Eggenfelden. Fräulein Weiler geht gern ins Theater. Und sie schreibt gern. Jetzt verknüpft sie ihre beiden Leidenschaften – ganz ohne den Anspruch zu haben, eine fachlich versierte Kritikerin zu sein. Fräulein Weilers Beobachtungen geschehen mit den Sinnen und dem Herzen. Sie freut sich sehr, dass auf’m Hog’n künftig ihre Theatererlebnisse erscheinen.
Intendant Sibelius: Von Anfang an hat er die Karten auf den Tisch gelegt
Ich liebe erste Male. Heute ist es wieder einmal so weit. Ich gehe in die Oper. Freilich ist es nicht gerade die Scala, dafür aber das Theater an der Rott in Eggenfelden, mitten im Landkreis Rottal-Inn. Seit der neue Intendant für Furore sorgt, hat es mein Interesse geweckt. Von Anfang an hat Karl M. Sibelius die Karten auf den Tisch gelegt. Homosexuell ist er, ein Theater für alle will er, mit dem alten 08/15-Spielplan will er nichts mehr zu tun haben. Theater soll nicht nur Unterhaltung sein. Klar, dass er sich damit nicht nur Freunde gemacht hat. Den alteingesessenen Theatergängern hat das gar nicht geschmeckt, sie wollten weiterhin nette Operetten-Abende. Mir hingegen taugt der Wandel absolut – schließlich bin ich erst im halben Rentenalter, auch wenn ich gegen einen Sekt vor und nach der Vorstellung nichts einzuwenden habe.
So einen genieße ich vor der Oper Orpheus & Eurydike auch, unten im Theatercafé. Da sitze ich in meinem extrahübschen Kleid und beobachte das eintrudelnde Publikum. Jung, alt – eine gute Mischung. Überwiegend schick gekleidet sind sie. Oben im Foyer gibt’s was zu entdecken. Vom Treppengeländer baumeln Taferl mit Porträts vom Ensemble in Wort und Bild. An der Wand, hinter der großen Pegasusfigur zwischen den zwei Einlasstüren, zieht sich eine Zeitleiste über den Orpheus-Mythos. Habe ich erwähnt, wie sehr ich Mythen liebe?
Manche grinsen, manche sind entsetzt – und ich lache in mich hinein
Im Theater riecht es nach Holz, das gewiss vom Bühnenbild herrührt, nach dem Parfum der Leute und auch ein wenig nach sphärischer Feierlichkeit. Ich setze mich, schau nach vorne und da sitzen schon die ersten Gestalten auf der noch dunklen Bühne. Das Plaudern verstummt, das Licht geht an. In hübschen Kleidern und Anzügen sitzen sie in einer Reihe nebeneinander. Raufen sich die Haare, gähnen, spielen Kniechen-Näschen-Öhrchen, spreizen die Beine. Ein herrlich komischer Beginn. Links und rechts an den weißen schrägen Wänden eine spannende zeitgemäße Barockinterpretation. Eine Collage aus Zeug – Blumen, Gießkannen, Hirschgeweih und Vogelkäfig sehe ich da …
Und da kommen sie. Orpheus und Eurydike im Brautgewand stürmen auf die Bühne. Die Party beginnt. Und was das für eine Party ist! Äußerst orgiastisch winden sich die Tänzer am Boden, lassen sich von Amor, der einer Riesenputte gleicht, Schampus einflößen, kriegen sich gar nicht mehr ein, zucken ekstatisch und haben sichtlich Freude – so wie ich beim Zuschauen. Ich linse durch die Reihen – manche grinsen, manche sind ein bisschen entsetzt – und ich lache in mich hinein.
In meinem Leben hab ich noch keine solche Stimme live gehört
Und plötzlich klappt Eurydike zusammen. Orpheus ist außer sich und die Hochzeitsgesellschaft trauert. Und wie sie trauert! Jeder der Tänzer – alle übrigens jenseits der 50, der älteste sogar an die 80 – trauert auf seine eigene Weise. Es ist so ausdrucksstark, so ergreifend und ich wünsche mir insgeheim, ich könnte mich auch so ausdrücken in emotionalen Dingen. Stattdessen weine ich bei Liebesleiden kurz und herzhaft und schließe dann mein Herz zu …
Orpheus tut das nicht. Ich erschrecke regelrecht, als er zu singen beginnt. In meinem Leben hab ich noch keine solche Stimme live gehört. Er singt so hoch und klar und ist doch ein Mann. Armin Gramer ist Countertenor, wie ich dem Programmheft entnehme, das man wie eine Clutch schön unter dem Arm tragen kann. Und Amor, Fritz Spengler, auch. Amor eilt Orpheus zu Hilfe, er hat Mitleid mit dem Trauernden, der nichts sehnlicher will als seine Eurydike zurück. Also geht er folgenden Deal ein: Er darf hinunter ins Reich des Hades zu Eurydike – aber ansehen darf er sie nicht, sonst ist sie auf ewig verdammt, in der Unterwelt zu sein.
Bevor sich die durchsichtige Wand nach oben schiebt, zeigt sich ein wunderschönes Schattenspiel. Eine Birke ragt ins Bild hinein, Mondlicht scheint von hinten hervor. Und dann ist Orpheus in der Unterwelt und sucht seine Liebste. Die Tänzer entkleiden sich und rühren mich erneut mit ihrer Direktheit an. Sie tanzen, schmiegen sich aneinander, zeigen, wer sie sind, sind so spürbar präsent mit ihren sehnigen Körpern, dessen Bindegewebe ihr Alter verrät. Und die Musik des L’Orfeo Barockorchester erklingt ebenso anrührend aus dem Orchestergraben. So harmonisch, so aufrührend, überraschend laut – und ab und zu ist das Cembalo auszumachen, dieses alte flügelähnliche Tasteninstrument, Sie wissen schon …
Liebe ist endlich, ist weltlich, zwischenweltlich und unterirdisch grandios
Und Orpheus klagt. Wo ist sie, seine Eurydike? Die Tänzer vervollständigen das bizarre Bühnenbild gemeinsam mit dem Chor, dem Heinrich-Schütz-Ensemble aus Vornbach, der hinter den schwarzen Steilwänden hervorlugt und Orpheus’ Gesang ergänzt. Auf den schwarzen Rutschen steht ein halbes weißes Zimmer, ebenfalls ausgestattet mit einem barocken Wand-Wirrwarr. Unten steht eine Badewanne, gefüllt mit Erde, der ewigen Mutter Erde. Das Lebendige im Totenreich, dafür steht wohl auch die Birke, der lichtbringende Baum, deren blattlose Verästelungen in die Bühne hineinragen. Die Tänzer verwickeln sich in ein Schleierknäuel und entwirren sich auf sensationelle Weise, bis ein jeder ein weißes Tutu oder Neglige oder was auch immer an hat. Und Orpheus klagt.
Bis sie, Eurydike, sein Flehen erhört und mit einem Gewehr – in der Unterwelt scheint Wehrhaftigkeit von Vorteil zu sein – das weiße Halbzimmer betritt und singt. Ulrike Hofbauer hat eine glockenklare Sopranstimme. Jetzt beginnt das eigentliche Drama. Ihr Geliebter darf sie nicht ansehen, sie versteht es nicht. Da überwindet ein Mann alle Hürden und Schranken, begibt sich aus Liebe in die Unterwelt … und es darf doch nicht sein. Sie wird sauer, er schubst sie weg, wiedersteht – und kann dann doch nicht anders. Sie sehen sich an. Und Eurydike verschwindet im herankriechenden Nebel. Amor taucht auf, der alte Schnarchzapfen hat die meiste Zeit besoffen in der Ecke verbracht. Aber er kann nicht helfen und geleitet Orpheus wieder nach oben ins echte Leben. Und das sagt zu ihm: Liebe ist endlich. Liebe ist weltlich, zwischenweltlich und unterirdisch grandios.
Applaus: Ich bin gerührt, mir stiehlt sich ein Tränchen aus dem Auge
Genauso wie mein erstes Mal Oper. Der Applaus brandet auf, will nicht verstummen. Immer wieder erscheinen sie, bis zum Schluss alle auf der Bühne stehen und deutlich wird, wie viele Menschen hier beteiligt sind. Freilich die Sänger und Tänzer, aber auch das Heinrich-Schütz-Ensemble und das L’Orfeo Barockorchester, das seine wunderschönen Klänge vom Orchestergraben aus hinauf geschickt hat, um den Ohren so lieb zu schmeicheln. Ich bin gerührt, der Applaus dauert an, mir stiehlt sich ein Tränchen aus dem Auge. Hätte ich die Augen geschlossen, so hätte ich die Oper nahezu so erlebt, wie sie Christoph Willibald Gluck vor etwa 250 Jahren geschrieben hat.
Regisseur Benjamin Schad hat sich sehr ans Original gehalten. Bis auf den Schluss. Gluck hat ein Happy-End vorgesehen – ganz entgegen dem echten Mythos. Schad mag es realistischer. Denn Happy-Ends gibt es meist nur im Film. Liebe ist halt endlich. Und dieser Abend auch. Noch ein kleiner Sekt und ich fahre überglücklich nach Hause. Und lege Ihnen diese Oper in Eggenfelden sehr ans Herz.
Nochmal zu sehen am kommenden Wochenende: 1., 2. und 3. März.
Ihr Fräulein Weiler