier den Schritt einer direkten Befragung der Bürger gewählt?
Jede politische Gruppierung, die im März zu den Wahlen angetreten ist, hat dieses Thema als heißes Eisen eingestuft, als Problem, das gelöst werden muss. Das Gebäude, inzwischen gehört es der Gemeinde Neureichenau, steht im Ortskern, das Grundstück misst eine Fläche von rund 5.300 Quadratmetern – ist aber gleichzeitig ein Schandfleck. Und das möchten wir im Dialog mit der Bevölkerung ändern.
Gibt es denn schon eine Auswertung?
Insgesamt haben sich 45 Prozent der insgesamt 3.700 Befragten beteiligt – eine super Quote. Zwei Drittel haben für ein Wirtshaus mit Bistro gestimmt. Das ist übrigens auch mein Favorit (lacht). Klar ist aber auch: Es ist nicht Aufgabe der Gemeinde, ein Wirtshaus zu betreiben. Gegenüber anderen Wirten wäre das einfach unfair. Da braucht man andere Kräfte, andere Ideen.
Es gibt ja durchaus von Dorfgemeinschaften betriebene Wirtshäuser?
Dazu gehört aber ein gewisses Bürgerengagement und Investorentätigkeit. Ob das vorhanden ist, wird sich in der kommenden Zeit zeigen. Dann werden wir wissen, ob das jeweilige Projekt finanzierbar und durchführbar ist.
Nicht vollzogen wurde die Aufwertung der Waldkirchener Polizei zu einer Inspektion. Sie hatten Bürgermeister Heinz Pollak bei seinem Vorstoß in dieser Hinsicht unterstützt. Warum braucht Neureichenau mehr Polizeipräsenz?
Wir haben nach wie vor eine Grenze zu Österreich und auch die Crystal Meth-Problematik macht uns zu schaffen. Zudem erfordern die beiden Jugendhilfeeinrichtungen in der Gemeinde eine gewisse Polizeipräsenz. Die dort wohnenden Jugendlichen sorgen so manches Mal für Unruhe. Generell wird uns in Sachen Polizei immer wieder ein Produkt verkauft, das zu unserem Nachteil ist.
Inwiefern?
Zuerst wurden 2007 die Polizeistationen in Haidmühle, Mauth und Neureichenau geschlossen. Wir wurden damit vertröstet, dass dann die Waldkirchener Polizei aufgewertet wird – eine Erweiterung auf 28 Beamte. Mittlerweile sind es lediglich 22. Und plötzlich sollen es nur noch 16 sein? Die damals versprochene Aufwertung war also eine Lüge.
„Wir werden nicht Teil des Nationalparks Bayerischer Wald“
Es soll also eine Polizeiinspektion her?
Naja, diese Forderung war leicht überzogen. Möchte ich aber was erreichen, gehe ich einfach zwei Schritte weiter – und dann trifft man sich in der Mitte. Mit 22 Polizisten in Waldkirchen wäre ich zufrieden.
Müssen die Neureichenauer Bürger aufgrund des Personalmangels Angst um ihr Hab und Gut, um ihr Wohl haben?
Nein, ganz so schlimm ist es dann doch nicht. Trotzdem darf man eben die vorher bereits erwähnten Schwierigkeiten nicht schönreden. Polizeipräsenz ist daher – gerade im Grenzgebiet – unbedingt erforderlich.
Das Sicherheitsgefühl ist also ein vollkommen anderes als zu Zeiten der Neureichenauer Polizeipräsenz?
(mit Nachdruck) Ja, ganz klar.
Weiteres großes Thema: der Tourismus. Immer wieder wird darüber diskutiert, dass auch die Dreisesselregion Teil des Nationalparks Bayerischer Wald werden soll. Wie ist hier der Stand der Dinge?
Ich denke nicht, dass wir irgendwann Teil des Nationalparks sein werden. Wir sind schon mit so vielen Attributen behaftet… Wir sind eh schon sowas Ähnliches wie ein Nationalpark. Deshalb bringt es nicht viel, wenn der Nationalpark bis zur österreichischen Staatsgrenze reicht.
Hinsichtlich der Vermarktung wäre es aber ein Schritt in die richtige Richtung, oder?
Nein. Zum einen sind wir nicht der Bayerische Wald, sondern der bayerische Ausläufer des Böhmerwaldes. Leider ist aber der Ausdruck ‚Behm‘ weiterhin in vielen Köpfen negativ behaftet, ein Schimpfwort. Das ist aber einfach nur falsch. Böhmen hatte Reichtum und eine hohe Kultur. Zum anderen vermarkten wir uns – gemeinsam mit Partnern in Österreich und bald auch Tschechien – als Dreiländereck. Und das soll weiter intensiviert werden, das ist mir ein großes Anliegen.
Was halten sie von der neugegründeten Tourismus-GmbH in der Nationalpark-Region?
Mir ist das Ganze zu weitläufig, zu groß. Es kann nicht sein, dass sich eine Gemeinde wie Neureichenau nur aus Vermarktungsgründen zu diesem Konstrukt bekennt, sie aber nicht mehr zum Nationalpark gehört. Wir haben den Dreisessel und das Dreiländereck – damit werben wir.
Interessant.
Das ist dasselbe wie der Tourismusverband Ostbayern, für mich eine aufgeblähte Struktur. Was hat die Oberpfalz und das Bäderdreieck mit unserer Region gemeinsam? Nichts!
Ostbayern ist zu groß, das stimmt. Aber der Bayerische Wald ist doch eine Marke, ein überschaubares Gebiet.
An uns ist bis dato niemand von dieser neugegründeten GmbH herangetreten. Sollte das geschehen, dann setzen wir uns damit auseinander – meine Meinung jedoch: Wir beteiligten uns eher nicht!
Breitband: „Der Monopolist spielt ein eigenartiges Spiel“
Abschließend dürfen Sie ein bisschen träumen: Wie sieht die Gemeinde Neureichenau der Zukunft aus?
Nicht großartig anders als jetzt. Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht, sind für die Zukunft gewappnet. Dennoch legen wir die Hände nicht in den Schoß – Gleichschritt ist Rückschritt. Wir müssen aber weiterhin dranbleiben, die Übernachtungszahlen steigern und weiterhin unsere Infrastruktur instandhalten und ausbauen.
Zum Beispiel die Breitbandversorgung: Sind Sie damit zufrieden?
Überhaupt nicht. Aufgrund unserer finanziellen Situation haben wir nur 80 Prozent Förderkulisse erhalten. Außerdem ist es in einer Flächengemeinde, wie wir es sind, sehr schwierig, eine gleichmäßig gute Versorgung zu haben. Der Monopolist, die Telekom, spielt zudem ein eigenartiges Spiel mit den Kommunen, Wir wissen nicht mal, welche Leerrohre und Glasfaserkabel bei uns in der Kommune wo verlaufen….
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Bermann.
Interview: Helmut Weigerstorfer und Stephan Hörhammer